Europäisches Tagebuch, 13.10.2020: Morgen Abend spricht Micha Brumlik (Berlin) in unserem Programm über die Rede vom “christlich-jüdischen Abendland”. Zur Einstimmung sing André Heller hier seinen ungereimten Chanson über “Abendland”.
André Hellers jüdischer Vater floh vor den Nationalsozialisten und lebte nach 1945 vor allem in Paris. So wuchs Heller auch mit einer französischen Staatsbürgerschaft auf, bevor er in Wien zum Chansonnier wurde.
1967 gehörte er zu den Begründern des Popsenders Ö3 und moderierte die Sendung Musicbox. Sein politisches Engagement war immer ein Grenzgang. Als ein “in Wien lebender Jude” kritisierte er Kreisky für seine kompromisslerische Haltung zu alten Nazis und Antisemiten, und die israelische Politik gegenüber den Palästinensern, auch wenn ihm das wiederum von einigen Kritikern den Vorwurf eintrug, er “fördere” Antisemitismus. André Heller haben solche giftigen Absurditäten nicht angefochten. Er ist so politisch wach und kritisch geblieben wie von jeher. Als er am 12. März 2018 im Österreichischen Parlament zum Staatsakt zu 80 Jahre “Anschluss” sprach, beendete er seine Rede mit einem Blick auf den neuen Populismus der Eiseskälte, der in die österreichische Politik eingezogen war – und bis heute nicht überwunden ist.
“Erlauben Sie mir Ihnen noch eine Merkwürdigkeit aus meinem Leben zu erzählen. Ich dachte Jahrzehnte lang, ich wäre etwas Besseres als andere. Klüger, begabter, amüsanter, zum Hochmut berechtigt. Ich war arrogant, selbstverliebt, ständig andere bewertend und es tat mir nicht gut, bis ich eines Tages in einem Wagon der Londoner U-Bahn um mich schaute. Da saßen und standen unterschiedlichste Menschen mit unterschiedlichster Hautfarbe und ich hörte unterschiedlichste Sprachen: In einer Art von Blitzschlag in mein Bewusstsein, erkannte ich, dass jede und jeder von diesen Frauen und Männern, alten und jungen, hoffnungsfrohen und verzweifelten, auch ich selbst bin und nicht Deutsch, Englisch, Russisch, Chinesisch, Spanisch, Arabisch oder Swahili unsere wirkliche Muttersprache ist, sondern die Weltmuttersprache ist und sollte das Mitgefühl sein. Es ermöglicht uns in jedem anderen, uns selbst zu erkennen und mit ihm innigst und liebevoll verbunden zu sein und diese Erkenntnis in weiterer Folge in all unseren Gedanken und Taten zu berücksichtigen.”
Hier zum nachlesen der Text von “Abendland”:
Späte Zeit, Dämmerung
Stunde, die Hoffnung, Trauer und Asche trägt
Atemholen, einsam sein
Herbst der Gedanken und letzte Zuflucht für mich
Abendland, Abendland´ich achte und verachte dich
Abendland!
Abendland
Nicht meine Müdigkeit
Sondern die Sehnsucht nach Träumen lässt mich Schlaf suchen
Die bestürzende Möglichkeit der Verwandlungen meiner Figur
In andere Figuren und Schauplätze
In den Von der Vogelweide
Cervantes, Appollinaire und James Joyce
Kinderkreuzzüge, Scheiterhaufen, Guillotinen, Kolonien
Der Ehrlosigkeit, in Hurenböcke auf Heiligem Stuhl
Expeditionen an den Saum des Bewusstseins
Bankrott der guten Vorsätze
Kongresse der zynischen Lachmeister
Marc Aurels “Astronomie der Besinnung”
Die Sturmtaufen Vasco da Gamas
Leonardos Spiegelschrift
Gaudis Anarchie der Gebäude
In Pablo Ruiz Picasso
Der die Wünsche beim Schwanz packte
Den Aufstand im Warschauer Ghetto
Die großen Progrome Armeniens und Spaniens
Parzival, Hamlet, Woyzeck, Raskolnikow
Die Blumen des Bösen
De Sade, Hanswurst und den Mann ohne Eigenschaften