Heimpflege in Corona-Zeiten

Rückblick, 18.3.2020: Am österreichisch-ungarischen Grenzübergang Nickelsdorf steht eine 45 Kilometer lange Fahrzeugkolonne, nach dem die ungarische Regierung die Grenzen geschlossen hat. Viele im Stau arbeiten als Heimpflegerinnen in Österreich und wollen nach zwei Wochen 24 Stundenpflege turnusmäßig zurück zu ihren Familien in Rumänien. Am Tag zuvor hat schon die Slowakei die Grenzen geschlossen und lässt nur eigene Staatsbürger zurück. Ohne die 60.000 HeimpflegerInnen, vor allem aus Rumänien und der Slowakei, aber auch aus Serbien und Bulgarien, die die 24 Stunden Pflege in Österreich aufrechterhalten, würde das System bald zusammenbrechen, warnen die betroffenen Organisationen und Behörden.
Noch vor wenigen Monaten wurde in Österreich damit Wahlkampf gemacht, diesen Menschen die Sozialleistungen zu kürzen. Nun erwägt Österreich besondere Prämien für die Pflegerinnen um den Kollaps insbesondere der Altenpflege im Land verhindern zu können.

Die EU Kommission veröffentlicht Leitlinien für Fluggastrechte bei Stornierungen.

Die Zahl der Corona-Toten in Italien ist vor drei Tagen schon auf über 1800 gestiegen. Die Regierungen der norditalienischen Regionen warnen vor Engpässen. Es gibt nicht genug Intensivbetten, Beatmungsgeräte, Schutzkleidung. In Kärnten gibt es zur gleichen Zeit 4 Corona-Fälle und 155 Intensivbetten.

Das britische Gesundheitssystem NHS ist auf die Corona-Pandemie noch schlechter vorbereitet: Großbritannien hat nach zahlreichen Sparprogrammen der vergangenen Jahre nur noch 6,6 Intensivbetten pro 100.000 Einwohner (Im Vergleich Österreich: zuletzt etwa 23).

Donald Trump hat in einem Presse-Briefing erklärt: „Ich habe immer gewusst, dass das eine Pandemie ist. Ich hatte das Gefühl, dass es eine Pandemie ist, lange bevor es als Pandemie bezeichnet wurde.“

Basar?

Europäisches Tagebuch, 12.3.2021: In einer eigens einberufenen Pressekonferenz behauptet Österreichs Bundeskanzler Kurz, einen europäischen Skandal aufgedeckt zu haben. Es sei bei der Verteilung der Impfstoffe wie auf einem „Basar“ zugegangen, und einzelne europäische Länder hätten sich durch heimliche Nebenabsprachen zusätzliche Lieferungen von Impfdosen gesichert. Dadurch seien einzelne europäische Länder bevorzugt und andere benachteiligt worden: „Die Lieferung erfolgte nicht nach Bevölkerungsschlüssel.“ Sondern offenbar wie bei „den Orientalen“. Oder was will Kurz mit seiner Wortwahl wohl sagen?

Der Impffortschritt in Malta und Dänemark sei viel schneller als in Ländern wie Bulgarien, Lettland oder Kroatien. Das könne nicht nur an der Impfgeschwindigkeit liegen. Kurz wittert Geheimverträge über zusätzliche Lieferungen und fordert „Transparenz“.
Doch die mit großartiger Geste vorgetragenen Beschuldigungen sind schon innerhalb von wenigen Stunden in sich zusammengefallen, wie ein Kartenhaus. Und dabei ist viel Porzellan zerschlagen worden.

Vielleicht hätte er vorher einmal den stellvertretenden Vorsitzenden des verantwortlichen „Lenkungsausschusses“ der EU fragen können, wie es zu den unterschiedlichen Liefergeschwindigkeiten in die verschiedenen EU-Staaten kommt, nämlich den österreichischen Vertreter im „Steering Board“: Clemens-Martin Auer?
Die Antworten auf die raunenden Fragen des Kanzlers sind erschütternd einfach. Die EU hat zu einem frühen Zeitpunkt Rahmenverträge mit den meisten Pharma-Konzernen abgeschlossen, die an Impfstoffen arbeiteten, und dies lange bevor klar war, welche davon zuerst zugelassen werden können. Sie haben dabei auf verschiedene Pferde setzen müssen, und sie haben mit ihren Bestellvolumen die Forschung an den Impfstoffen zum Teil erst ermöglicht. Da einige EU-Mitgliedstaaten bei Ausgaben grundsätzlich auf der Bremse standen (wir erinnern uns an die „sparsamen vier“, allen voran Österreich) wurde wohl auch versucht, die Preise zu drücken. Das rächt sich jetzt.
Und dann hat die EU den Mitgliedstaaten die Möglichkeit eröffnet – im Rahmen ihrer jeweiligen, ihnen zustehenden Liefermengen – sich mehr für den einen oder anderen Impfstoff zu entscheiden, zum Beispiel für die teureren Biontech-Pfizer oder die günstigeren AstraZeneca Vakzine. Malta zum Beispiel buchte so viel wie möglich Biontech-Pfizer und Bulgarien so viel wie möglich AstraZeneca, dessen Lieferungen gerade durch massive Probleme bei Produktion und Ausfuhr verlangsamt sind.

Aber was interessieren solche banalen Realitäten einen Kanzler, der gerade damit zu tun hat, dass ihm die „Message Control“ entgleitet. Hans Rauscher spricht im Standard von der „größten Nebelgranate seit Beginn der Corona-Krise“. Das könnte sich als Untertreibung herausstellen. Denn wenn sich das Anheizen von Impfnationalismus verbreitet, dann hätten wir es mit einer noch gefährlicheren Pandemie zu tun.

Bislang aber steht der österreichische Kanzler mit seinen Lügenmärchen allein da. Weder die EU-Kommission, noch das österreichische Gesundheitsministerium, weder Deutschland noch das angeblich benachteiligte Kroatien haben auch nur einen Tag gezögert, sich von diesem Amoklauf zu distanzieren. Und haben sachlich und diplomatisch abgeklärt auf die wenig sensationellen Tatsachen hingewiesen. Immerhin, ein Tag an dem einmal nicht die geheimen Nebenabsprachen, die Ausbeutung illegal Beschäftigter oder die obskuren Lieferketten von „Hygiene Austria“ für Schlagzeilen sorgen. Das ist für den Kanzler ein „guter Tag“. 

Rückblick 12.3.2020: Entgegen der Beschlüsse der Videokonferenz vom 10.3.2020 hat Österreich seine italienischen Nachbarn gestern mit Grenzkontrollen am Brenner überrascht. Offenbar ohne, dies vorher mit der italienischen Regierung abgesprochen zu haben.

Die WHO hat die um sich greifenden Covid-19 Erkrankungen nun zur Pandemie erklärt.
US-Präsident Donald Trump hat alles im Griff. Er kündigte eine Einreise-Verbot für Europäer an: „Weil wir sehr früh reagiert haben, sehen wir deutlich weniger Virus-Fälle in Amerika als in Europa.“

Boris Johnson und der wissenschaftliche Chefberater der britischen Regierung haben heute ihre Strategie der Corona-Bekämpfung öffentlich verkündet: „Es ist jetzt nicht mehr möglich, zu verhindern, dass sich fast jeder mit der Krankheit anstecken wird. (…) Das ist auch gar nicht das, was man will. Schließlich soll die Bevölkerung Immunität gegen das Virus aufbauen.“ Sie erwarten den Höhepunkt der Epidemie im Mai und Juni und wollen erst dann drastische Maßnahmen ergreifen. Um die Welle der Infektion zu verzögern, soll erst mal ab sofort jede Person, die Husten und/oder Fieber bekommt, sieben Tage zu Hause bleiben, nicht zum Arzt gehen und nicht den ohnehin überlasteten Notdienst anrufen.

Telefonkonferenzen

Europäisches Tagebuch, Rückblick 10.3.2020: In Italien wurden gestern 10.000 bestätigte Corona Infizierte und über 400 Tote gezählt. Ministerpräsident Conte hat die schon verhängten Beschränkungen in Norditalien nun ausgeweitet und das gesamte Land zur Schutzzone erklärt, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen: „Unsere Gewohnheiten müssen sich ändern, wir müssen alle etwas Aufgeben zum Wohl Italiens.“ Schulen, Universitäten, Kindergärten werden geschlossen, Veranstaltungen werden verboten.

Gestern hat an einer Telefonkonferenz mehrerer EU-Premiers, darunter Italiens Ministerpräsident Conte und Österreichs Bundeskanzler Kurz, auch Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu teilgenommen. Angeblich hat Netanjahu die Europäer dazu ermahnt, Corona ernst zu nehmen. Dem italienischen Ministerpräsidenten musste er das freilich nicht lange erklären. Aber auf Italien wollen die anderen EU-Länder nur ungern hören.

Heute folgte eine Videokonferenz der EU-Regierungschefs. Es wurde vereinbart keine nationalen Alleingänge zu unternehmen, sondern Maßnahmen miteinander abzustimmen.

Ischgl

Rückblick, 5.3.2020: In der Nacht vom 4. auf den 5. März erhalten die Tiroler Behörden offizielle Informationen der isländischen Regierung über 14 infizierte Urlauber aus Ischgl, die Ende März via München zurückgekehrt sind und in fünf verschiedenen Hotels genächtigt hatten. Schon am 3. März ist eine Meldung einer isländischen Reiseleiterin in einem Hotel in Ischgl eingegangen, die von Infektionen berichtet.

In der Sitzung des Tiroler Krisenstabs beschwichtigt der Leiter der Landessanitätsdirektion Franz Katzgraber: Die Isländer „wären angeblich positiv getestet worden“, heißt es im Protokoll. „Ob sie wirklich positiv getestet wurden, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden.“ Man „wartet noch auf Informationen aus dem Ministerium“. Man entscheidet sich, gegenüber der Öffentlichkeit zu kommunizieren, dass die Ansteckungen der Isländer wahrscheinlich im Flugzeug passiert seien.
Zu diesem Zeitpunkt ist das Land Tirol allerdings bereits darüber informiert, dass die 14 infizierten Isländer an unterschiedlichen Tagen heimgereist sind und schon während ihres Aufenthalts in Ischgl Symptome zeigten. (so werden Profil am 4.5.2020, und der Standard am 29.5.2020 berichten)
Die Behörden reagieren entsprechend zögerlich. In den betroffenen Hotels werden nur wenige Personen getestet, anders als beim ersten Verdachtsfall eine Woche zuvor in Innsbruck.

Lieferketten

Europäisches Tagebuch, 3.3.2021: Österreichs Bundeskanzler Kurz sagt, er wolle sich nicht länger von der EU abhängig machen und sich zusammen mit Dänemark und Israel um eine eigene Produktion von Impfstoffen kümmern. Der Wissenschaftsredakteur des ORF, Günter Mayer, kommentiert diesen Vorstoß trocken mit den Worten, hier ginge „es nicht um eine Apfelquetsche“. Eine solche komplexe Produktion ließe sich nicht per Dekret in kurzer Zeit hochfahren, und hier hätte es Österreich mit Pharmakonzernen zu tun, deren Umsätze höher seien, als der Österreichische Staatshaushalt. Um das nicht weiter schmerzhaft auszuwalzen: die großartigen Ankündigungen des Bundeskanzlers sind offenkundig heiße Luft, die von anderen Problemen ablenken soll. Z.B. von folgendem: Am gleichen Tag wurde bekannt, dass in einem österreichischen Vorzeigebetrieb, dem Unternehmen „Hygiene Austria“, das Mund-Nasen-Schutzmasken herstellt, eine Hausdurchsuchung stattgefunden hat. Es ist dies der Betrieb, zu dem Sebastian Kurz im Mai 2020 stolz getwittert hat: „Die Corona-Krise hat gezeigt, dass wir uns bei der Produktion von wichtiger Schutzausrüstung nicht zur Gänze auf internationale Lieferketten verlassen dürfen“.

Die Hausdurchsuchung erfolgte aufgrund des Verdachts, dass aus China gelieferte Masken in Österreich durch in Schwarzarbeit ohne Sozialversicherungsbeiträge beschäftigte Arbeitskräfte um-etikettiert und zu einem höheren Preis als chinesische Masken verkauft worden sein. ‚Hygiene Austria‘ hat dies entschieden zurückgewiesen und natürlich gilt die Unschuldsvermutung. Pikantermaßen gibt es ein Naheverhältnis der Firma zu einer engen Mitarbeiterin des Kanzlers, wie schon am 4. August 2020 die Rechercheplattform Addendum berichtete: der Mann von Sebastian Kurz‘ Büroleiterin ist zu 25% an einer der beiden Firmen beteiligt denen „Hygiene Austria“ gehört, und die nun mit staatlichen Großaufträgen für Österreichs Masken-Autarkie sorgen soll. Und Geschäftsführer von “Hygiene Austria” ist deren Schwager. (https://www.addendum.org/coronavirus/vertragsdetails-geheim/)

An der gepriesenen Autarkie scheint es zu hapern. Aber als Parole zur nationalen Erweckung – und zur Ablenkung von den sich langsam akkumulierenden Ermittlungen und Hausdurchsuchungen im engeren politischen Vertrautenkreis des Kanzlers – taugen wohl auch um-etikettierte chinesische Masken. Oder vielleicht in Zukunft auch um-etikettierte Impfstoffe? Immerhin, die Chinesen haben ihren Impfstoff ja vorsorglich nach einem österreichischen Kanzler benannt: “Sinovac”.

Die Zahlen der Corona-Toten wächst weiter. In den USA sind längst mehr als 500.000 Menschen an der Pandemie verstorben. Neue Meldungen über Unregelmäßigkeiten der Bekanntgabe von Toten in Heimen, wie sie gerade den bisher so heldenhaften Ruf des demokratischen Gouverneurs des Staates New York, Mario Cuomo, erschüttern, lassen eine unbekannte Dunkelziffer von Toten erahnen. Die es auch in anderen Bundesstaaten geben dürfte. Besonders hoch scheinen diese Dunkelziffern in Russland und Mexiko zu sein, wenn die Übersterblichkeit als Faktor mit in Betracht gezogen wird. Selbst die russische Regierung traut den offiziellen Zahlen nicht. Danach seien bis Ende 2020 erst 57.000 Menschen in Russland an Covid-19 verstorben und bis Mitte Februar etwa 81.000. Die Übersterblichkeit in Russland im Jahr 2020 forderte hingegen 323.000 Menschenleben. Kurz vor dem Jahreswechsel erklärte sogar Russlands Vizepremierministerin Tatjana Golikowa, die Übersterblichkeit sei zu 81 Prozent auf Covid-19 zurückzuführen. Das entspräche knapp 261.000 an Covid-19 Verstorbenen bis Ende 2020. Andere Berechnungen gehen von mehr weit mehr als 300.000 Toten aus.
Russland, das stolz darauf ist, mit „Sputnik V“ den ersten Impfstoff zum Einsatz gebracht zu haben, nutzt das offenbar tatsächlich hochwirksame Vakzin indessen vor allem als Exportschlager, so nach Mexiko und Serbien, Paraguay oder Ägypten – während die Impfung der eigenen Bevölkerung hintansteht. Das führt zu dem paradoxen Ergebnis, dass Sputnik V möglicherweise dazu beitragen wird, Covid-19 in ärmeren Ländern zu bekämpfen. Jedenfalls, wenn es gelingt die geplante Produktion in Brasilien und Indien hochzufahren. In Russland selbst, vor allem jenseits der Metropole Moskau, ist offenbar weiterhin vor allem Herdenimmunität durch Infektion das verbreitetste Rezept für den Erwerb von Antikörpern.

Nachtrag am 9. März 2021: Inzwischen haben sich die Vorwürfe gegen “Hygiene Austria” und die beiden Mutterkonzerne Lenzing und Palmers erhärtet. Während “Hygiene Austria”-Geschäftsführer Tino Wieser immer noch davon spricht, wie “stolz” er sei, 200 Arbeitsplätze in Österreich geschaffen zu haben, ist bekannt geworden, dass diese vor allem in Scheinfirmen bestehen. Scheinfirmen, die entweder Arbeitskräfte offiziell “geringfügig” beschäftigen, tatsächlich aber schwarz in Vollzeit arbeiten lassen, oder die sich der Sozialversicherungsbeiträge durch rechtzeitig herbeigeführtem Konkurs entledigen. Auch Zuschüsse für nicht erfolgte Kurzarbeit seien eingestrichen worden. Auch der Verdacht, dass die “heimische” Produktion zum Teil in China stattfand, die Masken dann von Schwarzarbeitern aber in “Hygiene Austria”-Kartons umgepackt worden sind, scheinen sich nun zu bestätigen.

Rückblick, Anfang März, 2020: Die EU kofinanziert die Lieferung von 25 Tonnen Schutzausrüstung für China. Die Europäische Kommission mahnt die nationalen Regierungen in Europa, ihren Bedarf an Schutzmasken, Testkits und Beatmungsgeräten zu melden. Es wird aber noch Wochen dauern, bis die ersten Anforderungen durchgegeben werden.
Erste Fälle von Covid-19 werden in Großbritannien gemeldet. Dominic Cummings, Berater des britischen Premiers Boris Johnson fasst die Strategie der britischen Regierung folgendermaßen zusammen: „herd immunity, protect the economy and if that means some pensioners die, too bad“. Downing Street No. 10 dementiert.

Auch Donald Trump hat sich wieder zu Covid-19 geäußert: „Es ist eine Grippe, wie eine Grippe.“

Trump, China und das Virus

Europäisches Tagebuch, 16.2.2020: In einem Interview mit Geraldo Riviera erklärt Donald Trump, China habe die Epidemie „sehr professionell“ behandelt. „Ich denke, sie sind sehr fähig, Präsident Xi ist äußerst fähig und ich hoffe, dass es gelöst wird.“ Trump hofft, dass das Virus im April durch die Hitze von selbst verschwindet. Schon am 7.2.2020 hat Trump die chinesische Regierung für ihren Umgang mit der Epidemie gelobt. Nach einem Telefonat mit Chinas Präsident Xi Jinping twittert Trump: „Es gibt große Disziplin in China, während Präsident Xi entschlossen eine Operation leitet, die sehr erfolgreich sein wird.” Ein Tag zuvor ist Li Wenliang, der Arzt, der in China die Behörden zuerst vor dem neuen Coronavirus warnte, an seiner Covid-19 Infektion gestorben.

Tiroler Grenzen

Europäisches Tagebuch, 11.2.2021: Der Sinneswandel kam überraschend. Und so ganz glaubt man an ihn noch nicht. Noch am Wochenende hörte man aus Innsbruck vor allem Kraftausdrücke und Drohungen gegen Wien. Genauer, gegen das (grüne) Gesundheitsministerium. Und mannigfaltige Versuche, sich irgendwie mit geschönten Zahlen der Anerkennung der Tatsache zu erwehren, dass im Tiroler Bezirk Schwaz und besonders im Zillertal eine südafrikanische und offenbar besonders bösartige Mutation des Corona Virus grassiert, und zwar mit den höchsten Zahlen in Europa.

Der österreichische Kanzler schien sich einmal mehr an seinem Koalitions“partner“ abzuputzen und schwieg vornehm zu den Tiroler Ausritten. Von einem erfolglosen Anruf in Innsbruck war die Rede. Das wars erst mal.

„Dann werdet ihr uns kennenlernen“ richtete Tirols Wirtschaftskammer Präsident Walser jenen bösen Wienern aus, die Quarantänemaßnahmen forderten – und in den österreichischen Fernsehnachrichten ZIB 2 am Montag führte er, sozusagen als Bonus zu den Schimpfkanonaden des Wochenendes, auch noch seine epidemiologische „Expertise“ zu den Ereignissen von Ischgl vor.

Bald ein Jahr ist es her, dass der kleine Ort im Paznaun zum Superspreader des neuen Virus  wurde. Wie es dazu kam, ist inzwischen einigermaßen geklärt. Da wurde vertuscht und gelogen, solange es sich irgendwie ausging. Bis tausende von Corona-Infizierten von Bayern bis Island als Folge des sorglosen Aprés-Ski nachgewiesen wurden. Und dann wurde geschwiegen.
Aber das sei, so Walser doch gar nicht die entscheidende Frage. Man wisse ja noch gar nicht, „woher“ das Virus nach Ischgl eingeschleppt worden sei. Hatte irgendjemand behauptet, die Tiroler hätten das Virus in einer Schneekanone gezüchtet?

Walsers Klage über das Tirol-Bashing klang irgendwie beunruhigend vertraut. So als haben Politiker und Wirtschaftsfunktionäre aus dem Desaster auch ein Jahr später noch nichts anderes gelernt, als dass immer irgendjemand anderer schuld sein muss.

Derweil werden nun wieder Grenzen kontrolliert. Bayern droht mit der Schließung der Grenzen nach Tirol. Österreich wollte da nicht zurückstehen und kontrollierte schon am Montag mit demonstrativer Strenge Einreisende und vor allem Pendler an der Grenze zwischen Lindau und Bregenz, auch wenn die sogenannte „Inzidenz“ in Lindau nur halb so hoch ist, wie im benachbarten Vorarlberg. Aber auch so kann man den Eindruck vermitteln, als komme alles gefährliche grundsätzlich von außen.

Dass dem Tiroler Gastgewerbe und erst recht der Seilbahnwirtschaft im Zeichen der Pandemie eine existentielle Krise droht ist klar. In dieser Situation den Golfurlaub in Südafrika anzutreten, wie es ein Zillertaler Hotelier getan hat, ist da nicht wirklich vertrauensbildend. Nachrichten über illegale Beherbergungen und Partys, Skilehrerkurse mit Clustern von Mutationen und trickreiche Anmeldungen von Zweitwohnsitzen sind es ebenso wenig. Und dann geht der mächtige Obmann des Wirtschaftsbunds und ÖVP-Nationalrat Franz Hörl, das Oberhaupt der legendären „Adlerrunde“ die in Tirol das Sagen hat – selbst von der britischen Mutation infiziert – in Quarantäne, ohne eine Ahnung zu haben, wo er sich das geholt hat. Da soll man sich keine Gedanken darüber machen, ob nicht doch in Tirol noch immer gefährlicher Leichtsinn am Werk ist? Vor allem Selbstmitleid. Man solle, so Landeshauptmann Platter, endlich aufhören mit dem Finger auf Tirol zu zeigen.
Wie es heißt auf Franz Hörls Website? „Tirol geht vor“. Klassischer Populismus hört sich so an. Man geht eben selber immer vor.
Aber heute klingt das Irgendwie missverständlich. Weiter ist da zu lesen: „Wenn Franz Hörl auf den Plan tritt, ist Tempo angesagt. Beizeiten scheint er sich zu verdoppeln, tritt parallel in Erscheinung“ … „Franz ist da. Vor allem wenn’s brennt. (…) Nur so geht Politik, die hilft.“ Und: „Hörl redet Tirol“. Das klingt dann so: Die am Montag ausgesprochene Reisewarnung gegenüber Tirol, sei ein „Rülpser aus Wien“.

Ein größenwahnsinniger Macher spricht da, der den Spagat zwischen „Gastgeber“ und Seilbahnindustrieller, zwischen Mensch und Funktionär verkörpern will und das solange kann, wie der Erfolg ihn trägt. Und der eins nicht kann, was im Moment besonders gebraucht wird. Sich selbst und sein Tun auch einmal in Frage zu stellen.
Irgendjemand hat jetzt endlich auf die Notbremse getreten. Wer ab Freitag aus Tirol ausreist, braucht nun einen aktuellen Corona-Test.

Vielleicht hat der Kanzler seinen Parteifreund Platter noch einmal angerufen. Der Instinkt, wann ihm eine Geschichte auf die Füße zu fallen droht, hat Kurz offenbar noch nicht ganz verlassen. Doch da hat es womöglich schon ein wenig am „Tempo“ gefehlt.

 

Fachdebatten und Debakel

Europäisches Tagebuch, 3.2.2020: Im Rahmen des EU-Katastrophenschutzverfahrens wurden gestern von deutschen und französischen Flugzeugen die ersten EU-Bürger aus Wuhan evakuiert.

Unter wissenschaftlichen Fachzeitschriften beginnt eine Auseinandersetzung darüber, wie ernst das neue Corona-Virus genommen werden muss. Die Fachzeitschrift The Lancet hat einen alarmierenden Artikel von Camilla Rothe und Michael Hölscher veröffentlicht, der davor warnt, dass Erkrankte offenbar anstecken sind, bevor erste Symptome auftreten.

Nun kontert die Zeitschrift Science, die davon erfahren hat, dass Mitarbeiter des deutschen Robert Koch Instituts sich gegenüber The Lancet kritisch geäußert hätten. Ihrer Einschätzung nach hätten Covid-Infizierte, die den Virus übertragen hätten, ihre leichten Symptome bloß übersehen. The Lancet erschien dies hingegen eine irrelevante Spitzfindigkeit. Offenbar kamen doch sowohl Rothe/Hölscher wie auch die Mitarbeiter des Robert Koch Instituts im Grunde zum selben Ergebnis: Covid-19 wird beiden Forschergruppen zufolge übertragen, bevor die Infizierten etwas von ihrer Infektion bemerken.

Clemens-Martin Wendtner, der die inzwischen acht Covid-19 Patienten in München versorgt, macht die alarmierende Entdeckung, dass Abstriche in Nasen und Rachenraum seiner Patienten eine weitaus höhere Virenlast ergeben, als bei SARS Patienten. Auch dies deutet daraufhin, dass sie schon ansteckend waren, bevor sie überhaupt etwas davon mitbekommen haben, dass sie krank sind.

Science hingegen nutzt den Streit, um die Ergebnisse von Rothe und Hölscher grundsätzlich in Frage zu stellen. Und dies mit dramatischen Folgen. Rothes und Hölschers Artikel wird zunächst weithin nicht ernst genommen. Noch wochenlang ignorieren Fachkollegen und Politiker ihre Warnungen vor einer stillen Verbreitung. Im März hingegen wird eine britische Studie zeigen, dass sogar 50% der Ansteckungen mit Covid-19 erfolgen, bevor die ersten wahrnehmbaren Symptome auftreten.

“Alles unter Kontrolle”

Europäisches Tagebuch, 31.1.2021: Der österreichische Bundesinnenminister hat sich auf den absoluten Nullpunkt hinab begeben, zum Kältepol. Minus 274 Grad Celsius, oder 0 Grad Kelvin. Im Österreichischen Fernsehen erklärt er einer fassungslosen Lou Lorenz-Dittlbacher, was er unter Betroffenheit versteht. Auf ihre Frage, wie er als Vater zu den jüngsten gewaltsamen Abschiebungen von in Österreich geborenen und aufgewachsenen, bestens integrierten Kindern nach Georgien und Albanien steht, bringt er es fertig zu sagen, er sei auch betroffen, wie Eltern ihren Kindern das antun können.
Wie Eltern es also ihren Kindern antun können, alles zu versuchen, damit sie einmal ein besseres Leben haben? Wie Eltern es ihren Kindern antun können, sie ausgerechnet in Österreich groß zu ziehen? Wie Eltern es ihren Kindern antun können,  sie Deutsch zu lehren und darauf zu hoffen, dass sie hier ihren Weg finden können?

Er meint natürlich folgendes: Diese Eltern drohen ihm, dem starken Mann, mit Kontrollverlust. Sie drohen ihm damit, dass ihre Kinder ihnen wichtiger sind, als ein österreichisches Asylrecht, dass schon seit vielen Jahren scheibchenweise demontiert wurde. Und wichtiger als ein österreichisches Fremdenrecht, dass nur noch Abwehr kennt und kaum noch Chancen auf legale Einwanderung. Dagegen muss jedes Mittel Recht sein. Auch der Rechtsbruch.

Denn welche Logik – außer einer totalitären – erlaubt es einem Staat, ein Kind dafür zu bestrafen, dass dessen Eltern Vorschriften verletzt, bzw. umgangen haben? Oder genauer: Kinder zu quälen, um deren Eltern zu bestrafen? Welche Logik erlaubt es einem Staat, das Leben eines Kindes zu ruinieren, mit dem Argument, dessen Eltern hätten diesem Kind widerrechtlich ein besseres Leben bereiten wollen?

Innenminister Nehammer hat – auch auf mehrmaliges Nachfragen hin – darauf verzichtet, Lou Lorenz-Dittlbacher seine Logik zu erklären. Er hat nur immer wieder seinen widersinnigen Satz wiederholt. Die Mutter von Tina sei schuld.
Schuld daran, dass man das zwölfjährige Mädchen in ein Land verschleppt, dass sie nicht kennt und dessen Sprache sie nicht schreiben oder lesen kann. Und ihre Mutter ist wohl auch schuld daran, dass man Tinas Mitschülerinnen und Mitschüler gewaltsam mit der für Terrorismusbekämpfung zuständigen Polizeibrigade vom Schauplatz des Geschehen fortschleifen musste. Den jungen Leuten musste man einmal eine Lektion erteilen, in was für einem Land sie gerade leben. In Corona-Zeiten ganz besonders.

Europäisches Tagebuch, 31.1.2020: Die Weltgesundheitsorganisation WHO erklärt Corona zu einer gesundheitlichen Notlage von internationaler Tragweite. Mit Kritik an der intransparenten Informationspolitik Chinas hält sich die WHO zurück.
Donald Trump hat sich inzwischen mehrmals zu der neuen Epidemie in China geäußert. Heute verhängt die USA einen Einreisestopp gegen Reisende aus China. US-Präsident Trump erklärt: „Wir haben das, was aus China kommt, so ziemlich ausgeschaltet.“ Vor wenigen Tagen hat Trump getwittert: „China hat sehr hart daran gearbeitet das Virus zu kontrollieren. Die Vereinigten Staaten begrüßen ihre Bemühungen und ihre Transparenz sehr. Es wird alles gut ausgehen.”

Vor vier Tagen hat die Münchner Ärztin Camilla Rothe den ersten deutschen Covid-19 Fall entdeckt. Das Testergebnis ihres Patienten, eines Geschäftsmanns, Mitarbeiter eines Autoteilezulieferers, ist unzweifelhaft positiv. Ein Tag später waren schon drei weitere Mitarbeiter positiv auf Civod-19 getestet. Die einzig denkbare Möglichkeit sich angesteckt zu haben scheint der Kontakt zu einer chinesischen Kollegin, die zwei Tage zu Meetings zu Besuch war, aber keinerlei Symptome gezeigt hatte. Heute, nach ihrer Rückkehr nach China, fühlt sie sich krank und wird ebenfalls positiv getestet. Dr. Rothe und ihr Kollege Michael Hölscher schlagen Alarm und veröffentlichen einen kurzen Bericht im New England Journal of Medicine. Offenkundig verhält sich der neue Virus nicht so, wie sein naher Verwandter SARS. Er ist schon vor dem Auftreten erster Symptome hochgradig ansteckend. Rothe warnt Fachkollegen vor dem dadurch deutlich höheren Ansteckungsrisiko. Auch Kollegen vom Robert Koch Institut und den bayerischen Gesundheitsbehörden reichen einen Artikel bei The Lancet ein, einer weiteren medizinischen Fachzeitschrift, in dem sie zu ähnlichen Schlüssen gelangen. Die Ansteckungsgefahr bestünde ihnen zufolge schon dann, wenn die Symptome noch so mild seien, dass sie nicht bemerkt würden.

Die EU aktiviert indessen das Katastrophenschutzverfahren für die Rückholung von EU-Bürgern aus China. Weniger erfolgreich ist die EU damit, die Mitgliedsländer vom Ernst der Berdrohung auch in Europa zu überzeugen.

Die EU-Kommission bietet den Mitgliedstaaten an, sie bei der Beschaffung von Schutzmasken, Testkits und Beatmungsgeräten zu unterstützen. Die Vertreter der europäischen Regierungen lehnen dies als Einmischung in die nationale Gesundheitspolitik ab. „Alles unter Kontrolle”, notiert ein Beamter die Aussagen der nationalen Delegierten in einer vertraulichen Sitzung in den Protokollen, die später von der Nachrichtenagentur Reuters ausgewertet wurden, “die Mitgliedsstaaten seien auf hohem Niveau vorbereitet, die meisten hätten Maßnahmen gesetzt”. (Quelle: Der Standard, 3.4.2020)

Impfstrategien und Medienstrategien

Europäisches Tagebuch, 21.1.2021: Während im Land über Impfstrategien gestritten wird und darüber ob man sich als Politiker vordrängeln darf, warum Impfdosen liegen bleiben, die man eigentlich verimpfen könnte, und warum erst jetzt Software verfügbar ist, um sich anzumelden, versucht Kanzler Kurz wieder die Lufthoheit über die Debatte zurückzugewinnen. Gemeinsam mit einigen Staatschefs, die ebenfalls gerade so manche Probleme haben (Tschechien, Griechenland, Dänemark), fordert er mit einigem Applomb, dass die EU „endlich“ den Impfstoff von Astra-Zeneca zulassen soll. „Jeder Tag zählt, um Leben zu retten.“„Unbürokratische Entscheidungen“ fordert er, dass passt ja gegenüber der EU immer. Und ohne die Wortmeldung aus Wien würde die Behörde und die EU-Kommission vermutlich schlafen. So jedenfalls soll es rüberkommen. Da schaut man doch, im richtigen Augenblick seine eigene Pressemeldung platzieren zu können, so dass man seine Muskeln ins Rampenlicht bekommt, wenn gerade niemand anderes dort steht.

Nun ja, es geht um einen Impfstoff, für den der Hersteller in der EU erst vor wenigen Tagen überhaupt die Zulassung beantragt hat, und dessen Wirksamkeit noch nicht so klar belegt ist, wie bei den schon zugelassenen Konkurrenzprodukten. Ein Wirkstoff, der – so der Hersteller Astra Zeneca – gerade nochmal überarbeitet werden soll, damit er gegen die neuen Virus-Mutationen auch hilft. Und von dem noch nicht so ganz klar ist, wieviele Monate man für die zweite Dosis warten soll, damit die optimale Wirkung erzielt wird. Da hilft es ungemein, wenn der österreichische Kanzler zur Eile mahnt. Auch wenn es in der Tat allen Grund dazu gibt.

Unterdessen zählt Großbritannien derzeit weltweit die höchste Todesrate in Relation zur Bevölkerung. In wenigen Tagen wird Großbritannien das erste Land Europas sein, das mehr als 100.000 Tote zu beklagen hat. In den USA wurde vor wenigen Tagen die Schwelle von 400.000 überschritten. Auch in Deutschland nehmen die Todesfälle nun dramatisch zu. Und in Österreich wollen sie seit dem Jahresbeginn nicht nennenswert heruntergehen. Weltweit sind inzwischen mehr als 2 Millionen Menschen an Covid 19 verstorben.
In Israel, dem Land das wieder einmal als Vorzeigeobjekt dient, nun für eine schnelle Impfkampagne, sind gestern die meisten Menschen seit dem Beginn der Pandemie vor einem Jahr verstorben. Dass Israel von Biontech-Pfizer am großzügigsten mit Impfstoff versorgt wird, hat einen einfachen Grund. Das kleine Land öffnet seine Gesundheitsdaten dem Hersteller für den bislang größten Massentest eines Impfstoffes. Die besetzten Gebiete warten hingegen auf russischen Sputnik V. Wohl vergeblich. Hinter den Kulissen laufen jetzt aber offenbar doch Verhandlungen darüber, ob Israel seine rechtlichen Verpflichtungen gegenüber Menschen in besetzten Gebieten nun wahrnimmt oder nicht. Die Palästinensische Verwaltung, ohnehin nur für die Gebiete der Zone A verantwortlich, will auch nicht öffentlich darum betteln, das würde ja die eigenen Ansprüche auf Autonomie (und Förderungen) in Frage stellen. Die Leidtragenden sind in jedem Fall die Palästinenser, egal ob sie in den Gebieten mit hilflos agierender palästinensischer Verwaltung leben, oder in jenen, die eh vom israelischen Militär kontrolliert werden.

Europäisches Tagebuch, 21.1.2020: Vor einer Woche hat die WHO noch mitgeteilt mit, dass „vorläufige Untersuchungen der chinesischen Behörden (…) keinen klaren Beweis dafür ergeben, dass sich das neue Coronavirus durch Mensch-zu-Mensch-Übertragung verbreitet.“ Dabei besteht schon seit Wochen genau dieser Verdacht. Die chinesischen Behörden haben nun gestern erstmals öffentlich bestätigt, dass sich Sars-CoV 2 tatsächlich durch Übertragung von Mensch zu Mensch ausbreitet. Die Abriegelung von Wuhan beginnt. Bei seinem China-Besuch lobt WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus das Land, es setze „einen neuen Standard für die Reaktion auf einen Krankheitsausbruch“.

 

Reden über Corona – in China

Europäisches Tagebuch, 3.1.2021: Reden über Corona macht in China noch immer die Behörden nervös. Vor fünf Tagen wurde die chinesische Anwältin und unabhängige Journalistin Zhang Zhan zu vier Jahren Haft verurteilt. Im Februar 2020 war sie von Shanghai nach Wuhan gereist und hat die staatliche Nachrichtensperre über die Ausbreitung der Pandemie unterlaufen. Auf Youtube und Twitter berichtete sie über die Situation in den überfüllten Krankenhäusern und über ununterbrochen auf Hochbetrieb laufende Krematorien, über Menschenrechtsverletzungen und Inhaftierungen andere Journalisten und über Zwangsmaßnahmen gegen Familienangehörige von Opfern, die über ihre Notlage berichten wollten, während die staatlichen Medien die Pandemie schon für „unter Kontrolle“ erklärten. Am 14. Mai 2020 galt sie als vermisst. Kurz zuvor war sie verhaftet worden und wurde zunächst wochenlang ohne Anklage gefangen gehalten.  Offenbar wurde sie gefoltert und 24 Stunden am Tag in Handschellen gehalten, nachdem sie im September in Hungerstreik getreten ist und seitdem mit einer Magensonde zwangsernährt wurde. Ihr Prozess dauerte drei Stunden. Sie ist damit die erste, aufgrund ihrer Berichterstattung über die Covid-19 Pandemie verurteilte Journalistin in China. Andere erwarten noch ihren Prozess. Die Europäische Union verlangt ihre Freilassung.

3.1.2020: Heute wurde Li Wenliang, ein Arzt in Wuhan, zusammen mit sieben Kollegen in der chinesischen Stadt auf eine Polizeistation zitiert und davor gewarnt, weiter „falsche Behauptungen zu verbreiten“ die „die gesellschaftliche Ordnung ernsthaft gestört“ hätten. Sie müssen unter Strafandrohung eine Schweigepflichtserklärung unterschreiben. Li Wenliang hat – angesichts der Serie von Lungenentzündungen im Krankenhaus von Wuhan – vor einigen Tagen in sozialen Netzwerken vor dem neuen Erreger gewarnt, der sich von Mensch zu Mensch verbreiten würde, und Ärzte aufgefordert, Schutzkleidung zu tragen. Die städtische Gesundheitskommission von Wuhan hat Mitteilungen ins Internet gestellt, die alle Krankenhäuser in Wuhan aufforderten, jeden Lungenentzündungspatienten mit unbekannter Ursache, der auf dem Fischmarkt in Wuhan gewesen war, zu melden.

Vor zwei Tagen hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) an ihrem Genfer Hauptsitz eine Erklärung herausgegeben: „Alle Indizien deuten darauf hin, dass der Ausbruch in Verbindung zu Ansteckungen auf einem Fischmarkt in Wuhan steht.“ Es gebe allerdings, so erklärt die WHO, keine klaren Hinweise auf eine Übertragung von Mensch zu Mensch.
Die Wuhaner Gesundheitskommission äußert in einem Interview, dass die Untersuchung der Fälle nicht abgeschlossen sei und dass Experten der Nationalen Gesundheitskommission auf dem Weg nach Wuhan seien, um die Untersuchung zu unterstützen.

Gemeinsam impfen

Europäisches Tagebuch, 27.12.2020: In den 27 Staaten der Europäischen Union wird mit der Impfung gegen Covid 19 begonnen. Gestern wurden schon in einem Pflegeheim im deutschen Bundesland Sachsen-Anhalt, sowie in Ungarn und der Slowakei einzelne Impfdosen verabreicht. Offenbar hatte man dort an dem symbolträchtigen gemeinsamen Start am heutigen Sonntag kein Interesse. Auch in Österreich war es zunächst unklar ob in allen Bundesländern zugleich begonnen werden soll. Kritisiert wurde zunächst, dass nur in Wien und Niederösterreich begonnen werden soll, dann wurden „Showtermine“ in allen Bundesländern kritisiert. Nun sind doch alle bis auf Kärnten dabei. Während in den meisten Ländern mit Bewohner*innen in Pflegeheimen und dann mit Gesundheitspersonal in Pflegeheimen und Krankenhäusern begonnen wird, lässt sich in Tschechien Ministerpräsident Andrej Babis zuerst impfen, um „ein Vorbild“ abzugeben. Der Europäischen Union ist es jedenfalls gelungen, einen innereuropäischen Konkurrenzkampf um die Vakzine zu vermieden und eine weitgehend gerechte Verteilung der Impfdosen durchzusetzen. Und nach allen Querelen um Brexit und das Desaster einer nicht zustande kommenden gemeinsamen und womöglich auch humanen und menschenrechtskonformen Flüchtlingspolitik, hat die Europäische Union diesen symabolischen Gleichklang in der Bekämpfung der Pandemie auch bitter nötig.

Dabei musste zunächst einmal spekuliert werden, welcher Wirkstoff es denn als erster schaffen wird, die Tests zu bestehen und die Zulassung zu erreichen. Nun treten auch alle Besserwisser auf den Plan, die davon wissen wollen, dass die EU von dem einen oder anderen Wirkstoff noch mehr hätte erwerben können. Aber welcher der Wirkstoffe als erster über die Ziellinie kommt, das wussten auch diese Besserwisser vorher nicht. Andere finden, dass die Europäische Zulassungsbehörde zu langsam oder zu schnell entschieden hat. Und der Wirkstoff deshalb zu unsicher sei, oder überflüssigerweise zu aufwändig geprüft wurde, also sicherer als nötig sei. Irgendeiner ist immer schlauer. Die USA und Groß-Britannien impfen schon seit ein paar Tagen. Aber auch nur ein paar wenige Menschen. Denn die großen bestellten Mengen kommen dort genauso erst ab Januar zum Einsatz.
Der deutsche Gesundheitsminister Spahn ist jedenfalls nicht nur stolz, weil der der Impfstoff von Biontech-Pfitzer in Deutschland entwickelt wurde, sondern weil seine Entwickler nun auch noch als Symbol für ein erfolgreiches Einwanderungsland dienen sollen: das Ehepaar Uğur Şahin und Özlem Türeci, die beide Kinder türkischer Migrantenfamilien sind.

Was bei alldem fast untergeht: es ist heute auf den Tag ein Jahr her, dass Covid-19 als das erkannt wurde, was es ist.

27.12.2019: Zhang Jixian, eine Ärztin des Hubei Provinz Krankenhauses für Chinesische und Westliche Medizin, teilt den lokalen Gesundheitsbehörden mit, dass die rätselhafte Krankheit, die an SARS erinnert, offenbar durch ein neuartiges Coronavirus verursacht wurde. Zu diesem Zeitpunkt sind bereits mehr als 180 Menschen infiziert.

Als alles anfing

Europäisches Tagebuch, 18.12.2019: Es wird bekannt, dass in der Chinesischen Millionenstadt Wuhan seit dem Beginn des Monats Fälle von Lungenentzündung mit unklarer Ursache aufgetreten sind. Über eine neue SARS Epidemie wird spekuliert. Bis zum 15. Dezember sind 27 Fälle der unbekannten neuen Krankheit bestätigt.

Europäisches Tagebuch, 18.12.2020: Insgesamt sind in der Welt inzwischen mindestens 1.671.772 Menschen an Covid-19 gestorben. Über 75.000.000 Menschen waren an Covid 19 erkrankt, viele von Ihnen leiden noch immer an ihren Folgen. In den USA sind inzwischen über 313.000 Menschen an der Pandemie gestorben. Eine Zahl die sogar alle pessimistischen Schätzungen übertrifft. Noch ist kein Ende in Sicht, auch wenn nun mit Impfungen begonnen wird. Die Zahl der täglichen Opfer beträgt nun regelmäßig zwischen 2000 und 3000. Vor zwei Tagen sind 3600 Menschen an Covid 19 verstorben. Im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung sind die Zahlen der Toten in manchen europäischen Staaten freilich noch höher. In Österreich werden heute 145 Tote gemeldet. Das sind prozentual doppelt so viele Tote wie in den USA. In Ungarn sind es 187 Tote. In Frankreich, wo inzwischen mehr als 60.000 Menschen gestorben sind, werden heute 610 Tote gemeldet. In Italien sind es 674, bei einer Gesamtzahl von 67.000 Toten. Auch in Deutschland schnellen die Zahlen nun nach oben. In vielen Ländern werden neue, schärfere lockdown-Verordnungen erlassen.
Doch die Massentests in Österreich, mit denen es hätte gelingen können, eine größere Zahl von Infizierten zu warnen und in Quarantäne zu schicken, waren ein Flop. Die Zahl der Menschen, die sich impfen lassen wollen, nimmt ab. Die Zahl der Menschen, die Verschwörungstheorien über den Ursprung des Virus anhängen und verbreiten, nimmt hingegen zu.
So wird die Covid-19 Pandemie noch länger dauern.
Die ökonomischen Folgen treffen vor allem die Menschen im globalen Süden. Doch darüber wird wenig gesprochen.

 

Ischgl 2.0 ?

Europäisches Tagebuch, 29.11.2020: Österreich hat es geschafft wieder an die Spitze zu kommen, diesmal nicht als Musterschüler der Anti-Corona Maßnahmen, sondern als Corona-Hotspot zusammen mit Frankreich und Italien. Die Zahl der Corona-Opfer in allen drei Ländern übersteigt inzwischen in Relation die Rekordzahlen der Toten in den USA.

Worüber diskutiert man in Italien und Frankreich, in Belgien und in Deutschland? Wie man verhindern kann, dass die Weihnachtstage und der Skitourismus die zögerlichen Erfolge des zweiten lockdowns wieder zunichte machen. Schließlich war Österreich ja schon mal Spitze, in der Produktion von Ansteckungen und in der Unverschämtheit, mit der man sie erst vertuschen, dann herunterspielen und dann vergessen wollte. Bis heute hat sich Österreich, haben sich Ischgl und Tirol, haben sich die Verantwortlichen für das Desaster bei niemand entschuldigt, obwohl der kleine Ort im Paznauntal in der ersten Corona-Welle des Jahres der infektiöseste Platz Europas gewesen ist. Und dies aus Gründen an denen sich bis auf den heutigen Tag nichts und rein gar nichts geändert hat: die Kumpelei von ein paar „richtigen Mannsbildern“ im Seilbahngeschäft und in der Politik, die noch nicht begriffen haben, dass wirtschaftlicher Erfolg auch mit wachsender Verantwortung einhergeht. Und vermutlich noch mit ein paar anderen Dingen.

So machen sich jetzt eben die Bayern und die Italiener und die Franzosen Gedanken darüber, wie man die Skifahrerei und alles was damit zusammen hängt in diesem Winter einbremsen und verschieben kann. Und sie erinnern sich noch gut daran, dass Österreich schon im Sommer zu den ersten Staaten gehört hat, die wieder mit Reisewarnungen und Quarantänedrohungen manche Grenzen dichter machten. Wie sagte Kanzler Kurz am 16. August so schön: „Das Virus kommt mit dem Auto nach Österreich.“

Worüber wird in Österreich diskutiert? Ob man die Skigebiete möglichst schon nächste Woche wieder aufsperren darf. Und Finanzminister Blümel weiß auch schon, wer bezahlen soll, wenn die Touristen aus Deutschland und Italien, aus Frankreich und der Schweiz einfach nicht kommen. Die EU natürlich. Warum „die EU“ das tun soll, hat er noch nicht verraten. Weder kann die EU in Österreich Skigebiete schließen, noch die Deutschen dazu zwingen, in Ischgl Ski zu fahren. Aber zahlen soll sie.

Das Veto und kein Sputnik Schock?

Europäisches Tagebuch, 20.11.2020: Die Kabale war zu erwarten. Dass die Mehrheit der EU-Mitglieder nun ernst machen wollen mit der Bindung von EU-Förderungen an die Einhaltung von rechtsstaatlichen Standards hat das angekündigte Veto Polens und Ungarns gegen das EU-Budget, und damit auch gegen die 750 Milliarden umfassenden Hilfen zur Bewältigung der wirtschaftlichen, sozialen und gesundheitspolitischen Folgen der Corona-Krise, nach sich gezogen. Auch der gestrige EU-Sondergipfel hat an der Blockade des EU-Budgets durch Polen und Ungarn nichts geändert.

Gegen beide Länder läuft ohnehin schon ein EU-Rechtsstaatsverfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags aufgrund zahlreicher und wachsender Einschränkungen der Presse- und Meinungsfreiheit, der Unabhängigkeit der Justiz und der Wissenschaften. Ungarn und Polen lassen wenige Gelegenheiten aus, immer wieder auszuloten, wie weit sie damit gehen können.
Viktor Orban behauptet nun, in Wahrheit ginge es der EU darum Ungarn zur Aufnahme von Migranten zu zwingen und bekommt dafür von der FPÖ in Wien Applaus.

Sowohl Polen wie auch Ungarn leiden in der Tat an einer grassierenden Emigration – gut ausgebildeter junger Menschen, die Ungarn und Polen verlassen um anderswo ihr Glück zu suchen. Die Vertreibung der Central European University aus Budapest ist nur ein Glied in einer langen Kette von entmutigenden Ereignissen, die diesen Aderlass beschleunigen.

Der EU hingegen geht es hingegen nicht zuletzt um die grassierende Korruption, die von einer eingeschüchterten Justiz nicht mehr bekämpft werden kann. Und um fehlende öffentliche Kontrolle korrupten Regierungshandelns angesichts einer Presselandschaft, die sich zum Beispiel in Ungarn schon fast vollständig in den Händen von Viktor Orban und seiner Gefolgschaft befindet.

Der mühsam zwischen Rat, EU-Kommission und Parlament ausgehandelte Kompromiss sieht vor, dass eine qualifizierte Mehrheit von 15 Staaten im Rat, die mindestens 65% der Bevölkerung der EU repräsentieren, EU-Gelder sperren kann, wenn droht, dass die Verwendung dieser Gelder keiner demokratischen, rechtstaatlichen Kontrolle mehr unterliegt. Damit ist zumindest ein erstes Signal an die Regierungen in Warschau und Budapest gerichtet, wohl auch an andere, die sich hier gemeint fühlen können.

Auch der slowenische Ministerpräsident Janez Jansa attackiert nun die deutsche Ratspräsidentschaft dafür, den im Rat erst vor wenigen Tagen mit slowenischer Zustimmung ausgehandelten Kompromiss jetzt auch umsetzen zu wollen. Jansa droht selbst freilich kein Veto an. Wohl weil er nicht so recht weiß, was er sich damit einhandelt.

Das Veto Polen und Ungarns kann sich als Bumerang herausstellen. Der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte droht schon damit, das reguläre EU-Budget als Nothaushalt weiterzuführen und den Corona-Fonds als bilaterale Vereinbarung der übrigen 25 Staaten zu verabschieden, wobei Polen und Ungarn dann leer ausgingen. Derweilen üben sich Polen und Ungarn in Kriegsrhetorik. Man führe einen „Freiheitskampf“ gegen die „Sklaverei“. In der polnischen Bevölkerung kommt das nicht schlecht an. Ungarn hingegen zündet die nächste Eskalationsstufe.

Viktor Orban setzt bei der Bekämpfung von Covid-19 demonstrativ auf den russischen Impfstoff Sputnik V, obwohl sich die EU-Staaten auf eine gemeinsame Verteilung von in der EU zugelassenen Impfstoffen geeinigt haben. Russlands Raumsonde Sputnik 1 löste im Westen 1957 den Sputnik-Schock aus, denn Russland war damit der erste Start eines künstlichen Erdsatelliten gelungen und das noch vor den USA. Sputnik 1 sendete ein Kurzwellensignal und verglühte schließlich nach 92 Tagen Piepsen in der Erdatmosphäre. Die Sputnik V Mission war schon ein Test für bemannte Raumflüge. An Bord waren zwei Hunde, 40 Mäuse und zwei Ratten, die immerhin wohlbehalten einen Tag später wieder auf der Erde landeten. Mit einem zweiten Sputnik Schock ist freilich nicht zu rechnen. Russland wird genug damit zu tun haben seine eigene Bevölkerung zu schützen. Derzeit steigt die Zahl der Corona-Toten auch in Russland dramatisch an. Das Warten auf das Sputnik-Wunder dauert noch an.

Über „illiberale Demokratie“ und die Lage des Rechtsstaates in Ungarn, über die Situation von Frauen zwischen Corona und Rechtspopulismus – und über die Emigration der Central European University nach Wien sprach Felicitas Heimann-Jelinek mit Professorin Andrea Petö am 10. September 2020 in Wien.