Die Stunde der Kommission – die Ausdauer des Parlaments

Europäisches Tagebuch, 12.11.2020: Innerhalb einer Woche kommen aus Brüssel und aus Strassburg einmal gute europäische Nachrichten. Nachdem die clever lancierte Nachricht vom Durchbruch bei der Entwicklung eines Covid-19 Impfstoffes durch die deutsche Firma Biontech dem Boulevard Sorgen macht, ob „wir“ (also vor allem wir und nicht die anderen) genug von dem Impfstoff abbekommen, zeigt sich schon mal, was auf uns alle zukäme, wenn Konkurrenz, Macht und Korruption alleine über die Versorgung mit Impfstoffen entscheiden würden. Währenddessen hat die EU-Kommission Verträge abgeschlossen, die eine gleichmäßige Verteilung der Ressourcen in Europa sicherstellen soll. Und dies in großem Stil. Man mag gespannt sein, welche Störfeuer es dabei noch geben wird. Aber Brüssel scheint entschlossen zu sein, hier das Heft endlich mal in der Hand behalten zu können.

Derweilen freut sich die deutsch-türkische community über die guten Nachrichten besonders. Schon im April betitelte der Berliner Tagesspiegel einen Bericht über Biontech mit der ironischen Überschrift: „Wir sind Impfstoff“. Und verriet der erstaunten Leserschaft, wer hinter dem Unternehmen und seinem jetzigen Erfolg steht: der Gründer Uğur Şahin und die medizinische Leiterin Özlem Türeci, beide türkischstämmige Migrantenkinder.

Auch das Europäische Parlament ist es inzwischen satt, als zahnloser Tiger in Straßburg dahinzuvegetieren. Die Kürzungen von europäischen Projekten im Bereich Bildung und Gesundheit, mit denen Rat und Kommission den Sparefüchsen Österreich und Konsorten die Ausgaben für das große Corona-Hilfspaket versüßen wollte, sind nun zum Teil wenigstens zurückgenommen. Der eigentliche Durchbruch aber besteht darin, dass die EU tatsächlich gemeinsam Schulden aufnehmen und gemeinsam Einnahmen über eigene Steuern lukrieren kann. Genau das also, was alle nationalen Häuptlinge bislang zu verhindern versuchten. Denn damit ist endlich ein weiterer Schritt zu geteilter Souveränität getan. Und die bedeutet auch eine wirksame Verpflichtung auf gemeinsame rechtstaatliche Standards.

In der Auseinandersetzung um rechtstaatliche Verfahren hat das Parlament nun mit der Kommission und dem Rat einen Kompromiss geschlossen, der immerhin ein deutliches Signal aussendet, dass Verstöße gegen Rechtsstaatlichkeit, wie sie z.B. in Polen und Ungarn inzwischen an der Tagesordnung sind, in Zukunft tatsächlich geahndet werden sollen. Und dies auch schon dann, wenn der Missbrauch von EU-Geldern drohen würde, und nicht erst, wenn das (wie es der halbgare deutsche Kompromissvorschlag zwischendurch vorsah) schon geschehen ist. Dies hieße dann konsequenterweise auch: wenn die rechtlichen Verhältnisse in einem Mitgliedsland keine demokratische Kontrolle mehr über deren Verwendung garantieren würden. Entscheiden solle darüber freilich nicht das Parlament, sondern eine qualifizierte Mehrheit im Rat von 15 Staaten (die 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren). Bleibt also abzuwarten, ob das Parlament damit sein Gebiss endlich gefunden hat. Denn im Grunde sind die Voraussetzungen demokratischer Kontrolle angesichts einer in Ungarn schon weitgehend vom Orban-Regime kontrollierten Presse und einer in Polen wie in Ungarn staatlich gegängelten Justiz schon jetzt weitgehend demontiert. Und damit Handlungsbedarf gegeben.
Polen und Ungarn drohen hingegen weiterhin mit einem Veto gegen den Haushalt und das Hilfs-Paket. Gelder, von denen sie freilich selbst überproportional profitieren würden. Es bleibt also spannend.

Reisewarnungen

Europäisches Tagebuch, 8.10.2020: Berlin warnt vor Reisen nach Wien und Vorarlberg, München warnt jetzt vor Reisen nach Berlin und vor Berlinern auf Reisen, Wien warnt vor Reisen nach Serbien, Norwegen warnt vor Österreich, die Schweiz warnt vor Reisen nach Wien, Prag ist auf der roten Liste, Frankfurt jetzt auch, und zwischen Frankfurt und Madrid geht gar nichts, obwohl Madrid und Frankfurt beide rot sind. Und Frankreich? Der Westen der Schweiz hat bald die selben Zahlen, aber vor der Schweiz kann man doch nicht warnen. Nach Israel durfte man von Österreich noch reisen, als dort schon der nächste Lockdown beschlossen war. Aber Kroatien ging gar nicht. Tschechien ist hingegen zum Teil noch von Österreich aus zu bereisen, obwohl die Werte dort in die Höhe schnellen? Oder fallen sie gerade wieder? Auch Italien ist im Moment von Österreich aus noch erreichbar. Aber kommt man von dort auch zurück? Und der kleine Grenzverkehr?
Das Regime der Reisewarnungen und Risikoregionen ist nicht mehr zu überblicken. Oder genauer: keiner kennt sich mehr aus.
Wo komme ich mit einem Quarantäne-Test noch hin, oder zum Familienbesuch, oder als Berufspendler. Und überhaupt, was ist ein Berufspendler?

Ist in all den Monaten irgendwann jemand auf die Idee gekommen, man könnte in der EU vielleicht mit einheitlichen Maßnahmen zur Eindämmung von Corona mehr Sicherheit schaffen? Statt nationalen Zehnkampf in Disziplinen zu betreiben, die man inzwischen kennt? Warum müssen die Österreicher die Maskenpflicht abschaffen und die Italiener behalten sie, warum kommen die Wiener jetzt erst darauf, Gäste in Kneipen um Kontaktdaten zu bitten? Das machen die Deutschen schon lange. Warum soll man in Vorarlberg das Trinken um 22.00 nach Hause verlegen? Wäre mit mehr europaweiter Übersichtlichkeit der Maßnahmen auch mehr Klarheit in das Verwirrspiel der Reisewarnungen zu bringen? Oder ist das Chaos in Wirklichkeit ein cleveres System? Nach dem Prinzip: umso mehr Verwirrung, um so weniger Mobilität?

Das Parlament probt den Aufstand

Europäisches Tagebuch, 7.9.2020: Auf die EU kommt ein ernster „Machtkampf“ zu. Das Europäische Parlament, also das einzige europäische Organ, das über eine europäisch-demokratische Legitimation verfügt, will sich dem Diktat der Regierungschefs nicht beugen. Das vollmundig verkündete Konjunkturpaket von 750 Milliarden Euro zur Eindämmung der Folgen der Corona-Pandemie, dass die EU-Kommission im Juli ausverhandelt hat, stand von Beginn an unter einem schlechten Stern: die Einigung der Kommissionsmehrheit mit den knausrigen vier, dann fünf EU-Staaten um Österreich und die Niederlanden wurde mit massiven Kürzungen im EU-Haushalt an anderer Stelle erkauft. Damit wollen sich die EU-Parlamentarier vieler Fraktionen keineswegs abfinden. So soll ausgerechnet das Programm „EU4Health“, das den Schutz vor grenzüberschreitenden Gesundheitsgefahren schützen und bezahlbare Medikamente besser verfügbar machen soll, von 9,4 Milliarden auf 1,7 Milliarden Euro gekürzt werden. Gemeinsame Programme für Forschung, Bildung, Klimaschutz und Digitalisierung sollen ebenfalls gekürzt werden. Und damit der Spielraum für grenzüberschreitende Zusammenarbeit eingeschränkt statt ausgeweitet werden. Europäisch gesinnte Abgeordnete der Grünen, der Sozialdemokraten, der Liberalen aber auch der konservativen Volkspartei aus verschiedenen Ländern sind durchaus bereit, vom Vetorecht des Parlaments Gebrauch zu machen. Der Grüne Abgeordnete Rasmus Andresen bringt die Möglichkeit ins Spiel, nur das Hilfspaket, nicht aber den Haushalt in dieser Form zu verabschieden, um den Druck nun in die andere Richtung zu erhöhen. Dazu gehört auch, ernsthaftere Sanktionen gegen solche Mitgliedsländer in den Budgetvollzug zu schreiben, die gegen rechtsstaatliche Standards verstoßen. Die EU-Parlamentarier verlangen außerdem, endlich ernsthaft die Eigeneinnahmen der EU zu erhöhen, durch eine wirksame Plastiksteuer, durch Digitalsteuern oder die Besteuerung von grenzüberschreitenden Gewinnen der Technologie-Riesen.

Dem EU-Parlament und der Kommission stehen noch schwierige Verhandlungen bevor. Das Bedürfnis des EU-Parlaments, von den „sparsamen“ Regierungschefs wird herumschubsen lassen, ist enden wollend. Selbst die „türkisen“ Abgeordneten aus Österreich haben in der Vergangenheit nicht gerade große Begeisterung über die Europa-feindliche Linie der österreichischen Regierung gezeigt. Aber man wird noch sehen ob den Worten z.B. eines Othmar Karas nun auch Taten folgen werden.

Wenn sich die Hölle auftut

Europäisches Tagebuch, 9.9.2020: Heute ganz ohne Contenance und Diplomatie. Nackt und fassungslos. Das Lager Moria existiert nicht mehr. Ein Großbrand hat das Flüchtlingslager auf Lesbos vernichtet, wo seit Jahren tausende von Menschen als Geiseln europäischer Politik eingesperrt sind. Set Monaten leben dort 13.000 Menschen in Unterkünften, dass für einen Bruchteil von ihnen Platz hat. Unter unmenschlichen Bedingungen, heillos überfüllt, ohne sanitäre Versorgung, notdürftig am Leben gehalten von NGOs und den Vereinten Nationen, die sich dafür von den Verbrechern, die uns heute regieren auch noch beschimpfen lassen müssen. Österreich zahlt immerhin auch etwas, für die Bewachung dieser Menschen durch griechische Polizei. 13.000 Menschen, darunter Kinder, Kranke, alles was dazu gehört, wurden dort wie Vieh gehalten, als Abschreckung gegen alle, die womöglich noch an Europas „Werte“ (sei es moralische, sei es materielle) glaubten.

Seit Monaten warnen NGOs davor, dass irgendwann Corona im Lager ausbrechen wird. Weitgehend abgeschlossen vom Rest der Welt, war Moria eine Zeitlang von Corona verschont. Doch vor einer Woche gab es den ersten schweren Fall und zahlreiche Ansteckungen. Angst breitete sich aus, vor Infektionen und erst Recht vor der „Quarantäne“, denn niemand darf mehr das Lager verlassen. Einigen gelang es dennoch in die umliegenden Hügel zu fliehen. Erst Recht fürchten die Flüchtlinge, in neu geplante, hermetische Gefängnislager irgendwo auf Lesbos oder Chios verfrachtet zu werden, den Rest von Selbstbestimmung und Würde zu verlieren.

In der Folge kam es zu Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Flüchtlingsgruppen. Irgendwann ist die aufgestaute Verzweiflung von vielen Monaten Hoffnungslosigkeit und Quälerei in nackte Panik umgeschlagen.
Die Populisten Europas haben es geschafft, die Lage zur Explosion zu bringen. Das Lager ist abgebrannt.
In den mit Menschen vollgestopften Unterkünften gibt es unzählige potentielle Gefahren. Aber es ist von Brandstiftung ist die Rede, und es würde niemand wundern. Wer keine andere Wahl mehr hat, der zündet sich als letztes Mittel eben selber das Dach über dem Kopf an.

Österreichs Innenminister nutzt die Katastrophe für weitere Hetze: „Gewaltbereite Migranten haben kein Recht auf Asyl in Europa.“ Das lässt das schlimmste befürchten. Auf den Zynismus der letzten Monate und Jahre folgt wohl noch ärgerer Zynismus. Aus ihm spricht die nackte Menschenverachtung. Wie kann sich so ein Mensch morgens noch in den Spiegel schauen? Aber vielleicht haben die Nehammers und Kurz und wie sie alle heißen ihre Spiegel inzwischen abgehängt.

“Symbolpolitik”

Europäisches Tagebuch, 12.9.2020: Der österreichische Kanzler postet eine Videobotschaft. Das hat für ihn den unbestreitbaren Vorteil, sich keine unbequemen Fragen von aufsässigen Journalisten mehr gefallen lassen zu müssen. Das Lügen fällt noch leichter so.
Es können ja nicht jedes Jahr mehr hier ankommen, sagt er. Doch es werden seit Jahren immer weniger. 2019 wurden so wenige Asylanträge gestellt, wie kaum zuvor seit dem Jahr 2000.

Einmal mehr bekräftigt er seine Weigerung, unbegleitete Kinder oder irgendjemand anderes aus dem zerstörten Lager Moria aufzunehmen. Und demonstriert dabei eine eigensinnige Version von „Moral“. „Dieses menschenunwürdige System aus 2015, das kann ich mit meinem Gewissen nicht vereinbaren.“ Von welchem „System“ spricht er? Von welchem Gewissen?
Man werde stattdessen „vor Ort helfen, damit eine menschenwürdige Versorgung sichergestellt ist.“ Dazu hatte man inzwischen jahrelang die Möglichkeit. Und Österreich hat keinen Finger gerührt. Denn die Verhältnisse in Moria sollten ja als Abschreckung dienen, und konnten deswegen gar nicht menschenunwürdig genug sein. Die Forderung nach mehr humanitärem Engagement Österreichs „vor Ort“ hat Sebastian Kurz schon als Außenminister und erst recht als Bundeskanzler bislang nur rhetorisch interessiert. Geschehen ist so gut wie nichts. Nun fordert er ein „einen ganzheitlichen Ansatz“. Was meint er damit? „Symbolpolitik“ lehnt er ab, womit er offenkundig die bescheidenen (beschämenden?) Versuche Deutschlands, Frankreichs und einiger anderer europäischer Staaten (incl. der Schweiz) meint, wenigstens ein paar hundert Kinder aus dem Inferno auf Moria zu befreien.

Das ist der gleiche Mann, der bei Gedenkfeiern für die Opfer der Shoah pflichtschuldig ernst dreinschaut, wenn der Talmud zitiert wird: „Wer ein Menschenleben rettet, rettet die ganze Welt.“ Ob das wirklich stimmt weiß ich auch nicht. Aber jedes aus dem Dreck von Lesbos gerettete Kind wird es zumindest so empfinden.

Tausende von Flüchtlingen campieren dort nach wie vor im Freien. Aber auch für Salzburgs Landeshauptmann Haslauer sind die 13.000 Flüchtlinge nur ein kollektiver Brandstifter und Erpresser, der sein Haus angezündet hat, „damit (sein) Nachbar (ihn) aufnehmen muss“. Und dem man deswegen auch nicht helfen soll. Diese kranke Logik ist derzeit nicht nur in Österreichs Regierung, sondern vor allem in sozialen Netzwerken verbreitet. Hat es Sinn dagegen noch irgendwie zu argumentieren? Mit so hilflosen Sätzen wie:
Die meisten Menschen dort haben überhaupt nichts angezündet, sondern nur ein paar von ihnen. Und war es In Österreich nicht bislang üblich, Kinder aus einem Haus zu retten, auch wenn einer der Hausbewohner vielleicht ein Brandstifter war? Die Menschen in Moria haben aber gar nicht in einem „Haus“ gewohnt, sondern waren gegen ihren Willen in ein Lager gesperrt. Und sie wurden dort unter Bedingungen „gehalten“, von denen jeder und jede wusste, dass sie irgendwann zu einer Explosion der Verzweiflung führen musste. Am Ende kam Corona ins Lager und die nackte Panik.
Wie will man überhaupt miteinander reden, wenn solche einfachen Wahrheiten keine Rolle mehr spielen? Aber genau darum geht es ja. Hier soll nicht miteinander geredet werden. Deswegen ja auch eine Videobotschaft.