Das „Andere“ Europas

Ausstellungsinstallation Das “Andere” Europas. Foto: Dietmar Walser

Auf der europäischen Suche nach dem „Anderen“, dem Versuch, das „Gegenüber“ Europas im Orient zu finden, entstand schon im 18. Jahrhundert die Wissenschaftsdisziplin der Orientalistik. Zu jenen, die die Erforschung der Sprachen und der Geschichte des gesamten Orients im 19. Jahrhundert vorantrieben, zählten auch viele Vertreter der Wissenschaft des Judentums. Zu ihnen gehörten Lion Ullmann, Salomon Munk, Gustav Weil, Moritz Steinschneider, David Samuel Margoliouth, Felix Peiser, Josef Horovitz und Eugen Mittwoch. Anders als die historisch-philologisch ausgerichtete Orientalistik beschäftigt sich die Islamwissenschaft vor allem mit muslimischer Religion und Kultur. Die erste Anregung, ein solches Fach zu etablieren, gab der Vordenker der jüdischen Reformbewegung in Deutschland, Abraham Geiger. Vater der modernen Islamwissenschaft war – gemeinsam mit Theodor Nöldeke – jedoch Ignaz Goldzieher. In die Fußstapfen dieser Gelehrten wollten auch der zum Islam konvertierte Lew Nussimbaum (1905-1942) und Hedwig Klein treten (1911–1942). Klein studierte in Hamburg Islamwissenschaft und Semitistik und beendete 1937 ihre Dissertation über eine Handschrift zur „Geschichte der Leute von ‘Omān von ihrer Annahme des Islam bis zu ihrem Dissensus“. Als Jüdin wurde sie nicht mehr promoviert. Nach einem vergeblichen Fluchtversuch aus Deutschland konnte sie noch bis Mitte 1942 am heute meistbenutzten „Arabischen Wörterbuch für die Schriftsprache der Gegenwart“ von Hans Wehr mitarbeiten. Dann wurde sie deportiert und in Auschwitz ermordet. 1947 wurde ihr der Doktortitel posthum zuerkannt. Lag Hedwig Kleins Interesse am Orient und am Islam wie bei ihren männlichen Vorgängern und Kollegen an der Verwandtschaft des Hebräischen und des Arabischen oder daran, dass Judentum und Islam beide strikt monotheistische Gesetzesreligionen sind? 

^ Hedwig Klein, ca. 1930, © Institut für die Geschichte der deutschen Juden, Hamburg

< Lew Nussimbaum, alias Essad Bey, aka Kurban Said, Berlin um 1923, courtesy of Tom Reiss, Autor der Nussimbaum-Biographie „The Orientalist“

> Islamfeindlicher Mottowagen beim Düsseldorfer Karnevalsumzug, 2007, © Federico Gambarini/dpa/picturedesk.com

Die Forschungen europäischer Juden zum Islam waren jedenfalls nicht durch den im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert verbreiteten Exotismus motiviert, die oberflächliche Faszination durch das „Fremde“. Ebensowenig entsprangen sie dem Ziel, Orientalismus als eine Ideologie der Differenz zu verwenden und – wie auch heute so oft – den Orient als Negation des Okzidents zu definieren. Im Gegenteil: Juden vermochten sich – selbst als Europas „Andere“ wahrgenommen – der islamischen Welt mit weit mehr Einblick und Verständnis als viele Christen zu nähern. Obwohl die Rückkehr fundamentalistischer Bewegungen in allen Religionen festzustellen ist, äußert sich populistische Agitation in Europa heute hauptsächlich in der Propagierung des Feindbilds „Islam“: das Bild vom Morgenland als einem Gegenentwurf zum Abendland, als Europas ewigem Widerpart.

Brian Klug (London) über das innere und äußere “Andere” Europas und das Erbe des Kolonialismus:

Raus aus dem Korsett!

Ausstellungsinstallation Raus aus dem Korsett. Foto: Dietmar Walser

Während sich in Folge der Französischen Revolution die bürgerliche Gleichstellung für männliche Bürger in Europa durchsetzte, war die Gleichberechtigung der Frauen kein Ziel der Verfechter von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit gewesen. Erst um 1900 formierte sich eine internationale Frauenbewegung.

Feministische Pionierin in Ungarn war die Pazifistin Rózsika Schwimmer (1877–1948). Zur Durchsetzung emanzipatorischer Ziele gründete sie verschiedene Frauenvereine und gab gemeinsam mit Vilma Glücklich (1872–1927) die wichtigste feministische Zeitschrift Ungarns – „Frau und Gesellschaft“ – heraus. 1913 organisierte sie den VII. Internationalen Frauenstimmrechtskongress in Budapest und brachte damit erstmals das Frauenwahlrecht auf die politische Agenda. Anschließend ging sie als Pressesprecherin der International Woman Suffrage Alliance nach London, das sie mit Kriegsbeginn als „feindliche Ausländerin“ verlassen musste. Den Krieg verbrachte sie in den USA. 1918 kehrte sie nach Ungarn zurück, wo nach der gescheiterten Revolution 1919 der „Weiße Terror“ unter Miklós Horthy hauptsächlich auf Linke und Juden zielte. So emigrierte sie endgültig in die USA, wo sie als Staatenlose lebte. Als Pazifistin hatte sie sich geweigert zu unterschreiben, dass sie das Land im Notfall mit Waffen verteidigen würde.

^ Rózsika Schwimmer, Budapest 1913, © Carrie Chapman Catt Albums. Bryn Mawr College Libraries, Special Collections.

< Briefmarke zum Internationalen Frauenstimmrechts-Kongress 1913 in Budapest, © Jüdisches Museum Hohenems

> Propagierung von Orbans „Aktionsplan für Familienschutz“, 2019, © Gábor Ligeti

1912 schrieb Schwimmer „Obwohl die ungarische Frau als Gattin eine viel vorteilhaftere Stellung hat als die deutsche, englische, holländische usw., steht die Mutter in Ungarn unter denselben Gesetzen der Unlogik, Ungerechtigkeit und Grausamkeit, die fast die ganze menschliche Gesellschaft beherrschen. Poesie und Prosa verherrlichen die Mutterschaft, stellen die Mutter als Typus des Vollweibes dar. Außerhalb dieser luftigen Regionen jedoch ist die Mutter, die eheliche wie die uneheliche, Trägerin der Dornenkrone.“ 

Mehr als hundert Jahre später trifft ihre Analyse wieder zu. Nach Revolution und Konterrevolution ist Ungarn erneut von Abwanderung und Abschottung gegen alles „Fremde“ geprägt, und von der Demontage der Demokratie. Gegen die niedrige Geburtenrate initiierte Viktor Orbán im Frühjahr 2019 eine neue Familienpolitik: Junge, ungarische, verheiratete Frauen mit mehreren Kindern sollen finanziell großzügig unterstützt werden. „Familienpolitik“ soll gegen vorgeblich drohende „Überfremdung“ helfen.
Bei der Kampagne unterlief der ungarischen Regierung allerdings ein peinlicher Lapsus: Das auf dem Stockfoto einer Agentur abgebildete „Paar“ wurde im Internet in anderen Versionen unter dem Schlagwort „distracted boyfriend“ schon lange vor der Familienplan-Kampagne als sogenanntes „Meme“ verwendet, um Untreue darzustellen. 

Andrea Petö (Wien) über Frauenrechte, Genderstudien und Corona:

„Kommt ein Vogerl geflogen“

Ausstellungsinstallation “Kommt ein Vogerl geflogen”. Foto: Dietmar Walser

Ein dichtes Kommunikationsnetz macht die Welt zu einem scheinbar überschaubaren Raum, holt internationale Nachrichten in nur wenigen Minuten in unsere Wohnzimmer und erlaubt den Austausch mit Freunden und Familie über Kontinente hinweg.

Einer der Pioniere dieser globalen Kommunikation war Paul Julius Reuter (1816–1899), in Kassel als Sohn eines Rabbiners geboren und 1845 zum Christentum konvertiert. Er erkannte früh die Bedeutung möglichst schneller Nachrichtenübermittlung. Erste Erfahrungen machte er in der ältesten europäischen Nachrichtenagentur, bei Agence Havas in Paris. In jenen Jahren wurden die ersten Telegrafiestrecken eingeweiht, auch zwischen Paris und Berlin, wenn auch noch mit vielen Lücken. Reuter nützte die Gunst der Stunde und investierte zunächst in 45, bald in 200 Brieftauben, mit denen er die Verbindungslücken zwischen Brüssel und Aachen schloss. 1851 ließ sich Reuter in London nieder, wo er im Gebäude der Stock Exchange eine Telegrafie-Station einrichtete und die Börsenneuigkeiten zwischen Paris und London hin- und herschickte. Bald konnte er das Vertrauen der großen Medienhäuser gewinnen, die sich von ihm mit wichtigen Nachrichten aus aller Welt versorgen ließen. Reuter revolutionierte den internationalen Journalismus, indem er neutrale, möglichst objektive Nachrichten zur Verfügung stellte. 

^ Paul Julius Reuter, Kopie eines Gemäldes von Rudolf Lehmann, 1869, © Internationales Zeitungsmuseum Aachen

< Brieftaube, © Bettman, Getty Images

> Vordruck für eine „Freikarte“ für einen Bordellbesuch, © https://www.witzbold.org/bordell-gutschein.html

Die Kehrseite heutiger globaler Kommunikation ist die Produktion von Fake News. Besonders durch die Sozialen Medien verbreiten sich falsche Nachrichten innerhalb weniger Stunden weltweit. Einmal im Netz, ist es kaum mehr möglich, in Umlauf gebrachte Falschmeldungen rückgängig zu machen. Währenddessen gerät seriöser Journalismus auch in einigen EU-Ländern in Gefahr – durch zunehmende Gleichschaltung der Presse, aber auch durch Verunglimpfung und juristische Verfolgung von Journalisten. In Österreich werden vor allem Boulevardzeitungen mit Steuermitteln gefördert, besonders im Krisenjahr 2020.

„Bordellgutscheine“ wie der abgebildete sind seit 1989 im Umlauf. Ursprünglich als Faschingsscherzartikel gedacht – haben sich Varianten dieses Gutscheins im deutschsprachigen Raum rasant verbreitet, heute meist mit dem Zusatz „für Flüchtlinge“. Mit der Veröffentlichung dieser „Gutscheine“ werden bewusst Falschmeldungen über die Flüchtlingspolitik gestreut. Auch wird suggeriert, dass Flüchtlinge ihren Sexualdrang nicht kontrollieren könnten und deshalb von der Regierung Gutscheine für einen gratis Bordellbesuch bekämen, um zu verhindern, dass einheimische Mädchen vergewaltigt würden.

Andrea Petö (Wien) über die Schließung der Central European University durch die Regierung Orban:

Union Europa?

Ausstellungsinstallation Union Europa. Foto: Dietmar Walser

Die Europäische Union begann nach dem Zweiten Weltkrieg als Wirtschaftsgemeinschaft. Ihre Geschichte reicht in das Jahr 1952 zurück, als ihre Vorgängerin, die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, gegründet wurde. Heute ist die EU auch eine politische Gemeinschaft. Ihr einziges seit 1979 direkt gewähltes Organ ist das Europäische Parlament in Strasbourg. Seine erste Präsidentin war die französische Politikerin und Auschwitz-Überlebende Simone Veil (1927–2017). In jenem Jahr wurde außerdem die französische Frauenrechtlerin Louise Weiss (1893–1983) Abgeordnete für die Fraktion der Europäischen Demokraten für den Fortschritt. Noch während des Ersten Weltkriegs hatte sie die friedensorientierte Zeitschrift „L’Europe Nouvelle“ gegründet und über zwei Jahrzehnte herausgegeben. Als äußerst gefährdete Tochter einer Elsässer Jüdin war sie trotzdem während des Zweiten Weltkriegs aktiv in der Résistance gewesen. Ihre Arbeit für ein geeintes, demokratisches Europa wurde mit ihrer Bestellung zur ersten Alterspräsidentin des Europäischen Parlaments und der Benennung des Parlamentsgebäudes nach ihr gewürdigt. Louise Weiss hatte durchaus die Begrenztheit des Unionsgedanken auf seine wirtschaftlichen Aspekte erkannt und wies früh auf das Fehlen einer europäischen Solidargemeinschaft hin: „Die europäischen Institutionen“, sagte sie, „haben europäische Zuckerrüben, Butter, Käse, Wein, Kälber, ja sogar Schweine zustande gebracht. Aber keine europäischen Menschen.“ 

^ Louise Weiss, 1979, © Communauté Européenne

< Europäisches Parlament, Louise-Weiss-Gebäude ©, Dominique Faget / AFP / picturedesk.com

> Wandgemälde von Banksy in Dover 2017; von Unbekannten 2019 weiß übermalt, © Banksy

Ebenfalls 1979 ins Europäische Parlament geschickt wurde Stanley Johnson – Enkel des letzten Innenministers des Osmanischen Reiches, Ali Kemal. Als Abgeordneter der britischen Torys gehörte er derselben Fraktion wie Weiss an. Er befürwortete 1992 vehement den Vertrag von Maastricht, mit dem die Europäische Union ihre heutige Gestalt annahm. Sein Sohn Boris Johnson führt nun das Vereinigte Königreich aus dieser Union heraus. Sehen die Enkel der Generation des Zweiten Weltkriegs Europa nur mehr als sentimentales und obsoletes Friedensprojekt? Anfeindungen der EU gehen auch von Parteien auf dem Kontinent aus. Sind die Forderungen nach mehr nationaler Autonomie Symptome eines wachsenden Rechtsnationalismus? Zugleich mehren sich auch Austrittsforderungen in Ländern, die sich am Rand Europas – trotz aller Lippenbekenntnisse zu einer europäischen Wertegemeinschaft – mit der faktischen Entsolidarisierung Europas konfrontiert sehen. Kann damit die europäische Integration bereits als gescheitert gelten? Ist das der Anfang vom Ende des Projekts Europa?

Ulrike Guérot (Wien) über Europäische Demokratie:

„In allen EU-Mitgliedstaaten beheimatet“

Ausstellungsinstallation “In allen EU-Mitgliedsstaaten beheimatet”. Foto: Dietmar Walser

Es gibt in Europa viele sprachliche und ethnische Minderheiten, zu denen etwa die Samen, Bretonen, Basken, Sorben, Friesen, Sarden, Pavee, Jenischen oder die Roma zählen. Zu den Roma gehören Sinti, Manouches, Kalderasch, Lovara und Aschkali. Mit 10–12 Millionen Menschen insgesamt stellen die Roma die größte Minderheit in Europa dar und sind nach der Europäischen Kommission „in allen EU-Mitgliedstaaten beheimatet“. Allen Klischees entgegen, ist die überwiegende Mehrheit der europäischen Roma sesshaft. Nachdem schätzungsweise Hunderttausende europäische Roma Opfer des NS-Rassenwahns wurden, sind sich die europäischen Staaten heute offiziell ihrer menschenrechtlichen Verpflichtung zum Schutze aller ihrer Minderheiten bewusst. Am 1. Februar 1998 trat ein Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union in Kraft. 2007 errichtete der Künstler Damian Le Bas (1963–2017) gemeinsam mit seiner Frau Delaine den ersten Roma-Pavillon auf der Biennale in Venedig.

< Damian Le Bas, Gipsyland Europe, Berlin 2017, © Delaine Le Bas

> Abgeschobene Roma am Flughafen Lyon, 2010, © Philippe Desmazes/AFP

Als Maßnahme einer gezielt und vorrangig gegen Roma gerichteten „Sicherheitsoffensive“ lösten im August 2010 französische Sicherheitskräfte 40 nicht bewilligte Roma-Lager auf. 700 Menschen aus Rumänien und Bulgarien wurden gewaltsam abgeschoben, obwohl sie als EU-Bürger das Recht auf Freizügigkeit genießen. Zur Durchführung einer reibungslosen Abschiebung wurden eigene Charterflüge organisiert. Nicht nur der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma sah den Tatbestand der Diskriminierung und Verletzung der Minderheitenrechte gegeben. Französische Intellektuelle wie André Glucksmann schlossen sich an und forderten Freiheit für die „grenzüberschreitenden Wohnwagen“ ein.Der auf seine Herkunft aus einer tunesisch-jüdischen Familie stolze damalige Europaminister Frankreichs, Pierre Lellouche, verteidigte das Vorgehen der Sicherheitskräfte nicht nur, sondern stellte auch die Definition des Prinzips der Freizügigkeit innerhalb der Union zur Disposition. Kritik der EU-Kommission sah er als „Einmischung aus Brüssel“, obgleich das genannte Rahmenübereinkommen des Europarates verletzt worden war. Anderseits kritisierte Lellouche die Europäische Kommission dafür, vor dem europäischen Phänomen eines massiven „Antiziganismus“ die Augen zu verschließen und keine Visionen für eine Verbesserung der Lebenssituation der Roma überall in Europa zu entwickeln.

Yaron Matras (Manchester) über Romanes und das Stereotyp der “Fahrenden”: