Bruno Kreisky und der Mut des Unvollendeten

Europäisches Tagebuch, 22. Januar 2023: Heute vor 112 Jahren wurde Bruno Kreisky in Wien geboren.

von Hanno Loewy

Bis heute polarisiert in Österreich die Erinnerung an den wohl populärsten Bundeskanzler der Republik, der zugleich alles andere als ein typischer Politiker Österreichs war.
Gerade seine politischen Gegner ließen daran keinen Zweifel aufkommen. 1970 kandidierte ÖVP-Bundeskanzler Josef Klaus mit der Parole „Ein echter Österreicher“. Womit, so das Kalkül, über den Juden und Emigranten Kreisky eh schon alles gesagt wäre. Aber Bruno Kreisky führte die SPÖ zur relativen Mehrheit von 48,5 %. Und nach dem auch unter seinen Freunden höchst umstrittenen Zwischenspiel eines Kabinetts mit Duldung durch die FPÖ erreichte die SPÖ dreimal hintereinander mit Kreisky eine absolute Mehrheit. Lang ist‘s her, möchte man sagen.

Bruno Kreisky, SPÖ-Vorsitzender und Bundeskanzler, im Wahlkampf für die Nationalratswahl 1983. Foto: Votava, wikipedia

Kreisky hatte keine Skrupel auch mit ehemaligen Nationalsozialisten zusammenzuarbeiten. Und zwar gerade weil er sich nicht sagen lassen wollte, er würde als Jude Politik machen. Kreisky war vor allem eines, ein europäischer Politiker und die eigene Erfahrung von Verfolgung und Exil hatte ihn seinen eigenen österreichischen Patriotismus gelehrt: der darin bestand, kein Nationalist sein zu wollen. Und schon gar kein jüdischer Nationalist.
Das sollte ihn schließlich noch in eine Auseinandersetzung treiben, in der weder sein Gegner noch er selbst irgendwelchen Ruhm ernten konnten. Seine erbitterte Fehde mit dem erzkonservativen Nazi-Jäger Simon Wiesenthal steht bis heute wie ein erratischer Block in der österreichischen Erinnerungslandschaft.
Simon Wiesenthal, dessen gute Beziehungen zur ÖVP kein bisschen vom traditionellen Antisemitismus der Christlichsozialen getrübt war, skandalisierte genüsslich Kreiskys Hemmungslosigkeit, mit „Ehemaligen“, also früheren Nazis zusammenzuarbeiten, ob solchen in der FPÖ oder erst Recht in der SPÖ. Vier der dreizehn Minister von Kreiskys sozialdemokratischem Kabinett 1970 hatten der NSDAP angehört. Und FPÖ-Chef Friedrich Peter, mit dem Kreisky 1975 eine Koalition erwog, war in einer SS-Terroreinheit aktiv gewesen, was Wiesenthal ebenfalls gezielt an die Öffentlichkeit brachte.
Kreiskys darauffolgende, untergriffige Ausfälle gegen Wiesenthal („Nazi-Kollaborateur“) sind tragisch legendär. Österreich konnte dabei zuschauen, wie zwei Juden sich öffentlich an die Gurgel gingen. Aber hinter dem Streit stand keineswegs nur Kreiskys politisches Kalkül, sich bei Teilen der Wählerschaft anzudienen. Dahinter stand – mehr oder weniger unausgesprochen – auch die Auseinandersetzung über jüdische Erfahrungen aus denen Wiesenthal und Kreisky diametral entgegengesetzte Schlüsse gezogen hatten.
Kreisky, am 22. Januar 1911 in Wien geboren, war schon in der Jugend in sozialistischen Organisationen aktiv und seine traumatischen Erfahrungen begannen nicht erst 1938 mit dem Nationalsozialismus, sondern im österreichischen Faschismus des Ständestaats. 1936 wurde der junge Sozialist Kreisky zu Kerkerhaft verurteilt. Er hatte allen Grund, den politischen Nachkommen der Austrofaschisten ebenso zu misstrauen, wie den Nationalsozialisten, die ihn 1938 ins Exil trieben. Kreisky überlebte in Schweden und lernte dort auch den aus Deutschland emigrierten Willy Brandt kennen – der Beginn einer lebenslangen Freundschaft.
Kreisky blieb ein passionierter Europäer, dem Zionismus hingegen konnte er nichts abgewinnen. Für ihn war es keine Frage, am Aufbau eines demokratischen Österreichs nach 1945 mitzuwirken. Seine vier Kanzlerschaften waren geprägt von Reforminitiativen in der Sozialpolitik wie in der Bildungspolitik, genauso wie im Familien- und Strafrecht – und wie bei so vielen Sozialdemokraten von einem Vertrauen in Aufklärung und technischen Fortschritt, ein Vertrauen, das ihn auch blind sein ließ für die neuen Fragen, die mit der Auseinandersetzung um das Atomkraftwerk Zwentendorf auf die Tagesordnung kamen. Fragen nach dem Umgang des Menschen mit seiner Umwelt. Auch die Niederlage bei der Volksabstimmung hinderte ihn jedoch nicht, 1979 zum vierten Mal die Wahlen zu gewinnen.
Während Simon Wiesenthal Israel als Anker seiner eigenen Identität in Österreich verstand, versuchte Kreisky im Nah-Ost Konflikt zu vermitteln. Was ihn in Widersprüche verwickelte. Er pflegte Beziehungen zu arabischen Politikern wie Sadat und Gaddafi, und verhandelte zugleich mit Moskau diskret über die Freilassung jüdischer Sowjetbürger, die nach Israel emigrieren wollten.
Was Kreisky am besten beherrschte, war die Kunst, mit der Öffentlichkeit zu spielen. Seine Pressekonferenzen sind unvergessen. Nicht unbedingt, worum es dabei jeweils ging. Aber der Stil war ein neuer. Statt Verlautbarungen gab es Kommunikation. Und manchmal auch Provokation. Willy Brandt, Weggefährte Kreiskys über fünfzig Jahre, hielt 1990 auf dem Wiener Zentralfriedhof die Grabrede für ihn. „Lebewohl, mein lieber, mein schwieriger Freund.“

 

Benno Wolf: Von der Höhlenforschung zum Naturschutz

Europäisches Tagebuch, 6.1.2023: Heute vor 80 Jahren stirbt Benno Wolf im KZ Theresienstadt.

von Friedhardt Knolle

1945 endete in Europa ein Unrechtsstaat, der – neben all seinen Menschheitsverbrechen – auch den Einsatz für den Naturschutz auf katastrophale Weise zurückwarf. Mit der Gleichschaltung aller Vereinigungen war ein Klima der Denunzierung und Unterdrückung geschaffen worden, das schon lange vor dem Krieg die freie Forschung mehr oder weniger zum Erliegen brachte. Naturschützer und Forscher, die sich widersetzten oder nicht genehm waren, wurden ausgegrenzt und verfolgt. Dies traf auch einen der Pioniere des Naturschutzes in Deutschland: den Juristen und Höhlenforscher Dr. Benno Wolf.

Benno Wolf
Foto: Franz Mühlhofer, Archiv VdHK

Wolf wurde 1871 in Dresden geboren. Er hatte jüdische Vorfahren, war aber evangelisch getauft. Wolf studierte Jura und kam nach Referendarszeiten im Rheinland und Hessen im Jahre 1912 nach Berlin-Charlottenburg, wo er seitdem als Richter am dortigen Landgericht tätig war. Seine besondere Aufmerksamkeit galt dort dem Naturschutz, denn seine Berufung auf eine der begehrten Stellen in der Reichshauptstadt war auch erfolgt, weil er sich bereit erklärt hatte, neben seiner richterlichen Tätigkeit ehrenamtlich als juristischer Berater bei der Staatlichen Stelle für Naturdenkmalpflege zu arbeiten. Als am 7. Dezember 1912 in Berlin die fünfte Konferenz für Naturdenkmalpflege in Preußen stattfand, hob Prof. Dr. Hugo Conwentz, seines Zeichens Geheimer Regierungsrat, in seiner Eröffnungsrede dieses Engagement besonders hervor. Schließlich trug das erste preußische Naturschutzgesetz von 1920 in weiten Teilen die Handschrift von Benno Wolf. Auf dessen Grundlage ergingen im Gefolge besondere Verordnungen zum Tier- und Pflanzenschutz und zur Schaffung von Naturschutzgebieten. 1933 kam Benno Wolf seiner drohenden Entlassung durch die neuen Machthaber mit einem freiwilligen Abschiedsgesuch zuvor.

Bereits seit 1898 hatte sich Benno Wolf selbst auch intensiv mit der Höhlenforschung beschäftigt und war rasch dafür bekannt geworden. Er vollbrachte nicht nur für seine Zeit befahrungstechnische Höchstleistungen, z.B. in slowenischen Schachthöhlen, sondern entwickelte sich aufgrund seiner vielen Kontakte zum Nestor der deutschen Höhlenforschung: Wolf vermittelte Experten aus dem In- und Ausland für höhlenkundliche Projekte, beschaffte Geld für Forschungsvorhaben, publizierte einen weltweiten Höhlentierkatalog, redigierte die Hauptverbandszeitschrift bis 1937 und war Nestor sowie langjähriges Vorstandsmitglied des Hauptverbandes Deutscher Höhlenforscher. Um den Verband politisch nicht zu sehr zu exponieren, legte Wolf seine Funktionen jedoch rechtzeitig in andere Hände.

Vor allem besaß Wolf aber eine wertvolle und umfangreiche private höhlenkundliche Bibliothek, die ihm als Grundlage für die Arbeit an einem Welthöhlenverzeichnis diente – einem heute kaum mehr vorstellbaren Projekt. Mit der Untertageverlagerung von Teilen der NS-Rüstungsproduktion weckte dieses Material auch die Begehrlichkeiten der Nazi-Schergen. So schrieben seine Gegner damals, dass man „diesen Wolf endlich von der Bildfläche verschwinden lassen sollte, um seiner Unterlagen habhaft zu werden“.

So wurde Benno Wolf im Juli 1942 als 71jähriger im Berlin von der Gestapo verhaftet und nach Theresienstadt deportiert, wo er infolge der unmenschlichen Haftbedingungen im Januar 1943 starb.

Im Gedenken an den Nestor der deutschen Höhlenforschung und ersten deutschen Höhlenforscher von internationalem Format vergibt der Verband der deutschen Höhlen- und Karstforscher seit 1996 den ideellen Dr.-Benno-Wolf-Preis. Mit diesem werden nicht nur besondere Leistungen im Höhlenschutz und in der Höhlenforschung gewürdigt, sondern es soll auch ein Zeichen gegen Intoleranz und Unfreiheit in der wissenschaftlichen Forschung gesetzt werden.

 

“wie ein Schiff, das die Pest nach Europa bringt”?

Europäisches Tagebuch, 3.10.2020: In Catania beginnt heute der Prozess gegen den italienischen Ex-Innenminister Matteo Salvini, wegen Freiheitsberaubung mit der Anhörung des mittlerweile aus der Opposition agierenden rechtsradikalen Führers. Salvini hatte im Juli 2019 einem Schiff der italienischen Küstenwache die Einfahrt in den Hafen Augusta auf Sizilien verweigert. Auf dem Schiff befanden sich 131 aus Seenot gerettete Bootsflüchtlinge. Das zuständige Gericht in Catania sah damit den Straftatbestand der Freiheitsberaubung gegeben, auf den eine Höchststrafe von 15 Jahre Haft steht. Im Februar stimmte der römische Senat mehrheitlich für die Aufhebung von Salvinis Immunität – als die Koalition zwischen Salvinis rechter Lega Nord und der Fünf-Sterne-Bewegung schon Geschichte war. Salvini, der im Zeichen der Corona-Krise in den Umfragen abgestürzt ist, nutzt den Prozess jedenfalls für seinen Dauerwahlkampf. Seit Tagen mobilisiert er auf Sizilien mit flammenden Reden und Verdi-Arien vom Band. „Vincerò“ – „Ich werde siegen“. Er habe nur die Grenzen und die Ehre Italiens verteidigt, in dem er 130 Menschen als Geiseln seiner rechtsradikalen Politik nahm. Eine Verurteilung Salvinis gilt dennoch als unwahrscheinlich – und so wird ihm der Prozess vermutlich auch noch helfen an seinem Comeback zu arbeiten.

Europäisches Tagebuch, 3.10.2019: Die Kapitänin des Seenotrettungsschiffes Sea-Watch 3, Carola Rackete, hielt heute eine Rede vor dem Europäischen Parlament in Brüssel, im Rahmen einer Anhörung des Innenausschusses – und erhielt von einem Teil der Abgeordneten stehende Ovationen. Der ORF berichtete ausführlich über diesen ungewöhnlichen Anlass:

„Ich wurde empfangen wie ein Schiff, das die Pest nach Europa bringt“, sagte Rackete am Donnerstag im Innenausschuss des Parlaments. „Es war schwer, eine EU-Bürgerin zu sein in diesen Tagen. Ich habe mich geschämt.“ Die Anhörung von Rackete fand am sechsten Jahrestag der Flüchtlingstragödie von Lampedusa statt, bei der 366 Menschen ums Leben gekommen waren. Während die Abgeordneten der Tragödie mit einer Schweigeminute gedachten, betonte Rackete, dass sich seitdem nicht viel geändert habe.
Die deutsche Aktivistin schilderte in eindringlichen Worten ihre Erfahrungen als Seenotretterin, etwa als ihr Schiff auf ein Wrack traf, um das herum Leichen trieben. Einige hätten einander in den Armen gehalten, als sie starben, „die Körper untrennbar verbunden“. Sie habe auch drei Kinder gesehen, „die die Leiche eines Babys im Arm hielten. Dann sangen einige für dieses Baby und schaukelten es, als wäre es noch am Leben.“
Keine dieser Erfahrungen sei aber so schlimm gewesen wie die „Frustration“, 70 Tage lang mit geretteten Menschen auf der „Sea-Watch 3“ im Mittelmeer unterwegs zu sein „und den Menschen zu erklären, dass Europa sie nicht wollte, Europa, das Symbol der Menschenrechte“. Rackete verteidigte in diesem Zusammenhang neuerlich ihre Entscheidung, den Hafen von Lampedusa anzusteuern. „Das war keine Provokation“, so Rackete. „Das hätte ich viel früher tun sollen”, sagte Rackete und verwies auf den Schutz von Menschenleben. „Ja, ich würde es jederzeit wieder tun. Menschen sterben jeden Tag, natürlich würde ich es wieder tun“, antwortete sie später auf eine entsprechende Frage.

Bei ihrer Landung gegen den Willen der italienischen Regierung in Lampedusa habe sie „viel ungewollte Aufmerksamkeit“ bekommen, so Rackete vor den Abgeordneten. „Aber wo waren Sie, als wir nach Hilfe gerufen haben, über alle möglichen Kanäle, wo waren Sie, als wir nach einem sicheren Ort gefragt haben? Man hat mir Tripolis genannt, die Hauptstadt eines Landes, in dem Bürgerkrieg herrscht“, kritisierte sie. „Wenn wir wirklich besorgt sind über Folter in Libyen, muss Europa die Kooperation mit der libyschen Küstenwache einstellen“, forderte Rackete unter dem Applaus der Abgeordneten.
In ihrer Rede erinnerte Rackete an die Flüchtlingstragödie mit Hunderten Toten vor Lampedusa. „Sechs Jahre sind vergangen, und statt dass ähnliche Tragödien vermieden werden, hat die EU ihre Verantwortung externalisiert und an Libyen delegiert, wobei Völkerrecht gebrochen wird.“ Es gebe aber „Hoffnung“, nämlich die Aktionen der zivilgesellschaftlichen Organisationen.

Rackete forderte einen radikalen Systemwandel im Umgang mit Migration. Eine Reform von Dublin sei „längst überfällig“, es brauche humanitäre Korridore und sichere und legale Routen nach Europa. „Eine Anlandung von geretteten Personen muss sich an das Recht halten und darf nicht Ad-hoc-Verhandlungen anheimgestellt werden.“

„Nach meiner Verhaftung gab es großes Interesse an der Seenotrettung. Ich hoffe, dass sich das in den Taten widerspiegeln wird. Ich hoffe auf echten Fortschritt und nicht, dass es für mich und viele Organisationen noch schwieriger wird”, so Rackete. „Wir müssen vorsichtig sein, was in den nächsten Wochen verhandelt wird, und sichergehen, dass unsere Forderungen durchgesetzt werden”, forderte sie die Abgeordneten auf.
In der Anhörung machten Vertreter von Frontex, EU-Kommission, EU-Grundrechteagentur sowie der italienische Küstenwache-Kapitän Andrea Tassara klar, dass die Rettung von Flüchtlingen im Mittelmeer nicht kriminalisiert werden dürfe. In der Debatte zeigten sich aber Differenzen. So pochten konservative Abgeordnete darauf, den Schleppern das Handwerk zu legen. Frontex-Direktor Fabrice Leggeri wich mehrmals der Frage aus, ob er Libyen als sicheren Drittstaat ansieht.
Der Direktor für Migration der EU-Kommission, Michael Shotter, wies darauf hin, dass seit Juni im Rahmen von Ad-hoc-Aktionen bereits über 1.000 Menschen an Land gehen konnten und an andere Mitgliedsstaaten sowie Norwegen verteilt wurden. „Wir brauchen jetzt einen zuverlässigen und ständigen Such- und Rettungseinsatz anstelle von Ad-hoc-Aktionen“, sagte Shotter. Daher sei es „wichtig“, dass sich nach der Einigung von Malta weitere Mitgliedsstaaten daran beteiligen und „Solidarität“ zeigen.
Der Vorsitzende des Innenausschusses, der spanische Sozialist Juan Fernando Lopez Aguilar, pochte ebenfalls auf klare Regeln, die eine Kriminalisierung von Seenotrettung verhindern. Der Ausschuss werde diesbezüglich eine Entschließung ausarbeiten, die dann bei der kommenden Plenartagung des Europaparlaments angenommen werden soll.

Einen Kontrapunkt setzten Abgeordnete von rechtspopulistischen Parteien wie der Slowake Milan Uhrik, der Rackete selbst die Ausreise nach Afrika nahelegte. „Ich kann mich mit (dem früheren italienischen Innenminister Matteo, Anm.) Salvini nur identifizieren, der sagt, Sie sollten im Gefängnis sitzen“, sagte der Abgeordnete der Partei „Volkspartei – Unsere Slowakei“. Der deutsche Rechtspopulist Nicolas Fest legte nach, indem er Rackete fragte, ob sie es als Teil ihrer Aufgabe sehe, das Leben der Europäer „durch das Einschleusen von Folterern und Terroristen zu gefährden“. ÖVP-Delegationsleiterin Karoline Edtstadler übte in der Debatte wenig verhüllte Kritik an den Aktivitäten der Seenotretter. Man müsse das „Schleppergeschäft beenden“, sagte sie. „Ich frage mich einfach, wie wir dieses Geschäft beenden wollen, wenn die Rettung immer noch das Ticket nach Europa ist“, so die Ex-Staatssekretärin über die Frage nach dem „Pull-Faktor“ durch Rettungsaktionen. Die EU solle sich nicht in gute und schlechte Staaten „auseinanderdividieren lassen“, Edtstadler forderte die Etablierung eines Systems, „das nicht den Falschen in die Hände spielt“.

SPÖ-Europaabgeordnete Bettina Vollath forderte ein Ende der Kriminalisierung von Seenotrettern. „Es kann niemals und unter keinen Umständen kriminell sein, Menschen in Not zu helfen, sondern es ist eine moralische und rechtliche Verpflichtung“, betonte sie in einer Aussendung unter Verweis auf aktuelle Zahlen der Vereinten Nationen, wonach heuer bereits über 1.000 Menschen im Mittelmeer ertrunken seien und seit Anfang 2014 über 15.000 Menschen. „Es braucht legale Einreisewege, schnelle und rechtssichere Verfahren und Hilfe vor Ort, um die Fluchtursachen zu bekämpfen“, betonte sie.
Monika Vana, Österreichs Delegationsleiterin der Grünen, will ein EU-Seenotrettungsprogramm auf den Weg bringen. „Das Mittelmeer ist ein Massengrab für Schutzbedürftige, das ist eine Schande für die gesamte EU“, so Vana zu ORF.at. Sie sei für legale und sichere Einreisemöglichkeiten in die EU. Schleppern müsse das Handwerk gelegt und sichere Fluchtmöglichkeiten geschaffen werden. Der EU-Rat müsse unbedingt dem Frontex-Fonds „Search and Rescue zustimmen, der vorgestern vom Budgetausschuss des Europaparlaments vorgeschlagen wurde“, forderte Vana.
Laut dem EU-Abgeordneten Erik Marquardt von den deutschen Grünen wurde die „humanitäre Hilfe Teil eines politischen Spiels”: „Die EU sollte Schiffe ins Mittelmeer schicken, um Menschen zu retten. Das ist nicht nur eine Verantwortung der Kommission, sondern von jedem Mitgliedsstaat. Es sind nicht nur die Menschen, die im Mittelmeer ertrinken, sondern auch unsere europäischen Werte“, so Marquardt. (Quelle: https://orf.at/stories/3139594/)

Ein bisschen mehr…

Europäisches Tagebuch, 18.9.2020:
Es geht doch. Oder jedenfalls ein bisschen. Frei nach Claude Juncker: „Ein bisschen mehr wäre etwas weniger weniger“.
Deutschland will nun offenbar zusätzlich 1553 Flüchtlinge aus dem abgebrannten Lager Moria aufnehmen. Lange Zeit gab es keine Bewegung zwischen Innenminister Seehofer und den insgesamt 150 deutschen Städten und Kommunen (incl. Berlin), die forderten, Flüchtlinge aufnehmen zu dürfen. Immer wieder war davon die Rede, dass es keinen deutschen Alleingang geben dürfe. Nach der Katastrophe auf Lesbos haben sich nun Kanzlerin Merkel, Innenminister Seehofer und Vertreter der SPD doch über ein anderes Vorgehen einigen können. Die mehr als 1500 Flüchtlinge aus Moria sollen insgesamt 408 Familien umfassen, darunter auch schon anerkannte Flüchtlinge, die trotz Asylstatus aufgrund der griechischen Asylpolitik und der immer noch hochgehaltenen „Dublin-Regeln“ auf Lesbos festsaßen. 
Das Problem ist in Wahrheit natürlich weitaus größer, denn die Zustände in den griechischen „Aufnahmelagern“ auf den Inseln war und ist nicht nur auf Lesbos katastrophal, sondern wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 16.9. berichtete auch auf Chios, Leros, Kos und nicht zuletzt auf Samos. Im dortigen Lager Vathy. Sind ebenfalls fast 7000 Menschen untergebracht. Ungefähr das zehnfache seiner Kapazität. Dass die im sogenannten EU-Türkei-Deal vereinbarte mögliche Rückweisung von Migranten, deren Asylantrag negativ beschieden wurde, nicht in Anwendung kam lag im übrigen, wie die FAZ trocken vermerkt, nicht in erster Linie an der Türkei, sondern vor allem daran, dass Griechenland auf den Inseln gar nicht erst die Ressourcen aufbaute, um die Asylanträge ordentlich prüfen zu können. So nahm eine fatale Entwicklung ihren Lauf, die in erster Linie das Leid der Flüchtlinge vergrößerte. Die FAZ berichtet von alarmierenden Zuständen. Eine Frau, die dort seit sechs Monaten mit Mann und Kleinkind ausharrt, erzählt von ihrer Rettung aus dem Meer durch die griechische Küstenwache – „vor allem aber von der Tortur danach: von einem Wohncontainer mit Betten ohne Matratzen, von täglich mehrstündigem Anstehen für die Mahlzeiten in Hitze, Regen oder Kälte. Von einer teilnahmslosen Polizei, die nicht eingreift, wenn Schwächere verprügelt oder bestohlen werden. Von einem einzigen Arzt für mehrere tausend Menschen – und vor allem von der Ungewissheit darüber, wie lange all das noch die eigene Lebenswelt bleiben wird.“ Im Lager wächst Frustration, Konkurrenz verschiedener Gruppen, deren Herkunft nicht immer kompatibel ist – schließlich kommt man aus Kriegsgebieten – und natürlich bricht sich die Verzweiflung gewaltsam Bahn, in Demonstrationen und Proteste gegen die Bewacher, und meistens gegeneinander. Wie soll es auch anders sein? Auch die Bewohner der naheliegenden Griechischen Orte demonstrieren, und auch sie bleiben nicht mehr immer friedlich.
Die Bürgermeister der Inseln fordern vergeblich Solidarität der Regierung auf dem Festland, Griechenland fordert, zumeist vergeblich Solidarität mit Europa, und selbst einem Hardliner wie Horst Seehofer platzt inzwischen der Kragen, wenn er an Österreich denkt, und erklärt im Spiegel-Interview: „Ich bin von der Haltung unserer österreichischem Nachbarn enttäuscht, sich an der Aufnahme einer überschaubaren Zahl von Schutzbedürftigen aus Griechenland nicht zu beteiligen. (…) Wenn wir nichts tun, stärken wir die politischen Ränder.“ Nun ja, der politische Rand ist längst im Wiener Kanzleramt angekommen.

Freunderldienste leicht gemacht

Europäisches Tagebuch, 24.9.2020: Finanzminister Blümel lässt es also drauf ankommen. Der österreichische Antrag wird nicht korrigiert. Der Wiener Wahlkampf ist ohnehin wichtiger als die Notstandshilfen für die leidende Wirtschaft. Und da es mit deren Verteilung eh nicht sehr rund läuft, ist es gut einen Sündenbock dafür zu haben: Brüssel.
Dabei hätte die EU-Kommission allen Grund, Österreich sehr viel deutlicher die Rute ins Fenster zu stellen, als sie es tut. Im Moment blühen nämlich Konstruktionen, die Korruption – oder zumindest Freunderldienste – geradezu planmäßig fördern.
Statt die Auszahlung von 15 Milliarden Hilfsgeldern für Unternehmen über das Finanzamt zu regeln, und damit unter öffentlicher Kontrolle durch Parlament und Rechnungshof, hat der Bund eine „Covid-19 Finanzierungsagentur“ als Gesellschaft mit beschränkter Haftung gegründet. Die Cofag soll der notleidenden Wirtschaft mit Fixkostenzuschüssen und Überbrückungsgarantien zur Seite stehen und wird vom Bund entsprechend finanziell aufgestellt. „Gemäß § 6a Abs. 2 ABBAG-Gesetz stattet der Bund die COFAG so aus, dass diese in der Lage ist, kapital- und liquiditätsstützende Maßnahmen, die ihr gemäß § 2 Abs. 2 Z 7 ABBAG-Gesetz übertragen wurden, bis zu einem Höchstbetrag von 15 Milliarden Euro zu erbringen und ihre finanziellen Verpflichtungen zu erfüllen.“ Der Vorteil dieser Konstruktion liegt auf der Hand: eine GesmbH ist schließlich dem Parlament nicht auskunftspflichtig.

Florian Scheuba meint dazu bissig im Standard: „Nicht nur Abgeordnete der Opposition können somit nicht mehr mit lästigen Fragen wie “Wer bekommt wie viel Steuergeld und warum?” nerven. Auch Antragsteller können sich die Bitte um Begründung, warum ihr Hilfsantrag abgelehnt wird, sparen, denn Cofag-Beiratsmitglieder sind zur Verschwiegenheit verpflichtet. Bleibt als letzte Hoffnung der Rechnungshof? Nein, denn auch dessen Ansinnen nach begleitender Kontrolle kann die Agentur mit einem herzhaften “Cofag yourself” abschmettern. Hier wird also gerade ein blickdichter Darkroom für künftige Mauscheleien geschaffen. Wie finster der wird, lassen die jüngsten Vorgänge rund um einen 800.000-Euro-Vertrag der Cofag mit einer zunächst geheim gehaltenen PR-Agentur erahnen. “Das Geld fließt nicht in Eigen-PR, sondern etwa in die Betreuung der Homepage oder die Beantwortung von Medienfragen”, meint Cofag-Geschäftsführer Bernhard Perner“.

Mal schauen, wieviele Medienanfragen es – angesichts der bekannt kritischen Presselandschaft in Österreich – so geben wird.