Alfred Hermann Fried und der Pazifismus

Europäisches Tagebuch, 11.11.2020: Heute vor 156 Jahren wurde in Wien Alfred Hermann Fried geboren.

Alfred Hermann Fried, um 1911 (Quelle: Wikipedia)

Nach seiner Ausbildung als Buchhändler begann er in Berlin in seinem Beruf zu arbeiten und gründete, gerade vierundzwanzigjährig, mit dem Banklehrling Jacques Gnadenfeld einen Verlag. Ein Jahr später heiratete er dessen Schwester. Doch die Zusammenarbeit im Verlagsgeschäft und bald auch die Ehe mit Gertrud Gnadenfeld endeten unglücklich. Fried wendete seine Energie nun einem neuen, ambitionierteren Projekt zu: dem Weltfrieden.

Gemeinsam mit Bertha von Suttner gab er ab 1892 die pazifistische Zeitschrift Die Waffen nieder! heraus und begründete mit ihr im gleichen Jahr die Deutsche Friedensgesellschaft.

Von da an ist er regelmäßiger Mitorganisator und Gast internationaler Friedenskongresse, Redakteur der Monatlichen Friedenskorrespondenz und Mitarbeiter der Zeitschrift Die Friedenswarte. Unter heftigem Beschuss der wachsenden nationalistischen Kräfte in Deutschland forderten er und seine MitstreiterInnen Friedensverträge und schließlich ein internationales Verbot des Krieges und die Verpflichtung zur Konfliktklärung im Rahmen einer internationalen Gerichtsbarkeit. Auch in der jungen Esperantobewegung engagierte sich Fried und veröffentlichte 1903 sogar ein Lehrbuch der internationalen Hilfssprache, von der er sich Verständigung zwischen den Nationen erwartet.

Weltfriedenskongress 1907

1911 erhielt Fried gemeinsam mit dem niederländischen Juristen Tobias Asser, der wie er aus einer jüdischen Familie stammte, den Friedensnobelpreis. Tobias Asser war entscheidend am Aufbau des Ständigen Schiedshofes in Den Haag und an den Haager Friedenskonferenzen beteiligt. Die dritte Haager Konferenz sollte 1914 stattfinden, und wurde auf 1915 verschoben. Der Rest ist Geschichte. Eine Geschichte von Katastrophen, Verbrechen und Massenmord.
Von der Zensur bedrängt, emigrierte Fried 1914 mit seiner Zeitschrift Friedenswarte in die Schweiz. 1921 starb er nach langer Krankheit im Wiener Rudolfspital.

Bewegung auf Balkonien – Das European Balcony Project

Europäisches Tagebuch, 10.11.2020: Heute vor zwei Jahren, hundert Jahre nach dem Ende des ersten Weltkriegs und der Ausrufung demokratischer Republiken, wurde in 25 europäischen Ländern von hunderten von Balkonen die Europäische Republik ausgerufen. Eingeladen dazu, an dieser künstlerisch-politischen Aktion teilzunehmen, hatte das European Balcony Project, geleitet von Ulrike Guérot, Milo Rau, Robert Menasse, und Verena Humer. Mit ihrem Manifest zur Ausrufung der Europäischen Republik gingen sie bewusst über das Kleinklein europäischer Realpolitik hinaus und stellten sie dem grassierenden Nationalismus die Utopie einer gemeinsamen Europäischen Demokratie entgegen.

Die unterschiedlichsten Theater, Kultureinrichtungen, Institutionen und Bürgerinitiativen beteiligten sich daran. Schauplatz waren Theater, Museen und Festivals, der Balkon des Frankfurter Rathauses genauso wie eine Fußgängerbrücke zwischen zwei Mitgliedstaaten, der Brüsseler Flughafen so wie mancher private Balkon, prominente und weniger prominente Orte, vom Wiener Burgtheater bis zur Volkhochschule Recklinghausen, von der Kunsthalle Wien bis zum Schauspiel in Essen, dem Nationaltheater in Gent, dem Bitef Theatre Festival Belgrad, oder dem Royal Conservatoire of Scotland, Bühnen und Balkone in Warschau, Lissabon und Amsterdam, Newcastle, Zürich, Bukarest und vielen anderen europäischen Metropolen, aber auch der Balkon des Jüdischen Museums in Hohenems.

Hier wurde das Manifest gleich in vielen verschiedenen Sprachen von jungen Menschen verlesen, die heute in Vorarlberg leben, auch wenn sie und ihre Familien aus der ganzen Welt stammen.

Für die Ausstellung „Die letzten Europäer“ hat Felicitas Heimann-Jelinek eine der Autorinnen des Manifests, Ulrike Guérot, in Wien getroffen – um mit ihr über europäische Demokratie und ihre Widersacher, über Macht und Ohnmacht des europäischen Parlaments, über den Brexit und seine Wirkungen zu sprechen. Ulrike Guérot ist Professorin für Politikwissenschaft und leitet die Abteilung für Europapolitik und Demokratieforschung an der Donau-Universität Krems. Außerdem ist sie die Gründerin des European Democracy Lab in Berlin. Gerade ist von ihr das Buch Nichts wird so bleiben wie es war? Europa nach Krise erschienen.

Hier ist das Interview, das wir am 11. September 2020 mit ihr geführt haben.

Und wer sich noch einmal an den 10. November 2018 erinnern möchte: Hier ist ein Mitschnitt der Verlesung des Europäischen Manifests vom Balkon des Jüdischen Museums Hohenems.

 

Tragödie oder Farce

Europäisches Tagebuch, 9.11.2020: Lügen haben ein kurzes Gedächtnis. Aber macht uns Erinnerung klüger? Es gibt Tage, an denen einem schwindlig wird: von der Kluft zwischen all den guten Vorsätzen, aus der Geschichte „zu lernen“, und einer Realität, in der aus den Wunden, die ein Ereignis schlägt, aus Erinnerung und Trauma wieder nur der nächste Unsinn und manchmal Schlimmeres geboren wird. In Österreich ist der 9. November für die meisten Menschen ein Tag wie jeder andere. In Deutschland kommt es manchmal eher zu einem Overkill der Gedächtnisse. Das Kalenderblatt am 9. November ist inzwischen ein fast schon unlesbares Palimpsest.
An jenem Tag, an dem 1799 die Französische Revolution mit dem Staatsstreich Napoleons ihr Ende fand (und 1848 nach der Niederschlagung der Revolution in Wien Robert Blum erschossen wurde), riefen 1918 Philipp Scheidemann und Karl Liebknecht gleich zwei deutsche Republiken an einem Tag aus. Fünf Jahre später wollten Adolf Hitler und seine Getreuen diesen „schwarzen Tag“ der deutschen Nation ungeschehen machen und in München von der Republik zur Diktatur marschieren. Zwei Jahre später, 1925 und wieder am 9. November, gründeten sie die SS. Und da man sich am 9. November 1938 wie jedes Jahr zum Gedächtnis der 1923 noch gescheiterten „nationalen Revolution“ versammelt hatte, bot diese Nacht sich schließlich an, die Hatz auf die Juden und ihre Gotteshäuser zu eröffnen.

Die DDR-Führung wiederum zeigte sich am 9.November 1989 recht unbeholfen vergesslich, als Politbüro-Mitglied Schabowski auf eine Journalistenfrage zu den verkündeten Erleichterungen der Reisefreiheit auf legendäre Weise ins Stottern kam: „Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich“ Und einen Sturm auf die Mauer lostrat.

Vor fünf Jahren wiederum, im November 2015, wollte ein gewisser Heinz Christian Strache die Uhren wieder zurückdrehen und erinnerte allen Ernstes an den Eisernen Vorhang als mögliche „Lösung“ für die europäischen „Flüchtlingsprobleme“ (er träumte offenkundig von Schießbefehl und Todesstreifen). Wie so mancher österreichische Politiker vor und nach ihm setzte er ganz bewusst auf das Vergessen, die Lüge mit den kürzesten Beinen. Karl Marx schon wusste, als er über den 9. November (den „18. Brumaire“) schrieb: „Hegel bemerkte irgendwo, dass alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen, hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.“ Aber wenn es um den 9. November geht, dann weiß heute niemand mehr, ob aus einer Tragödie eine Farce wird, oder aus einer Farce eine Tragödie.

Leonard Cohen: First we take Manhattan, then we take Berlin

Europäisches Tagebuch 7.11.2020: Heute vor vier Jahren starb Leonard Cohen. Geboren wurde er am 21. September 1934 in Westmount, einem englischsprachigen Vorort von Montreal. Sein Urgroßvater Lazarus stammte aus Litauen und wurde schließlich Präsident der größten jüdischen Gemeinde Montreals, Shaar Hashomayim.

Das Gitarrenspiel erlernte Cohen vor allem, um Mädchen zu beeindrucken. Sein eigentliches Ziel war, Schriftsteller zu werden. Von 1960 bis 1967 lebte er auf der griechischen Insel Hydra, veröffentlichte Gedichtbände, zum Beispiel Flowers for Hitler (1964). 1967 zog er als Singer Songwriter nach New York, ins legendäre Chelsea Hotel, hatte Beziehungen mit ebenso legendären Musikerinnen wie Janis Joplin und Joni Mitchell. Und schrieb einen unvergesslichen Song nach dem anderen.
1972 erklärte er, sich wieder auf die Literatur zu konzentrieren. 1973 tourte er gleichwohl nach dem Beginn des Jom Kippur Krieges mit israelischen Musikern wie Matti Caspi auf dem Sinai und trat vor israelischen Soldaten auf. 1974 folgte ein neues Studioalbum und eine große Tournee. Vom Gedichteschreiben ließ es sich nicht leben.
In den 1990er Jahren dann doch der Rückzug aus dem Musikgeschäft. Cohen wurde buddhistischer Mönch in einem Kloster in den Bergen bei Los Angeles. Doch die Musik ließ in nicht los. Ab 2001 folgten wieder Studioalben und bald neue Tourneen.

Sein letztes Album war so etwas wie ein Kaddisch von Leonard Cohen für sich selbst. „You want it darker“. Es erschien zwei Wochen vor seinem Tod. Darauf war auch der Chor seiner Montrealer Synagoge Shaar Hashomayim zu hören.

Seine Songtexte waren häufig genug rätselhaft, doch so vieldeutig wie „First we take Manhattan, then we take Berlin“ war kaum einer seiner Songs. Hier eine Studioeinspielung aus dem deutschen Fernsehen, die der Mehrdeutigkeit des Textes auch noch eine durchtriebene Bildsprache hinzufügt.

Wer in Ruhe rätseln möchte, was es mit den Schlangen im Bahnhof, und dem Muttermal auf sich hat, der Schönheit der Waffen oder den Zeichen vom Himmel, kann hier gerne seine eigene Textinterpretation versuchen.

They sentenced me to twenty years of boredom
For trying to change the system from within
I’m coming now, I’m coming to reward them
First we take Manhattan, then we take Berlin

I’m guided by a signal in the heavens (guided, guided)
I’m guided by this birthmark on my skin (guided, guided by)
I’m guided by the beauty of our weapons (guided)
First we take Manhattan, then we take Berlin

I’d really like to live beside you, baby
I love your body and your spirit and your clothes
But you see that line there moving through the station
I told you, I told you, told you, I was one of those

Ah, you loved me as a loser
But now you’re worried that I just might win
You know the way to stop me, but you don’t have the discipline
How many nights I prayed for this, to let my work begin
First we take Manhattan, then we take Berlin

I don’t like your fashion business, mister
And I don’t like these drugs that keep you thin
I don’t like what happened to my sister
First we take Manhattan, then we take Berlin

And I thank you for those items that you sent me
The monkey and the plywood violin
I practiced every night, now I’m ready
First we take Manhattan, then we take Berlin

Ah remember me, I used to live for music (baby)
Remember me, I brought your groceries in (ooh baby yeah)
Well it’s Father’s Day and everybody’s wounded (baby)
First we take Manhattan, then we take Berlin

Und wer jetzt immer noch nicht verwirrt genug ist, dem liefert Leonard Cohen selbst, in einem Backstage Interview aus dem Jahr 2010, noch mehr „food for thought“:

“I think it means exactly what it says. It is a terrorist song. I think it’s a response to terrorism. There’s something about terrorism that I’ve always admired. The fact that there are no alibis or no compromises. That position is always very attractive. I don’t like it when it’s manifested on the physical plane – I don’t really enjoy the terrorist activities – but Psychic Terrorism. I remember there was a great poem by Irving Layton that I once read, I’ll give you a paraphrase of it. It was ‘well, you guys blow up an occasional airline and kill a few children here and there’, he says. ‘But our terrorists, Jesus, Freud, Marx, Einstein. The whole world is still quaking.'”

“Nawid ist weg”. Ein Gespräch mit Ernst Schmiederer über einen umherirrenden Freund

Europäisches Tagebuch, 6.11.2020: Gestern, am 5. November sprach ich mit Ernst Schmiederer über seine Begegnung mit jungen Flüchtlingen. In Österreich und Frankreich, in Schubhaft und in einer möglichen anderen Welt. Und sein Buch über Nawid.
Österreich schmückt sich damit, ob türkisblau oder türkisblau-grün, die Zahl der Flüchtlinge im Lande zu verringern. Über den Preis den Menschen dafür bezahlen, die seitdem innerhalb Europas auf der Flucht sind, wird wenig geredet. Ernst Schmiederer tut es. Seine Bücher kann man auch bestellen.
https://shop.gegenwart.org

Kommunikationsprobleme?

Europäisches Tagebuch, 4.11.2020: Nur kurz währte der Anflug von staatsmännischer Haltung und „inklusiver“ Besonnenheit beim österreichischen Bundeskanzler. Nur zwei Tage nach dem mörderischen Anschlag eines Djihadisten in der Wiener Innenstadt hat Sebastian Kurz wieder begonnen, den EU-feindlichen Rechtspopulismus zu bedienen. Und zeigt sich unbeeindruckt von jeder Kenntnis rechtsstaatlicher Prinzipien. Das geht wie? So: Statt konkret zu werden, von wem derzeit eine Bedrohung in Österreich ausgeht, muss erst einmal wieder die Allzweckwaffe der Rede vom „politischen Islam“ in Stellung gebracht werden. Diese immer wieder bemühte Worthülse hat den Vorteil, dass sie im Zweifelsfall alles und jeden meinen kann, was irgendwie mit dem Islam in Verbindung gebracht werden kann. Islamische Politiker aus mehrheitlich von Muslimen bewohnten Staaten lassen sich damit genauso etikettieren, wie fanatische Djihadisten, die Terroranschläge verüben. Frauen, die Kopftücher tragen, weil sie ihre muslimische Identität betonen wollen genauso, wie Menschen, die manche ethischen Grundsätze des Islams (ja, die gibt es, wie zum Beispiel die des Spendens für Bedürftige – hier heißt das Caritas…) auch in der Welt der Politik umgesetzt sehen wollen, genauso wie Menschen, die ein bestimmtes Verständnis von Islam zur Rechtfertigung ihrer männlichen, politischen, ethnischen oder sozialen Machtansprüche benutzen, und dafür zu allen Schandtaten bereit sind. Gibt es eigentlich kein politisches Christentum? Gibt es keine CDU und keine christlich-soziale ÖVP, keine menschenrechts-aktive Caritas und keine evangelikalen, gewaltbereiten Trump-Anhänger? Um einmal das breite, widersprüchliche Spektrum nur ein wenig anzudeuten.

Doch wer von „politischem Islam“ spricht, wie Sebastian Kurz und so viele andere, möchte genau diese Differenzierung einebnen und stattdessen die Kultur eines Generalverdachts pflegen. Jene „Kultur“, die mit daran schuld ist, Menschen wie den Attentäter von Wien, in seinem djihadistischen Wahn zu bestärken, der genau diese Weltsicht des „wir“ und „die anderen“ teilt – und radikalisiert.

Doch dann beglückte Sebastian Kurz die Öffentlichkeit mit der überraschenden Einsicht, dass das Attentat nicht stattgefunden hätte, wenn der Täter, der nach zwei-Dritteln seiner Haftzeit entlassen wurde, noch immer in Haft sitzen würde. Darauf wären wir sonst nie gekommen.
Allerdings könnte auch der Bundeskanzler wissen, dass dies grundsätzlich nicht nur üblich ist, sondern auch sinnvoll, denn nur so hat die Justiz eine Handhabe, dem Verurteilten Auflagen zu erteilen, zum Beispiel die Teilnahme am Deradikalisierungsprogramm und die regelmäßige Betreuung durch Bewährungshilfe, auch über einen längeren Zeitraum, als die eigentliche Haft dauern würde. Aber die diffuse Botschaft des Bundeskanzlers war klar: die (grüne) Justizministerin und die Justiz, ja die rechtstaatlichen Verfahren überhaupt sind irgendwie schuld an dem Debakel. Umso „nötiger“ schien diese Schuldzuweisung aus Sicht des türkisblauen Kanzlers freilich, nachdem klar wurde, dass vor allem das Innenministerium seines Parteikollegen Nehammer und der Verfassungsschutz im Besonderen einen echten Erklärungsbedarf haben. Nachdem bekannt geworden ist, dass der Attentäter versucht hatte in der Slowakei Munition für ein Kalaschnikow Gewehr zu besorgen, worüber der slowakische Geheimdienst seine österreichischen Kollegen informierte. Nur die Justiz und die Bewährungshilfe wusste von solchen Dingen nichts.
Karl Nehammer musste in seiner Pressekonferenz, die erst mit einer Stunde Verspätung (und offenbar einigem Klärungsbedarf hinter den Kulissen) begann, kleinlaut zugeben, dass es hier offenbar „Kommunikationsprobleme“ gegeben hat, „Fehler“, die nach einer unabhängigen Untersuchung rufen. Justizministerin Zadic wiederum unterließ es höflich, nun ihrerseits Retourkutschen anzubringen.
Stattdessen sucht Sebastian Kurz nun öffentlich die Schuld bei – na ja, natürlich, wen wundert es – also, so unglaublich das eigentlich ist, tatsächlich bei der Europäischen Union und ihrer „falschen Toleranz“. Gegenüber in Wien geborenen österreichischen Staatsbürgern, wie dem Attentäter vom Montag? Nach Logik von Argumenten sollte hier niemand fragen. Die Tendenz ist die übliche. Der Kurz‘sche Anflug von Vernunft hat nur einen kurzen Tag lang gedauert.

Dazu auch ein treffender Kommentar von Johannes Huber auf „Die Substanz“:

Zurück bei türkiser Hemmungslosigkeit

Schleich di, du Oaschloch

Europäisches Tagebuch, 3.11.2020: Zur Zeit wird in den USA gewählt. Und wenn dies gelesen wird, werden wir es möglicherweise schon wissen, oder es vielleicht auch nur ahnen, wohin die Reise geht. Und egal wie es ausgeht, wird ein Teil der amerikanischen Gesellschaft seine Wut artikulieren, in einem Land das vier Jahre lang gespalten wurde, von oben, Tag für Tag.

Währenddessen versucht die Stadt Wien sich von einem Schock zu erholen, dessen Wirkung ebenfalls noch nicht absehbar ist. Aber es gibt ein paar Anzeichen dafür, dass dieser Schock vielleicht doch nicht weiter die Spaltung vertieft, die auch in Österreich spürbar ist. Die Spaltung in eine Gesellschaft, die nur noch ein „wir“ und „die anderen“ kennt.
Gestern um diese Zeit war die Stadt Wien wie im Kriegszustand. Eine unbekannte Zahl von Attentätern hatte, so schien es jedenfalls, ausgehend von der Wiener Synagoge, dem Stadttempel, das Wiener Zentrum mit Terror überzogen. Aus der ganzen Stadt wurden Angriffe bewaffneter Terroristen gemeldet. Der ORF berichtete in Dauerschleife, ohne in der Lage zu sein, mehr zu berichten, als dass die Lage unübersichtlich, die Täter unbekannt, die Lage unverändert, und die Polizeikräfte überall im Einsatz seien. Und dass man aufhören solle, irgendwelche Videos ins Internet zu stellen, und sie stattdessen auf einer Website der Polizei downloaden soll, die dringend Hinweise benötige, ob noch mehr Täter unterwegs seien. Da wusste man schon, dass einer der Täter erschossen worden war. In jedem zweiten Satz berichteten die Medien aber vor allem über die Nähe der Tatorte zur Synagoge. Und rätselten darüber ob der Anschlag es vor allem auf Juden abgesehen habe.
Der Präsident der Wiener Kultusgemeinde, Ossi Deutsch, blieb ruhig und klärte darüber auf, dass die Synagoge schon längst geschlossen und niemand von der Kultusgemeinde zu Schaden gekommen sei. Und dem einen oder anderen Journalisten fiel denn auch auf, dass sich der Anschlag nicht nur in der Umgebung der Synagoge, sondern eben auch mitten im belebtesten Kneipenviertels der Stadt zutrug. Am Abend vor dem Lockdown. Ganz Wien war unterwegs. Und doch war zu spüren, dass viele nur darauf warteten, es zu hören: ein antisemitischer Anschlag, womöglich ein Flüchtling, das Szenario schlechthin. Man wurde das Gefühl nicht los, als würde die Synagoge wie auf einem Silbertablett als Erklärung für das Grauen serviert, dass doch eine schlichte Form hatte. Der oder die Täter hatten offenbar wahllos auf alle Menschen geschossen, die ihnen begegneten. Sie meinten offenkundig: uns alle!
Am heutigen morgen war die traurige Bilanz bekannt. Manches wie erwartet, manches etwas anders, manches ganz anders. Die Opfer: vier Tote, 22 Verletzte, viele von ihnen schwer, darunter ein Polizist. Der Täter: ein Islamist, allein unterwegs, mit Gewehr, Pistole und Machete. Und einem „Sprengstoffgürtel“, der eine Attrappe war. Ein geborener Wiener, mit nordmazedonischen Wurzeln, aufgewachsen in genau der Stadt, der Gesellschaft, der er gestern hasserfüllt, mit seinem Leben vollkommen gescheitert, den Krieg erklärt hat. Für eine tödliche Viertelstunde. Neun Minuten, nachdem der erste Notruf bei der Polizei eingegangen war, war er von Polizisten erschossen, während die Einsatzkräfte, teils in Zivil, noch stundenlang nach potentiellen Mittätern suchten. Und dabei offenbar selbst von alarmierten Bürgern an verschiedenen Stellen der Stadt für Terroristen gehalten wurden und entsprechend Panik auslösten.
Schon 2018 hatte sich der Attentäter, der mit der Schule nicht zurechtkam, mit seiner Familie in Konflikt geraten war und sein Heil in immer radikaleren islamistischen Ideologien suchte, vom IS anwerben lassen. Was ihn statt wie erhofft nach Syrien in Österreich vor Gericht und in den Knast brachte. Auch ein behördliches Deradikalisierungsprogramm hatte, wie wir nun wissen, nicht die gewünschte Wirkung. So weit so schlecht.

Doch statt wie Frankreichs Präsident in seiner Solidaritätsadresse „Europa“ gegen seine äußeren Feinde zu verteidigen, blieb die Rhetorik der österreichischen Politik heute ungewohnt „inklusiv“. Kanzler Kurz schaffte es zur Überraschung vieler, zum ersten mal von „allen Menschen die in Österreich leben“ zu sprechen. Und Innenminister Nehammer hob den „migrantischen Hintergrund“ mancher mutigen Helfer eigens hervor. In der Tat waren es zwei türkischstämmige Kampfsportler, die unter Lebensgefahr zuerst eine alte Frau aus dem Feuer brachten und dann den schwer verletzten Polizisten zum Rettungswagen trugen. Und es war ein junger Palästinenser, der den Polizisten zuvor aus dem Schussfeld des Attentäters in Deckung schleppte und seine Blutung stillte. So wie der Attentäter, war auch der junge Osama und seine Familie schon ein Jahr zuvor Thema in österreichischen Zeitungen. Seine Eltern hatten im niederösterreichischen Weikendorf ein Haus kaufen wollen, und waren monatelang vom dortigen Bürgermeister daran gehindert worden, der nicht noch mehr von „diesen Leuten“ im Ort haben wollte.

Zum erklärten Volkshelden aber wurde jener Wiener unbekannter – man könnte auch sagen: gleich welcher – Herkunft, der dem Attentäter spontan seine Wut hinterherrief. “Schleich di, du Oaschloch!” Das war keine Heldentat, aber auf Wianerisch kaltschnäuzige Weise ehrlich.

Bunker im Herbst

Europäisches Tagebuch, 29.10.2020: Man kann inzwischen Bunkerführungen buchen. Als Museumsmenschen wollen wir uns das natürlich ansehen. Und als Europäer.
In der Schweiz, in Südtirol… überall öffnen Bunker ihre versteckten Eingänge. Interessiert das die Menschen nur, weil es skurril ist. Oder passen die Bunker schon wieder in unsere Zeit? Herbststimmung herrscht überall. Statt auf die Wintersaison warten alle darauf, wie hoch die zweite Welle wird. Alle bunkern sich ein.
Über dem Schweizer Grenzort St. Margrethen, da wo der Alpenrhein in den Bodensee fließt, versteckt sich die ehemalige Festung Heldsberg hinter ein paar Attrappen von Einfamilienhäusern am Berghang. Statt kleinbürgerlicher Idylle warten dort Kanonen und Maschinengewehre hinter den falschen Gardinen. Und kilometerlange Gänge, zwischen Mannschaftsräumen, Feldspital, Kantine und Turbinen für die autonome Stromversorgung. Für zwei Wochen Belagerung sollte das reichen, erklärt uns der Museumsführer.
Im Südtiroler Vinschgau liegen die Bunker auf den grünen Wiesen herum, als hat man vergessen sie abzuholen. Auch hier haben sie sich dem herrschenden Idyll ein wenig angepasst, sind überwuchert, zugewachsen, der Beton blättert ab, bekommt Risse.
Als man in Berlin noch inbrünstig „von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt“ sang, bereitete sich Mussolini darauf vor, dass die Deutschen ernst machen könnten. Und errichtete seine Wacht am Brenner auch unterhalb des Reschenpasses. Aus dem Krieg zwischen Faschisten und Nazis ist dann doch nichts geworden. 1937 verabschiedeten die italienischen Faschisten stattdessen ihre antisemitischen Judengesetze und erwarteten sich bald mehr davon, gemeinsam mit den Nazis auf Welteroberung auszuziehen.
Heute rauscht die Etsch an den Überbleibseln dieses seltenen Beispiels eines irgendwie verpassten Krieges vorbei, als ob nichts gewesen wäre. Vorbei an den Schlachtfeldern des ersten Weltkriegs, der sich zweitausend Meter höher abspielte und tausende von Menschen hier am Ortler vor allem durch Kälte umbrachte. Und auch vorbei an den Wiesen an der Calven, wo lange zuvor, 1499, ein Graubündner Heer die österreichischen Armeen in die Flucht jagte. Die friedliebenden Eidgenossen umgingen die Habsburger und fielen ihnen geschickt in den Rücken. Nachdem ein paar Tausend Soldaten tot waren und die Habsburger Söldner in Panik davon gelaufen waren, massakrierten die Bündner die lokale Bevölkerung. Mit den Versuchen der verhassten Habsburger, in den Gebieten der späteren Schweiz ihren Einfluss zu behalten, war es damit bald ganz vorbei.
Überall wächst hier Gras, fällt buntes Herbstlaub über den Schlachtfeldern, den blutig ausgefochtenen Metzeleien, genauso wie den faschistischen Muskelspielen. Auch die Kanonen hinter den falschen Gardinen in Heldsberg sind nur noch zum Vergnügen der Besucher da, die mit ihnen Zielübungen veranstalten dürfen. Auf Bregenz, Lustenau und Hohenems, jenseits der Grenze. Eine seltsame Beklemmung bleibt nicht aus, wenn der eigene Lebensort so scharf im Zielfernrohr erscheint. Von dort, aus Hohenems oder Bregenz, erwarteten sich die Schweizer ab 1938 einen möglichen Angriff der Deutschen.
Trotz aller nationalistischer Zündelei, trotz aller lähmenden Eigenbrötelei im Umgang mit der Pandemie, trotz aller Überbietung in der neuen Disziplin politischer Kälte, wenn es um Solidarität mit Schutzsuchenden geht: Beim Spazierengehen an der Etsch, zwischen den faschistischen Bunkern und frühneuzeitlichen Schlachtfeldern mag das alles surreal erscheinen. Sozusagen eine optimistische Herbststimmung.

Lew Nussimbaum alias Essad Bey: Ein Grenzgänger zwischen allen Welten

Europäisches Tagebuch, 20.10.2020: Kaum jemand hat so viele Grenzen überschritten wie er, und dies unter vielen verschiedenen Namen. Heute vor 115 Jahren wurde er in Baku oder in Kiew geboren: Lew Abramowitsch Nussimbaum alias Essad Bey alias Kurban Said alias Mohammed Essad-Bey. Sein Vater war ein georgisch-jüdischer Öl-Industrieller, seine Mutter eine russisch-jüdische Revolutionärin, die sich 1911 das Leben nahm. So kümmerte sich eine deutsche Kinderfrau um den jungen Lew, der in Baku das Gymnasium besuchte, bis die Familie vor den Bolschewiken 1918 über das kaspische Meer floh.
Seine Odyssee führte den 15 jährigen Lew 1920 alleine in die deutsche Kolonie Helenendorf in Georgien, von dort über Tiflis, Istanbul, Paris und Rom nach Berlin. 1922 trat Nussimbaum dort zum Islam über, nannte sich fortan Essad Bey und begann sich in der Berliner islamischen Gemeinde zu engagieren. Er studierte Türkisch, Arabisch und islamische Geschichte und wurde mit der literarischen Szene in Berlin bekannt, mit Else Lasker-Schüler, Vladimir Nabokov und Boris Pasternak. Als Journalist schrieb er für deutsche Zeitungen über den “Orient“ und den Islam, und debütierte 1929 mit einem autobiografischen Roman, Öl und Blut, auch als literarischer Autor.

Gedenktafel am Wohnhaus von Essay Bey in Berlin, Fasanenstraße 72. Ohne Erwähnung seiner jüdischen Herkunft…

1932 folgte eine bis heute als Standardwerk geltende Biografie Mohammeds. Seine antikommunistischen Schriften hingegen und die Tatsache, dass seine jüdische Herkunft in Berlin zunächst kein Thema war, verschaffte ihm 1934 auch den Zugang zur Reichsschrifttumskammer. Doch 1936, Essad Bey lebte inzwischen in Wien, erhielt er in Nazi-Deutschland Publikationsverbot. Seinen nächsten Roman, Ali und Nino, veröffentlichte er unter seinem neuen Pseudonym, Kurban Said. Und das Buch wurde auch in Deutschland zu einem großen Erfolg. (Neuauflagen folgten noch in den Jahren 2000 und 2002). 1938 reiste Essad Bey, der inzwischen den italienischen Faschismus verehrte, über die Schweiz nach Italien, vermutlich um eine Mussolini-Biografie zu verfassen. Unter wachsenden physischen Schmerzen erreichte er Positano in Süditalien, wo an ihm die Raynaudsche Krankheit diagnostiziert wurde. Seine deutsche Kinderfrau aus Baku pflegte ihn in seinen letzten Lebensmonaten, in denen er seinen letzten, bislang unveröffentlichten Roman Der Mann, der nichts von der Liebe verstand vollendete. 1942 starb Lew Nussimbaum alias Essad Bey alias Kurban Said in Positano.
Seine verrückte Biografie schrieb der amerikanische Journalist Tom Reiss. Sein Buch The Orientalist. Solving the Mystery of a Strange and Dangerous Life ist in deutscher Übersetzung von Jutta Bretthauer 2008 unter dem Titel Der Orientalist erschienen.

Der Orientalist

Lew Nussimbaums Biografie mag zu den extremsten Beispielen jener Grenzgänge gehören, die viele Juden schon im 19. Jahrhundert zum wachen Interesse am Islam und seiner Geschichte führten – angefangen mit den Vertretern der „Wissenschaft des Judentums“, wie Abraham Geiger, der zu den Begründern der modernen Orientalistik und Islamwissenschaften zählen sollte.

Boykott gegen Boykott

Europäisches Tagebuch, 19.10.2020: Die Folgen des umstrittenen BDS-Beschlusses des Deutschen Bundestages vom Mai 2019 zeichnen sich einmal mehr deutlich ab. Er wird offenbar als Generalvollmacht für Zensur verstanden – und vielleicht war er auch so gemeint. Und so kommt ein absurdes Spiel in Gang, dass nur denjenigen hilft, die kein Interesse an einer Lösung des Konflikts um Israel und Palästina haben. Und denjenigen, die verhindern wollen, dass man darüber überhaupt gemeinsam nachdenken darf.

Aber kurz zum Verständnis. Die vor Jahren in Israel und Palästina gegründete Bewegung “Boycott-Divestment-Sanctions” versteht sich als nicht-gewaltsamer Widerstand gegen die israelische Besatzung in Palästina. Und ist in ihren Methoden ansonsten freilich nicht zimperlich. Sie ruft weltweit zu Boykottaktionen gegen Israel auf. Sie fordert die Beendigung der Besetzung „arabischen Landes“, was ganz bewusst über den Widerstand gegen die Besetzung der Westbank und des Gazastreifens hinausgeht und das Existenzrecht Israels in seiner jetzigen Form als „jüdisch“ definierter Nationalstaat in Frage stellt. Und zugleich fordert sie gleiches Recht für alle Menschen in Israel, was man auch als ein mögliches Angebot begreifen könnte, über einen binationalen Staat Israel zu diskutieren. Wie auch immer, BDS ist und bleibt wohl eine ziemlich unausgegorene, man könnte auch sagen eine ausgesprochen uneinheitliche Bewegung. Für die im Übrigen auch viele Juden und jüdische Israelis Sympathie oder zumindest ein gewisses Verständnis äußern. Angesichts der festgefahrenen Verhältnisse. Und auch dann, wenn man dabei irgendwie ein ungutes Gefühl hat.
Denn der Erfolg von BDS erschöpft sich leider vor allem darin, die Falschen zu treffen. Mangels Durchsetzungskraft an jenen Stellen, wo es Israel weh tun könnte, konzentrieren sich die Aktivisten (vor allem in den USA) immer wieder darauf, Auftritte von israelischen Wissenschaftlern und Künstlern zu skandalisieren, Kooperationen an Universitäten oder von Kulturveranstaltern zu boykottieren. „Cultural Boycott“ wird zwar keineswegs von allen BDS-Aktivisten gutgeheißen, aber mit solchen Aktionen erreicht man natürlich schnell eine große Öffentlichkeit, und das ist verführerisch.
Und man trifft zugleich genau diejenigen, die eigentlich für einen möglichen Dialog gewonnen werden könnten. Was bleibt ist der fahle Beigeschmack, dass viele in der BDS-Bewegung mit ihren kulturellen Boykottaktionen (von denen sich die Führung der Bewegung eh nicht öffentlich distanziert) eben doch jede Auseinandersetzung um gemeinsame Perspektiven torpedieren wollen. Aus welchen Motiven auch immer.

So weit so schlecht. Noch viel “erfolgreicher” (also destruktiver) aber ist der Boykott, der nun in Europa um sich greift. Und sich als „Maßnahmen gegen BDS“ aufspielt. Zu diesen „Maßnahmen“ gehört insbesondere der Entzug von öffentlichen Förderungen für Projekte, ein weites Feld für Willkür aller Art. Denn was ist eine Förderung? Von der Finanzierung von NGOs, Fördergeldern für Kulturveranstalter und Projekten an Hochschulen reicht das bis zur Vermietung öffentlicher Räume. Und wer trifft die Entscheidung darüber? Und was hat das alles noch mit einer liberalen Demokratie und einem Rechtsstaat zu tun? Diese vom Deutschen Bundestag autorisierten „Maßnahmen“ richten sich nun zumeist nicht gegen die BDS-Bewegung selbst, sondern gegen alle Menschen, die irgendjemand, mit welchem Recht auch immer, öffentlich unter den Verdacht gestellt hat, irgendetwas mit BDS zu tun haben. (Dazu reicht auch, irgendwann vor Jahren mal irgendeinen Aufruf mitunterschrieben zu haben…). Wir sind mitten in einer neuen Form von McCarthyismus gelandet. „Sind oder waren sie Mitglied?“ Oder kennen sie jemand?

Ein interessantes Beispiel dafür, wie weit diese absurde Spirale von Boykott und Gegen-Boykott inzwischen gekommen ist, kann man derzeit in Berlin beobachten. Dort setzt sich an der Kunsthochschule Weißensee eine Gruppe jüdischer Israelis seit einem Jahr mit der zionistischen Geschichtserzählung auseinander. Die Sprecherin der Gruppe (School for Unlearning Zionism), die in der Kunsthalle am Hamburger Platz derzeit eine Ausstellung plant, Vorträge, Filmabende und Workshops auf Englisch und Hebräisch veranstaltet, ist Yehudit Yinhar.
Bevor sie nach Berlin zog, um als Meisterschülerin an der Kunsthochschule Weißensee zu studieren, gehörte sie in Israel zu den AktvistInnen der Israelisch-Palästinensischen Friedensbewegung Combatants für Peace, die jedes Jahr ein Tag vor dem israelischen Staatsfeiertag für die Gefallenen, einen gemeinsamen binationalen Gedenktag für die Opfer beider Seiten veranstaltet. Auch wenn die Bewegung vom israelischen Staat massiv behindert wird, nehmen jedes Jahr mehr Menschen an dieser Zeremonie teil, darunter auch bekannte israelische Musikstars, wie Achinoam Nini (kurz „Noa“). Im Mai 2020 waren es schließlich 200.000 Menschen, die aufgrund des Lockdowns diesmal online die Feier verfolgten. Die Combatants for Peace, die zwischen den Fronten nach Auswegen aus dem Konflikt suchen, muss sich regelmäßig harsche Kritik von BDS genauso wie von der israelischen Regierung gefallen lassen. Und natürlich von allerhand Organisationen und Medien, die sich als Aufpasser gegen „Antisemitismus“ gerieren.

So ergeht es jetzt auch dem Projekt an der Kunsthochschule Weißensee. Die jüdisch-israelische Gruppe ist ins Fadenkreuz geraten. Und so organisieren die Gegner von BDS nun einen Boykott gegen jüdische Israelis.
Zunächst hat die regierungsnahe, rechtspopulistische israelische Zeitung Israel Hayom das Projekt skandalisiert. Das Denunziantentum der Zeitung kann mittlerweile jeden treffen. Und manchmal passiert auch nichts. Doch diesmal sind die israelische Botschaft, eine ehemaliger taz-Journalist  und der selbsternannte Vorkämpfer gegen BDS in Deutschland, der ehemalige Bundestagsabgeordnete Volker Beck, sofort auf den Zug gesprungen – und seltsamerweise auch das Berliner Büro des American Jewish Comittee. „Für die Delegitimierung Israels dürfen keine Steuergelder verwendet werden!“ heißt es da. Die NGO Amadeo-Antonio-Stiftung reiht das Projekt der Israelis unter „Antisemitische Vorfälle“.  Und Volker Beck fordert sogar den Entzug „indirekter“ Förderung. Das kann ja vielleicht noch dazu führen, dass kritische Juden und Israelis in Berlin nicht mehr mit der (staatlich geförderten) U-Bahn fahren dürfen. Yehudit Yinhar bringt es in der Berliner Zeitung wohl auf den Punkt: „Eine Gruppe jüdischer Israelis will sich kritisch mit der eigenen Geschichte auseinandersetzen, aber dann kommt der weiße Deutsche und sagt: Nein, das dürft ihr nicht! Als wäre die Definitionsmacht über unsere eigene Geschichte deutscher Besitz. Worauf läuft das hinaus? Werden wir wieder in gute und schlechte Jüdinnen aufgeteilt? Wenn deutsche Institutionen ernsthaft behaupten, dass sie jüdisches Leben in Deutschland schützen wollen und uns dann die Gelder entziehen aufgrund von Verdacht auf Antisemitismus, läuft doch irgendwas ziemlich schief.“

Nun stellen wir uns einmal vor, Donald Trump würde fordern, Projekten an deutschen Hochschulen, die sich kritisch mit der amerikanischen Geschichte beschäftigen (zum Beispiel mit den „Indianerkriegen“), das Geld zu entziehen, mit der Begründung, das „delegitimiere“ die USA. Oder Putin würde verlangen, russische Emigranten in Deutschland dürften sich nicht mehr kritisch mit der Oktoberrevolution beschäftigen. Oder Erdogan würde fordern, dass in deutschen Konzerthallen keine kurdischen Künstler mehr auftreten dürften, die die türkische Politik gegenüber den Kurden thematisieren. (Ach ja richtig, das tut er ja, und bekommt doch eher deutliche Antworten…).

Dem Berliner Projekt wurden inzwischen die Gelder gesperrt und die Website abgeschaltet. In einem Akt von Selbstzensur der Kunstschule, die um ihre zukünftigen Mittel und damit ihre Existenz fürchtet. Willkommen in der “illiberalen Demokratie” von Viktor Orban.

19.10.2019: Das Unterhaus in London stimmt in einer Sondersitzung gegen die sofortige Billigung des neuen Brexit-Vertrages. Boris Johnson ist gezwungen, in Brüssel einen Antrag auf Verlängerung der Brexit-Frist zu stellen. Noch wehrt man sich in Großbritannien gegen einen EU-Austritt um jeden Preis.

Lesbos: Nach dem Feuer kommt das Wasser

Europäisches Tagebuch, 16.10.2020: War da was? Österreich hat „Hilfe vor Ort“ geleistet und 55 Tonnen Zeug irgendwo auf dem griechischen Festland abgeladen. Damit ist das Thema für die Bundesregierung erstmal erledigt.

Die griechische Regierung hat einen kleineren Teil der Flüchtlinge von Lesbos ebenfalls irgendwo auf dem Festland abgeladen, offenbar vor allem jene, die dazu als anerkannte Flüchtlinge ohnehin das Recht hatten, ein Recht, das man ihnen bislang ohne jede Rechtfertigung verweigert hat.
Die übrigen, laut Caritas ca. 7800 Menschen (davon 40% Kinder), sind in einem provisorischen Camp untergebracht, unter Bedingungen, die noch schlimmer sind, als zuvor. Das neue Camp am Meer ist nicht an die lokale Wasserleitung angeschlossen. So gibt es nur Chemie-Klos, die wohl bald den Geist aufgeben. Duschen gibt es nicht, die Bewohner waschen sich im Meer. Und sie leben in Zelten, die weder wind-, wasser- noch winterfest sind, zum Teil ohne Böden. Zelte die, wie der Kurier heute berichtet, in den massiven Regenfällen der letzten Tage, wie Kartenhäuser umgefallen sind. Das Lager ertrinkt inzwischen im Wasser und damit im Matsch.

Nun beginnt der Winter auf Lesbos, und der ist auch dort ziemlich kalt, und nass, und windig. Und genau das soll er ja auch offenkundig sein. Klaus Schwertner von der Caritas in Wien hat sich die Lage vor Ort angeschaut und hat den Eindruck, dass weiter „am Modell Abschreckung gearbeitet“ werde.
Und das wird im Winter wohl Opfer fordern. Bis dahin überlässt man es Organisationen, wie der Caritas, das Schlimmste zu verhüten. Immerhin: die Straßen, auf denen die obdachlosen Flüchtlinge in den Wochen nach dem Brand dahinvegetierten, sind jetzt für den Verkehr wieder geöffnet.

Die Verbrecher, die daran schuld sind, werden sich wohl so bald nicht für Freiheitsberaubung, Körperverletzung und Nötigung verantworten müssen. Wer wird sich trauen, sie vor Gericht zu stellen.

Hannah Arendt: Jüdischer Kosmopolitismus und gebrochener Universalismus

Europäisches Tagebuch, 14.10.2020: Sie war eine der schillerndsten jüdischen Denkerinnen des 20. Jahrhunderts. Heute vor 114 Jahren wurde sie in Hannover geboren: Hannah Arendt.

Als Philosophin wollte sie nicht bezeichnet werden. Sie sah sich als politische Theoretikerin. Und in ihren schonungslosen Analysen politischer Herrschaftssysteme und Ideologien, ihren Beiträge zur Demokratietheorie und zur Pluralität begriff sie sich als Historikerin.
Ihr Studium führte sie durch die deutsche intellektuelle Provinz, nach Marburg, Freiburg und Heidelberg, zu Heidegger (mit dem sie eine später vieldiskutierte Liebesbeziehung hatte), Husserl und Jaspers, mit dem sie vor und nach dem Nationalsozialismus einen bewegenden, freundschaftlichen und widersprüchlichen  Disput über das Verhältnis von Deutschen und Juden austrug. „Für mich ist Deutschland die Muttersprache, die Philosophie und die Dichtung“, schrieb sie Jaspers vor 1933, und betonte zugleich die Notwendigkeit auf Distanz zu bleiben. Mit einem „Deutschen Wesen“ von dem Jaspers so gerne sprach, wollte sie nichts zu tun haben.

So universalistisch sie in politischen Fragen dachte, so sehr verstand sie sich immer selbstbewusst als Jüdin und setzte sich offensiv mit der jüdischen Rolle als Paria der Gesellschaft auseinander.

1933 wurde sie kurzzeitig von der Gestapo inhaftiert. Und fortan galt für sie „Wenn man als Jude angegriffen wird, muss man sich als Jude verteidigen“, wie sie in einem legendären Fernsehinterview durch Günter Gaus im Jahre 1964 trocken bemerkte. Kaum etwas hat sie so sehr belastet wie der Umstand, dass ihr eigenes intellektuelles Umfeld in Deutschland sich mit dem Nationalsozialismus nicht nur arrangierte, sondern wie Heidegger und viele andere sogar offenkundig von der neuen Macht fasziniert war. Niemals zweifelte sie daran, dass solche Entscheidungen in der Verantwortung der Subjekte lagen. Für das tragische Selbstbild vieler Deutscher, die sich nach 1945 in Kategorien von Verstrickung und Untergang eine allenfalls „schuldlose Schuld“ andichteten, hatte sie nur beißenden Spott übrig. Aber auch alle Versuche der Opfer, den Massenverbrechen einen Sinn zu verleihen, waren ihr suspekt. „Auschwitz hätte nie geschehen dürfen“, war ihr bitteres Resumee, das auch hinter ihrem Buch über den Eichmann-Prozess stand, mit dem sie sich heftige Kritik in der jüdischen Öffentlichkeit zuzog.

Doch zuvor hatte sie Flucht, Internierung und Staatenlosigkeit erlebt. 1933 flieht sie nach Frankreich. In Paris gehört sie zum Freundeskreis um Walter Benjamin und den Rechtsanwalt Erich Cohn-Bendit (dem späteren Vater von Dany Cohn-Bendit). 1940 wird sie, mittlerweile staatenlos, in Frankreich als „feindliche Ausländerin“ in Gurs interniert, eine Erfahrung, die sie in ihrem Essay Wir Flüchtlinge verarbeitet. Nach wenigen Wochen gelingt ihr die Flucht aus dem Lager, 1941 kann sie in die USA emigrieren. In ihrem Gepäck hat sie Walter Benjamins letztes Manuskript, seine Thesen über den Begriff der Geschichte, seine Auseinandersetzung mit dem Mythos des Fortschritts und dem wachsenden Trümmerhaufen, auf den der Engel der Geschichte schauen muss, den der Sturm rückwärts in die Zukunft treibt.
Immer eigenständiger argumentiert sie nun als Jüdin für jüdische Selbstverteidigung und nach 1945 engagiert sie sich für die Rettung jüdischer Kulturgüter, deren eigentlicher Ort, die jüdischen Gemeinden Europas vernichtet sind – und die eine neue Verwendung, vor allem in den USA und in Israel finden müssen.
Dem zionistischen Projekt einer territorialen jüdischen Souveränität auf Kosten der ansässigen arabischen Bevölkerung gegenüber behielt sie kritische Distanz – und gemischte Gefühle zwischen Sympathie, Solidarität und politischer Ernüchterung. Als unter der Führung von Menachem Begin jüdische Milizen 1948 die arabische Bevölkerung von Deir Yasin massakrierten, veröffentlichte sie, u.a. gemeinsam mit Albert Einstein, einen flammenden Aufruf für einen Ausgleich mit den Palästinensern. Ihren eigenen Ort sah sie in den USA, einer Gesellschaft, der sie zutraute, universelle bürgerliche Gleichheit und kollektive Rechte auf Zugehörigkeit zu partikularen Identitäten miteinander zu versöhnen. Später äußerte sie in privaten Briefen auch ihre Verbundenheit mit Israel als jüdischem Rückzugsort, in einer Zeit als ihre Enttäuschung über den Fortbestand antisemitischer Ressentiments zunahm.

In den immer intensiveren Auseinandersetzungen um jüdische „Identität“ und Selbstbewusstsein nahm sie öffentlich eine ganz eigene, jüdisch-kosmopolitische Position ein, mit der sie zwischen alle Stühle geriet, wie Natan Sznaider in seinem Buch über den Gedächtnisraum Europa. Die Visionen des europäischen Kosmopolitismus betont. Natan Sznaider wird im Juni 2021 die Europäische Sommeruniversität für Jüdische Studien in Hohenems mit einem Vortrag darüber eröffnen.

Abendland

Europäisches Tagebuch, 13.10.2020: Morgen Abend spricht Micha Brumlik (Berlin) in unserem Programm über die Rede vom “christlich-jüdischen Abendland”. Zur Einstimmung sing André Heller hier seinen ungereimten Chanson über “Abendland”.
André Hellers jüdischer Vater floh vor den Nationalsozialisten und lebte nach 1945 vor allem in Paris. So wuchs Heller auch mit einer französischen Staatsbürgerschaft auf, bevor er in Wien zum Chansonnier wurde.
1967 gehörte er zu den Begründern des Popsenders Ö3 und moderierte die Sendung Musicbox. Sein  politisches Engagement war immer ein Grenzgang. Als ein “in Wien lebender Jude” kritisierte er Kreisky für seine kompromisslerische Haltung zu alten Nazis und Antisemiten, und die israelische Politik gegenüber den Palästinensern, auch wenn ihm das wiederum von einigen Kritikern den Vorwurf eintrug, er “fördere” Antisemitismus. André Heller haben solche giftigen Absurditäten nicht angefochten. Er ist so politisch wach und kritisch geblieben wie von jeher. Als er am 12. März 2018 im Österreichischen Parlament zum Staatsakt zu 80 Jahre “Anschluss” sprach, beendete er seine Rede mit einem Blick auf den neuen Populismus der Eiseskälte, der in die österreichische Politik eingezogen war – und bis heute nicht überwunden ist.

“Erlauben Sie mir Ihnen noch eine Merkwürdigkeit aus meinem Leben zu erzählen. Ich dachte Jahrzehnte lang, ich wäre etwas Besseres als andere. Klüger, begabter, amüsanter, zum Hochmut berechtigt. Ich war arrogant, selbstverliebt, ständig andere bewertend und es tat mir nicht gut, bis ich eines Tages in einem Wagon der Londoner U-Bahn um mich schaute. Da saßen und standen unterschiedlichste Menschen mit unterschiedlichster Hautfarbe und ich hörte unterschiedlichste Sprachen: In einer Art von Blitzschlag in mein Bewusstsein, erkannte ich, dass jede und jeder von diesen Frauen und Männern, alten und jungen, hoffnungsfrohen und verzweifelten, auch ich selbst bin und nicht Deutsch, Englisch, Russisch, Chinesisch, Spanisch, Arabisch oder Swahili unsere wirkliche Muttersprache ist, sondern die Weltmuttersprache ist und sollte das Mitgefühl sein. Es ermöglicht uns in jedem anderen, uns selbst zu erkennen und mit ihm innigst und liebevoll verbunden zu sein und diese Erkenntnis in weiterer Folge in all unseren Gedanken und Taten zu berücksichtigen.”

Hier zum nachlesen der Text von “Abendland”:

Späte Zeit, Dämmerung
Stunde, die Hoffnung, Trauer und Asche trägt
Atemholen, einsam sein
Herbst der Gedanken und letzte Zuflucht für mich
Abendland, Abendland´ich achte und verachte dich
Abendland!

Abendland
Nicht meine Müdigkeit
Sondern die Sehnsucht nach Träumen lässt mich Schlaf suchen
Die bestürzende Möglichkeit der Verwandlungen meiner Figur
In andere Figuren und Schauplätze
In den Von der Vogelweide
Cervantes, Appollinaire und James Joyce
Kinderkreuzzüge, Scheiterhaufen, Guillotinen, Kolonien
Der Ehrlosigkeit, in Hurenböcke auf Heiligem Stuhl
Expeditionen an den Saum des Bewusstseins
Bankrott der guten Vorsätze
Kongresse der zynischen Lachmeister
Marc Aurels “Astronomie der Besinnung”
Die Sturmtaufen Vasco da Gamas
Leonardos Spiegelschrift
Gaudis Anarchie der Gebäude
In Pablo Ruiz Picasso
Der die Wünsche beim Schwanz packte
Den Aufstand im Warschauer Ghetto
Die großen Progrome Armeniens und Spaniens
Parzival, Hamlet, Woyzeck, Raskolnikow
Die Blumen des Bösen
De Sade, Hanswurst und den Mann ohne Eigenschaften

Reisewarnungen

Europäisches Tagebuch, 8.10.2020: Berlin warnt vor Reisen nach Wien und Vorarlberg, München warnt jetzt vor Reisen nach Berlin und vor Berlinern auf Reisen, Wien warnt vor Reisen nach Serbien, Norwegen warnt vor Österreich, die Schweiz warnt vor Reisen nach Wien, Prag ist auf der roten Liste, Frankfurt jetzt auch, und zwischen Frankfurt und Madrid geht gar nichts, obwohl Madrid und Frankfurt beide rot sind. Und Frankreich? Der Westen der Schweiz hat bald die selben Zahlen, aber vor der Schweiz kann man doch nicht warnen. Nach Israel durfte man von Österreich noch reisen, als dort schon der nächste Lockdown beschlossen war. Aber Kroatien ging gar nicht. Tschechien ist hingegen zum Teil noch von Österreich aus zu bereisen, obwohl die Werte dort in die Höhe schnellen? Oder fallen sie gerade wieder? Auch Italien ist im Moment von Österreich aus noch erreichbar. Aber kommt man von dort auch zurück? Und der kleine Grenzverkehr?
Das Regime der Reisewarnungen und Risikoregionen ist nicht mehr zu überblicken. Oder genauer: keiner kennt sich mehr aus.
Wo komme ich mit einem Quarantäne-Test noch hin, oder zum Familienbesuch, oder als Berufspendler. Und überhaupt, was ist ein Berufspendler?

Ist in all den Monaten irgendwann jemand auf die Idee gekommen, man könnte in der EU vielleicht mit einheitlichen Maßnahmen zur Eindämmung von Corona mehr Sicherheit schaffen? Statt nationalen Zehnkampf in Disziplinen zu betreiben, die man inzwischen kennt? Warum müssen die Österreicher die Maskenpflicht abschaffen und die Italiener behalten sie, warum kommen die Wiener jetzt erst darauf, Gäste in Kneipen um Kontaktdaten zu bitten? Das machen die Deutschen schon lange. Warum soll man in Vorarlberg das Trinken um 22.00 nach Hause verlegen? Wäre mit mehr europaweiter Übersichtlichkeit der Maßnahmen auch mehr Klarheit in das Verwirrspiel der Reisewarnungen zu bringen? Oder ist das Chaos in Wirklichkeit ein cleveres System? Nach dem Prinzip: umso mehr Verwirrung, um so weniger Mobilität?

Hans Kelsen: Von der Eleganz und der Widerborstigkeit der Verfassung

Europäisches Tagebuch, 11.10.2020: Nein, Hans Kelsen, der heute vor 139 Jahren in Prag geboren wurde, war nicht der alleinige „Autor“ der österreichischen Verfassung, deren „Eleganz“ in letzter Zeit so oft bemüht worden ist. Aber der aus einer jüdischen Familie stammende Jurist hatte tatsächlich entscheidenden Einfluss auf ihre Ausformulierung. Kelsen studierte in Wien, und konvertierte 1905 erst zum katholischen Glauben, 1912 dann zum Protestantismus. Mit seinem Hauptwerk, der Reinen Rechtslehre gehört er zu den Begründern des Rechtspositivismus, die sich von der sogenannten Naturrechtslehre abzusetzen versuchte. Ein Streit der Laien kaum verständlich war. Schließlich ging auch Kelsen von einer – jenseits der positiven Rechtssetzungen vorhandenen – „Grundnorm“ aus, die er zunächst als “Hypothese”, dann als “Fiktion” bezeichnete. Und die ihn gleichwohl zum erklärten Anhänger von unveräußerlichen Menschenrechten machte.

Hans Kelsen: Büste am Sitz des Wiener Verfassungsgerichtshof

1917 wurde Kelsen Professor in Wien. Zu seinen Schülern gehörte unter anderem Hersch Lauterpacht, der sich vom Rechtspositivismus abwandte und als Anhänger der Naturrechtslehre zu einem der maßgeblichen Völkerrechtsexperten des 20. Jahrhunderts werden sollte – und der maßgeblichen Einfluss auf die Schaffung internationaler Menschenrechtsgerichtsbarkeit nach dem 2. Weltkrieg und dem Holocaust hatte.

Kelsen vertrat schon nach dem 1. Weltkrieg in seinen Arbeiten zum Verfassungsrecht eine Demokratietheorie, die auf dem Respekt und dem Schutz von Minderheitenrechten basierte: „Die für die Demokratie so charakteristische Herrschaft der Majorität unterscheidet sich von jeder anderen Herrschaft dadurch, daß sie eine Opposition — die Minorität — ihrem innersten Wesen nach nicht nur begrifflich voraussetzt, sondern auch politisch anerkennt und in den Grund- und Freiheitsrechten, im Prinzipe der Proportionalität schützt.“ Legendär ist sein Streit mit Carl Schmitt über die Frage ob der Macht des Souveräns oder dem Recht und dem Schutz von Minderheiten der Vorrang in einer demokratischen Gesellschaft gebührt.

Nach seiner entscheidenden Mitwirkung am Bundes-Verfassungsgesetz, dessen 100. Geburtstag vor wenigen Tagen am 1. Oktober 2020 gefeiert wurde, blieb Kelsen Verfassungsrichter der jungen Republik. Und geriet bald ins Visier der nun folgenden konservativen Regierungen. Um die Aufführung von Arthur Schnitzlers Theaterstück „Der Reigen“ sollte es im Februar 1921 in Wien zu einer antisemitisch aufgeladenen Kampagne kommen. Wiens sozialdemokratischer Bürgermeister Reumann weigerte sich das Stück, wie von der christlichsozialen Regierung gefordert, zu verbieten. Auch der Verfassungsgerichtshof entschied unter Kelsen gegen ein Verbot, was wütende Drohungen gegen Kelsen provozierte.
1929 schließlich kam es erneut zum Konflikt, der Kelsens Laufbahn in Österreich beendete. Das Verfassungsgericht hatte die bis dahin im katholischen Österreich verbotene Ehescheidung ermöglicht, indem sie die vom sozialdemokratischen Landeshauptmann Niederösterreichs eingeführte staatliche „Dispens-Ehe“ als rechtens anerkannte. Die christlichsoziale Bundesregierung setzte daraufhin das gesamt Verfassungsreicht per Gesetz ab und ernannte neue Richter.
Kelsen nahm Konrad Adenauers Angebot an, als Professor nach Köln zu wechseln. Doch schon 1933 machte die nationalsozialistische Machtübernahme in Deutschland seinem Wirken in Köln ein Ende. Als einziger seiner Kölner Fachkollegen beteiligte sich Carl Schmitt nicht an einer Petition zu seinen Gunsten.

Kelsen ging nach Genf, und 1936 nach Prag, wo seine Berufung einen Sturm völkisch-antisemitischer Studenten auslöste. 1940 emigrierte er in die USA, und ließ sich in Kalifornien nieder. 1945 ehrte ihn die Österreichische Akademie der Wissenschaften, doch eine Einladung, nach Österreich zurückzukehren ist nie erfolgt. An die Eleganz „seiner“ Verfassung wird gerne erinnert. Doch an den mühsamen Kampf um Minderheitenrechte weniger. Kelsen starb am 19. April 1976 in Orinda, Kalifornien.