Europäisches Tagebuch, 18.5.2021: Der Österreichische Kanzler hat die Fahne wieder eingepackt. Tagelang hing über dem Kanzleramt am Ballhausplatz eine israelische Fahne. Wie es hieß aus “Solidarität mit Israel”, das unter den Terrorangriffen der Hamas leide. Der Kanzler hat dieses Zeichen gegen Bedenken in den eigenen Reihen durchgesetzt. Tatsächlich ging es wohl vor allem um politisches Kleingeld. Auf Kosten der Menschen in Israel und Palästina. Denn wenn es um Solidarität zwischen Sebastian Kurz und Benjamin Netanyahu geht, dann ist von österreichischer Neutralität keine Rede mehr. Auch nicht angesichts eines Bürgerkriegs, in dem beide Seiten tun was sie können, um den Konflikt anzuheizen. Aber eine Seite hat dazu die effizienteren Mittel. Das sollte man dabei nicht ganz vergessen.
Wer sich über die Hintergründe der gegenwärtigen Raketenattacken der Hamas und der Luftangriffe auf den Gaza-Streifen informieren will, wird dabei in europäischen Zeitungen nur sporadisch fündig, und wer es genauer wissen will, muss in die New York Times oder in israelische Zeitungen wie Haaretz schauen. Das ganze Desaster begann sich schon im April abzuzeichnen. So fallen in diesem Jahr gleich mehrere Anlässe für allfällige Provokationen zeitlich zusammen. Die israelischen “Nationalfeiertage”, nicht zuletzt das Heldengedenken am sogenannten Jom Hazikaron, dem Tag der Erinnerung an die gefallenen Soldaten, gingen Hand in Hand mit dem Beginn des Fastenmonats Ramadan.
In den besetzten Palästinensergebieten waren wieder einmal Wahlen angesetzt. Die letzten fanden vor 15 Jahren statt – und auch diesmal wurden sie wieder abgesetzt. Wieder einmal sollten die Palästinenser in Ostjerusalem an den Wahlen nicht teilnehmen dürfen. Und die Fatah fürchtete einen Wahlsieg der Hamas.
Auf der anderen Seite musste Benjamin Netanyahu fürchten, dass sich tatsächlich eine Koalition gegen ihn formieren könnte. Allein das reichte schon, um mit Dynamit zu spielen. Und das war im April reichlich vorhanden. Von der Weltöffentlichkeit unbemerkt hatte dieses neue Drama, wenn man nach einem symbolischen Turning Point sucht, wohl am Abend des 13. April begonnen. Die Gedenkfeier zum Jom Hazikaron soll wieder einmal an der Klagemauer stattfinden. Doch es ist auch der erste Tag von Ramadan, der höchste muslimische Feiertag. Und israelische Soldaten stürmen die Al Aqsa Moschee, um dem Vorbeter und seinem Mikrophon den Saft abzudrehen. Es gibt Prioritäten.
Zur gleichen Zeit kämpfen sechs arabische Familien in Ost-Jersualem gegen ihre Ausweisung aus ihren Wohnungen in Sheikh Jarrah. Die Häuser in denen sie leben, sind juristisch umstritten, seit dem es jüdischen Jerusalemern nach 1967 möglich ist, ihren 1948 durch die Vertreibung aus Ost-Jerusalem verlorenen Immobilienbesitz wieder zu reklamieren, während es umgekehrt für arabische Vertriebene aus dem Westen der Stadt bis heute keine Chance für eine Rückgabe ihres verlorenen Besitzes gibt. Noch steht die Entscheidung des Höchstgerichts über den akuten Fall aus.
Die Proteste gegen die Ausweisung begannen im April Fahrt aufzunehmen. Und wenige Tage nach dem ersten Zwischenfall auf dem Tempelberg, für die Araber der Haram al-Sharif, lässt die israelische Regierung den Platz am Damaskustor sperren, dem wichtigsten Zugang für die Muslime der Stadt zur Altstadt und ihren wichtigsten Moscheen, all dies während des Ramadan. Und es kommt zu immer brutaleren Polizeieinsätzen gegen die Proteste. In Sheikh Jarrah genauso wie auf dem Tempelberg. Blendgranaten werden eingesetzt, auch auf dem Gelände der Al Aqsa Moschee, und dementsprechend kommt es zu Schwerverletzten. Angriffe von Arabern auf Juden heizen die Stimmung weiter auf, und schon am 21. April ziehen hunderte von israelischen Rechtsextremen der Gruppe “Lehava” durch die Altstadt, skandieren “Tod den Arabern” und greifen wahllos arabische Passanten an.
Die Hamas lässt nicht lange darauf warten, diese Eskalation zu nutzen, um sich als die wahren Verteidiger palästinensischer Interessen in den Vordergrund zu spielen. Während die Behörde des Haram al-Sharif und die Palästinenserregierung von Abbas als ohnmächtige Pappkameraden dastehen, lassen die Hamas ihre Raketenarsenale los. Siebenundzwanzig Tage nach der Provokation vom 13. April.
Inzwischen ist freilich noch etwas anderes geschehen. Aus dem Zusammenleben von jüdischen und arabischen Israelis in den gemischten Städten Haifa und Akko, Jaffa und Lydda sind bürgerkriegsähnliche Verhältnisse geworden. Lange Zeit hat man der Weltöffentlichkeit vorgespielt, dass dort ein harmonisches Zusammenleben des “jüdischen Staates und seiner Minderheiten” möglich sei. Und wer guten Willens war, auf beiden Seiten, hat alles dafür getan, dass diese Möglichkeit so gut es ging, auch gelebt wurde, allen Widerständen und Diskriminierungen, Unkenrufen und Warnsignalen zum Trotz. Nun brennen Moscheen und Synagogen, arabische und jüdische Häuser. Bewaffnete Gangs ziehen durch die Straßen und verbreiten Pogromstimmung. Aber auch in diesem Konflikt macht die Regierung deutlich, wer der Stärkere ist, und wer den Schutz der Staatsmacht tatsächlich in aller Konsequenz genießt. Auch, wenn viele Polizisten tatsächlich versuchen, die Gewalt rechtsradikaler jüdischer Mobs ebenso einzudämmen und nicht nur gegen Araber vorzugehen. Die offizielle Rhetorik hingegen weiß genau, wer und was gemeint ist, wenn von “Pogromen” die Rede ist. Nur die eine Seite. Und die israelische Regierung und ihre Freunde, in Europa und den USA, sie schütten damit fortwährend Öl ins Feuer.
Während am Wiener Kanzleramt, genauso wie an manchen deutschen Rathäusern und Regierungsgebäuden die israelische Fahne weht, versucht internationale Diplomatie beide Seiten zur Beendigung der Gewalt zu bewegen. Aber die israelische Regierung hat keinen Plan, außer den, an der Macht zu bleiben, und einen “Sturz” von Netanyahu zu verhindern. Und solange geht das Bombardement gegen den Gaza-Streifen ungehemmt und ziellos weiter. Während die Hamas “ihr” Kriegsziel längst erreicht hat. Sie haben symbolisch schon gesiegt, egal, wieviele Häuser in Gaza Netanyahu noch in Schutt und Asche legen lässt, egal, wie viele Zivilisten auf beiden Seiten daran glauben müssen. Es werden auf palästinensischer Seite in jedem Fall sehr viel mehr sein als auf israelischer und auch damit können die Scharfmacher auf beiden Seiten gut leben.
Und noch etwas bleibt inmitten dieser absurden und zugleich absolut erwartbaren Gewaltspirale sichtbar. Zum ersten Mal haben tatsächlich sowohl Netanyahu als auch seine Gegner etwas bislang vollkommen unmögliches in ihre Kalkulation aufgenommen, eine neue Hypothese: Keiner der beiden Lager, kann mehr ohne einen Partner aus dem Kreis der arabischen Parteien regieren. Und keiner hat diese Möglichkeit mehr ausgeschlossen. Inmitten des Wahnsinns eine vollkommen paradoxe, winzige Option auf Normalität, eines Staates, der entweder irgendwann einmal ein gemeinsamer Staat seiner jüdischen und nicht-jüdischen Bürgerinnen und Bürger sein wird. Oder am Ende gar kein Staat mehr sein wird.
Rückblick, 18.5.2020: EU-Außenbeauftragter Josep Borrell gratuliert der neuen israelischen Regierung und warnt sie zugleich im Namen der Europäischen Union davor, Teile des besetzten Westjordanlandes zu annektieren. Die Koalitionsvereinbarung der neuen israelischen Regierung unter Benjamin Netanjahu und seinem Rivalen Benny Gantz sieht vor, „die Souveränität Israels“ auf Teile des Westjordanlandes „auszudehnen“. Die EU halte daran fest, dass die EU keine Änderung der Grenzen vor 1967 ohne beiderseitige Zustimmung von Israelis und Palästinenser anerkennen würde, und eine einseitige Annexion internationales Recht verletzen würde.
Zwei der 27 EU-Staaten ihre Zustimmung zur Erklärung des EU-Außenbeauftragten verweigert haben. Die antisemitische Regierung Orban in Budapest und die österreichische Bundesregierung. Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn bedauert das Ausscheren der beiden Staaten. Das österreichische Außenministerium verweist auf eine Erklärung von Außenminister Schallenberg, dass Österreich eine „Vorverurteilung“ Israels ablehne. Man werde die israelische Regierung „an ihren Taten messen“.