Der „Größte Friedensplan Aller Zeiten“

Europäisches Tagebuch, 30.1.2020: Fünf Tage nach dem grandios inszenierten Holocaust-Gedenken in Yad Vashem zum 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz standen der amerikanische Präsident und der israelische Ministerpräsident, nun im Weißen Haus in Washington, vorgestern erneut gemeinsam vor den Kameras und verkündeten den „größten Friedensplan aller Zeiten“.
„Ich bin nicht gewählt worden, um mich mit Kleinigkeiten abzugeben oder großen Problemen auszuweichen“, sagt Donald Trump und präsentiert, nach eigenen Worten, die „letzte Hoffnung der Palästinenser auf einen eigenen Staat“. Auf 80 Seiten hat sein Schwiegersohn Jared Kushner diesen „eigenen Staat“ detailliert zu Papier gebracht. Ein „Win-Win“ wie Trump und Netanjahu überzeugt sind. Was zweifellos ihre eigenen Hoffnungen darauf widerspiegelt ihre bevorstehenden Wahlen in diesem Jahr zu gewinnen.

Die präsentierten Karten zeigen allerdings etwas, das nicht einmal mit größter Fantasie als „palästinensischer Staat“ identifiziert werden könnte.  Der „größte Friedensplan aller Zeiten“ weist den Palästinensern einen Flickenteppich von Reservaten zu, die von israelischen Straßen und Gebietsstreifen durchzogen wird. Diese Reservate im Westjordanland und in der Negev-Wüste sollen zugleich durch Straßen, Brücken und Tunnels miteinander verbunden werden und durch checkpoints voneinander getrennt bleiben. Das Jordantal soll vollständig von Israel annektiert werden. Innerhalb des „palästinensischen Staates“ sollen israelische Enklaven direkt unter militärischer Kontrolle Israels bleiben, während der „palästinensische Staat“ demilitarisiert, also weiterhin indirekt unter militärischer Kontrolle Israel verbleibt.

Jerusalem soll vollständig israelisches Staatsgebiet werden, während dem „palästinensischen Staat“ eine symbolische Hauptstadt innerhalb Jerusalem zugestanden werden soll. Was auch immer das sein mag. Vermutlich ein Büro.

Der Vergleich mit der südafrikanischen Erfindung der „Bantustans“ drängt sich irgendwie auf.

Dafür sollen „die Palästinenser“ dafür 50 Milliarden Dollar Aufbauhilfe bekommen. Die Baukosten für die Tunnels, Brücken und Straßen, die jederzeit von Israel zugesperrt werden können, dürften ungefähr so viel betragen.

Natürlich hat dieser Friedensplan keinerlei Chancen auf Realisierung. Jedenfalls nicht als “Friedensplan”. Als Blaupause für weitere Annexionen und für den weiteren Bau von Mauern, israelischen Straßen und Checkpoints in der Westbank vermutlich schon. Aber auch die einseitige Annexion des Jordantales, von der israelischen Rechten schon lange gefordert, bereitet selbst Netanjahu durchaus Bauchschmerzen. Denn mit einem hat Trump Recht. Nach diesem Friedensplan ist es mit den Hoffnungen der Palästinenser auf einen „eigenen Staat“ tatsächlich für jeden ersichtlich aus und vorbei.

Nur redet man nicht gerne darüber, was das heißt.

Schon gar nicht die Europäische Union, die nicht zur Kenntnis nehmen will, dass die „Zwei-Staaten-Lösung“ schon lange mausetot ist und nur noch auf ein Begräbnis dritter Klasse wartet. EU-Außenbeauftragter Joseph Borrel mag zum „größten Friedensplan“ selbst gar nichts sagen. Und dieses Nichts klingt so: Die EU stehe „fest und einig“ hinter einer zwischen Israel und den Palästinensern „verhandelten und realisierbaren Zweistaatenlösung“. Aha.

Was bleibt nach dem Trumpschen Friedensplan und dem Ende der Zwei-Staaten-Illusion? Die schleichende Verwandlung Israels in einen Apartheid-Staat oder die Vertreibung der Palästinenser? Die freilich wohl auf einen Krieg hinauslaufen würde. Die Träume palästinensischer Radikaler von der Vernichtung Israels hingegen, sie bleiben – angesichts von Israels realer militärischer Stärke – eine Fantasie der Propaganda. Nützlich für die Falken auf beiden Seiten. “Nur ein paar Spinner“ wollen hingegen über das einzige Reden, über das es sich im Grunde jetzt noch zu reden lohnt: über die Frage, wie man zu einen gemeinsamen Staat zwischen dem Jordan und dem Meer kommen kann, der die Rechte aller Bürgerinnen und Bürger schützt.

Ach ja, und natürlich haben sich auch der österreichische Kanzler und sein Schallenberg geäußert. „Wir begrüßen, dass sich die USA und Präsident Trump in einem der schwierigsten Konflikte der internationalen Politik mit konkreten Vorschlägen einbringen.“ Aha.

Hier ein paar Versuche, den “GröFaZ”  grafisch darzustellen. Eine echte Herausforderung für Geografen.

“Offizielle” Karte der Trump Administration

noch ein Versuch. Quelle: Monde Diplomatique

und noch ein Versuch. Quelle: Die Zeit

Und noch ein Versuch. Quelle: Die Welt

Party, Politik und Gedenken (Sex, Lies and Videotapes)

Europäisches Tagebuch, 27.1.2020: Heute jährt sich der Tag der Befreiung von Auschwitz zum 75. mal. Primo Levi, der das Lager überlebte, hat diese „Befreiung“ immer nur in Anführungsstrichen beschreiben können. Vier Soldaten der Roten Armee waren die ersten Menschen aus der Welt „draußen“ die ihm am 27. Januar 1945 begegneten.

„Sie erschienen uns, als hätte das vom Tod erfüllte Nichts, in dem wir seit zehn Tagen wie erloschene Sterne kreisten, ein festes Zentrum bekommen, einen Kondensationskern, und so war es wohl auch: vier bewaffnete Männer, aber nicht gegen uns bewaffnet: vier Friedensboten mit bäuerischen, kindlichen Gesichtern unter den schweren Pelzmützen.“ Beim Anblick der Überlebenden des Lagers erstarrten sie. „Es war die gleiche wohlbekannte Scham, die uns nach den Selektionen und immer dann überkam, wenn wir Zeuge einer Misshandlung sein oder sie selbst erdulden mussten: jene Scham, die die Deutschen nicht kannten, die der Gerechte empfindet vor einer Schuld, die ein anderer auf sich lädt und die ihn quält, weil sie existiert, weil sie unwiderruflich in die Welt der existenten Dinge eingebracht ist und weil sein guter Wille nichts oder nicht viel gilt und ohnmächtig ist, sie zu verhindern.“ Diese Scham hat auch Primo Levi den Rest seines Lebens begleitet.

Als sich – schon vor vier Tagen – zur Feier des 75. Jahrestages der Befreiung von Auschwitz 50 Staatsoberhäupter in Jerusalem in der Gedenkstätte Yad Vashem trafen, ein Tag nach einer für die Gäste veranstalteten Cocktailparty des Jerusalemer Bürgermeisters, war von dieser Scham nichts, aber auch rein gar nichts zu spüren. Nur politisches Kalkül.
Der israelische Premier und der amerikanische Vize-Präsident nutzen das “World Holocaust Forum”, um den Iran zum größten Feind der Menschheit zu erklären. Der russische Präsident, Freund des iranischen Regimes und zugleich der israelischen Gastgeber, nutzte den Tag um seine Großmacht zum Retter der Menschheit zu erklären. Der polnische Präsident nutzte die Gelegenheit, beleidigt zu Hause zu bleiben, nachdem die Polen zuvor aus Moskau ausgerichtet bekommen haben, am Zweiten Weltkrieg schuld gewesen zu sein.
Für die letzten Überlebenden des Holocaust interessierte sich kaum jemand. Von ihnen bleiben Videoaufnahmen im Archiv.

PS: Im Jüdischen Museum Hohenems kann man sich manche davon ansehen und darüber reflektieren, was von dieser Erbschaft übrig bleibt. Die Ausstellung “Ende der Zeitzeugenschaft?” wird noch weiter wandern, nach Flossenbürg und München, Augsburg, Berlin, Wien und Frankfurt.

Ein Blick in die Ausstellung Ende der Zeitzeugenschaft? Foto: Dietmar Walser

 

Bruno Kreisky: oder der Mut des Unvollendeten

Europäisches Tagebuch, 22.1.2021: Heute vor 110 Jahren wurde Bruno Kreisky in Wien geboren. Bis heute polarisiert die Erinnerung an den wohl populärsten Bundeskanzler der Republik, ein Kanzler der zugleich alles andere als ein typischer Politiker Österreichs war. Gerade seine politischen Gegner ließen daran keinen Zweifel aufkommen. 1970 kandidierte ÖVP-Bundeskanzler Josef Klaus mit der Parole „Ein echter Österreicher“. Womit, so das Kalkül, über den Juden und Emigranten Kreisky eh schon alles gesagt wäre. Aber Bruno Kreisky führte die SPÖ zur relativen Mehrheit von 48,5 %. Und nach einem auch unter seinen Freunden höchst umstrittenen Zwischenspiel eines Kabinetts mit Duldung durch die FPÖ erreichte die SPÖ dreimal hintereinander mit Kreisky eine absolute Mehrheit. Lang ist‘s her, möchte man sagen.

Bruno Kreisky
Foto: Konrad Rufus Müller / Quelle: Kreisky Forum für Internationalen Dialog

Kreisky hatte keine Skrupel auch mit ehemaligen Nationalsozialisten zusammenzuarbeiten. Und zwar gerade weil er sich nicht sagen lassen wollte: er würde als Jude Politik machen. Kreisky war vor allem eines, ein europäischer Politiker und die eigene Erfahrung von Verfolgung und Exil hatte ihn seinen eigenen österreichischen Patriotismus gelehrt: der darin bestand, kein Nationalist sein zu wollen. Und schon gar kein jüdischer Nationalist.
Das sollte ihn schließlich noch in eine Auseinandersetzung treiben, in der weder sein Gegner noch er selbst irgendwelchen Ruhm ernten konnten. Seine erbitterte Fehde mit dem erzkonservativen Nazi-Jäger Simon Wiesenthal steht bis heute wie ein erratischer Block in der österreichischen Erinnerungslandschaft.
Simon Wiesenthal, dessen gute Beziehungen zur ÖVP kein bisschen vom traditionellen Antisemitismus der Christlichsozialen getrübt war, skandalisierte genüsslich Kreiskys Hemmungslosigkeit, mit „Ehemaligen“, also früheren Nazis zusammenzuarbeiten, ob solchen in der FPÖ oder erst Recht in der SPÖ. Vier der dreizehn Minister von Kreiskys sozialdemokratischem Kabinett 1970 hatten der NSDAP angehört. Und FPÖ-Chef Friedrich Peter, mit dem Kreisky 1975 eine Koalition erwog, war in einer SS-Terroreinheit aktiv gewesen, was Wiesenthal ebenfalls gezielt an die Öffentlichkeit brachte.
Kreiskys darauffolgende untergriffige Ausfälle gegen Wiesenthal („Nazi-Kollaborateur“) sind legendär. Österreich konnte dabei zuschauen, wie zwei Juden sich öffentlich an die Gurgel gingen. Aber hinter dem Streit stand keineswegs nur Kreiskys politisches Kalkül, sich bei Teilen der Wählerschaft anzudienen. Dahinter stand – mehr oder weniger unausgesprochen – die Auseinandersetzung über jüdische Erfahrungen aus denen Wiesenthal und Kreisky diametral entgegengesetzte Schlüsse gezogen hatten.
Kreiskys traumatische Erfahrungen begannen nicht erst 1938 mit dem Nationalsozialismus, sondern im österreichischen Faschismus des Ständestaats. 1936 wurde der junge Sozialist Kreisky zu Kerkerhaft verurteilt. Er hatte allen Grund, den politischen Nachkommen der Austrofaschisten ebenso zu misstrauen, wie den Nationalsozialisten, die ihn 1938 ins Exil trieben. Kreisky überlebte in Schweden und lernte dort auch den aus Deutschland emigrierten Willy Brandt kennen – der Beginn einer lebenslangen Freundschaft.

Kreisky blieb ein passionierter Europäer, dem Zionismus konnte er nichts abgewinnen. Für ihn war es keine Frage, am Aufbau eines demokratischen Österreichs nach 1945 mitzuwirken. Seine vier Kanzlerschaften waren geprägt von Reforminitiativen in der Sozialpolitik wie in der Bildungspolitik, genauso wie im Familien- und Strafrecht – und wie bei so vielen Sozialdemokraten von einem Vertrauen in den technischen Fortschritt, das ihn auch blind sein ließ für die neuen Fragen, die mit der Auseinandersetzung um das Atomkraftwerk Zwentendorf auf die Tagesordnung kamen. Auch die Niederlage bei der Volksabstimmung hinderte ihn jedoch nicht, 1979 zum vierten Mal die Wahlen zu gewinnen.

Während Wiesenthal Israel als „jüdischen Staat“ zum Kern seiner eigenen Identität in Österreich machte, versuchte Kreisky im Nah-Ost Konflikt zu vermitteln. Was ihn in Widersprüche verwickelte. Er pflegte Beziehungen zu arabischen Politikern wie Sadat und Gaddafi, und verhandelte mit Moskau diskret über die Freilassung jüdischer Sowjetbürger, die nach Israel emigrieren wollten.
Was Kreisky am besten beherrschte, war die Kunst, mit der Öffentlichkeit zu spielen. Seine Pressekonferenzen sind unvergessen. Nicht unbedingt, worum es dabei jeweils ging. Aber der Stil war ein neuer. Statt Verlautbarungen gab es Kommunikation.

„Ich lege keinen Wert auf Kränze, die die Nachwelt mir flicht. Ich lege keinen Wert auf Denkmäler. Was ich aber gerne hätte, wäre wenn einmal die Periode, in der ich die politischen Verhältnisse in Österreich beeinflussen konnte, als eine Periode der Einleitung großer Reformen betrachtet wird, die ihre gesellschaftlichen Spuren hinterlassen und eine Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse gebracht haben. Nichts wäre grauslicher als der Gedanke, nur administriert zu haben.“

Vieles von dem, was Kreisky in Gang bringen wollte, wartet noch immer darauf.

Willy Brandt, Weggefährte Kreiskys über fünfzig Jahre, hielt auf dem Wiener Zentralfriedhof die Grabrede für ihn. „Lebewohl, mein lieber, mein schwieriger Freund.“

Heute Abend um 19.00 richtet das Kreisky Forum für Internationalen Dialog in Wien eine Online-Veranstaltung zur Erinnerung an Österreichs schillerndsten Politiker aus, der wie kein anderer auf dem „Mut zum Unvollendeten“ beharrte, gegen jede Doktrin und trotzdem mit Liebe zur Theorie, gegen totalitäre Dogmatik und trotzdem für Veränderung.

Cornelius Obonya liest den Festvortrag von Franz Schuh.

https://www.facebook.com/events/235706531431776/?source=6&ref_notif_type=plan_user_invited&action_history=null

 

Impfstrategien und Medienstrategien

Europäisches Tagebuch, 21.1.2021: Während im Land über Impfstrategien gestritten wird und darüber ob man sich als Politiker vordrängeln darf, warum Impfdosen liegen bleiben, die man eigentlich verimpfen könnte, und warum erst jetzt Software verfügbar ist, um sich anzumelden, versucht Kanzler Kurz wieder die Lufthoheit über die Debatte zurückzugewinnen. Gemeinsam mit einigen Staatschefs, die ebenfalls gerade so manche Probleme haben (Tschechien, Griechenland, Dänemark), fordert er mit einigem Applomb, dass die EU „endlich“ den Impfstoff von Astra-Zeneca zulassen soll. „Jeder Tag zählt, um Leben zu retten.“„Unbürokratische Entscheidungen“ fordert er, dass passt ja gegenüber der EU immer. Und ohne die Wortmeldung aus Wien würde die Behörde und die EU-Kommission vermutlich schlafen. So jedenfalls soll es rüberkommen. Da schaut man doch, im richtigen Augenblick seine eigene Pressemeldung platzieren zu können, so dass man seine Muskeln ins Rampenlicht bekommt, wenn gerade niemand anderes dort steht.

Nun ja, es geht um einen Impfstoff, für den der Hersteller in der EU erst vor wenigen Tagen überhaupt die Zulassung beantragt hat, und dessen Wirksamkeit noch nicht so klar belegt ist, wie bei den schon zugelassenen Konkurrenzprodukten. Ein Wirkstoff, der – so der Hersteller Astra Zeneca – gerade nochmal überarbeitet werden soll, damit er gegen die neuen Virus-Mutationen auch hilft. Und von dem noch nicht so ganz klar ist, wieviele Monate man für die zweite Dosis warten soll, damit die optimale Wirkung erzielt wird. Da hilft es ungemein, wenn der österreichische Kanzler zur Eile mahnt. Auch wenn es in der Tat allen Grund dazu gibt.

Unterdessen zählt Großbritannien derzeit weltweit die höchste Todesrate in Relation zur Bevölkerung. In wenigen Tagen wird Großbritannien das erste Land Europas sein, das mehr als 100.000 Tote zu beklagen hat. In den USA wurde vor wenigen Tagen die Schwelle von 400.000 überschritten. Auch in Deutschland nehmen die Todesfälle nun dramatisch zu. Und in Österreich wollen sie seit dem Jahresbeginn nicht nennenswert heruntergehen. Weltweit sind inzwischen mehr als 2 Millionen Menschen an Covid 19 verstorben.
In Israel, dem Land das wieder einmal als Vorzeigeobjekt dient, nun für eine schnelle Impfkampagne, sind gestern die meisten Menschen seit dem Beginn der Pandemie vor einem Jahr verstorben. Dass Israel von Biontech-Pfizer am großzügigsten mit Impfstoff versorgt wird, hat einen einfachen Grund. Das kleine Land öffnet seine Gesundheitsdaten dem Hersteller für den bislang größten Massentest eines Impfstoffes. Die besetzten Gebiete warten hingegen auf russischen Sputnik V. Wohl vergeblich. Hinter den Kulissen laufen jetzt aber offenbar doch Verhandlungen darüber, ob Israel seine rechtlichen Verpflichtungen gegenüber Menschen in besetzten Gebieten nun wahrnimmt oder nicht. Die Palästinensische Verwaltung, ohnehin nur für die Gebiete der Zone A verantwortlich, will auch nicht öffentlich darum betteln, das würde ja die eigenen Ansprüche auf Autonomie (und Förderungen) in Frage stellen. Die Leidtragenden sind in jedem Fall die Palästinenser, egal ob sie in den Gebieten mit hilflos agierender palästinensischer Verwaltung leben, oder in jenen, die eh vom israelischen Militär kontrolliert werden.

Europäisches Tagebuch, 21.1.2020: Vor einer Woche hat die WHO noch mitgeteilt mit, dass „vorläufige Untersuchungen der chinesischen Behörden (…) keinen klaren Beweis dafür ergeben, dass sich das neue Coronavirus durch Mensch-zu-Mensch-Übertragung verbreitet.“ Dabei besteht schon seit Wochen genau dieser Verdacht. Die chinesischen Behörden haben nun gestern erstmals öffentlich bestätigt, dass sich Sars-CoV 2 tatsächlich durch Übertragung von Mensch zu Mensch ausbreitet. Die Abriegelung von Wuhan beginnt. Bei seinem China-Besuch lobt WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus das Land, es setze „einen neuen Standard für die Reaktion auf einen Krankheitsausbruch“.

 

Das österreichische Weihnachtswunder

Europäisches Tagebuch, 20.1.2021: Pünktlich zu Weihnachten hat Österreichs Minister für Heimatschutz das Weihnachtswunder verkündet. „Hilfe für Ort“ zumindest für Kinder soll es im neuen Flüchtlingslager Kara Tepe auf Lesbos geben: eine Tagesbetreuung, organisiert vom SOS-Kinderdorf. Abends sollen die Kinder dann wieder zurück in ihre unbeheizten Zelte, wo sie auf dem gefrorenen Boden zwischen den Ratten schlafen dürfen.
Aber so ein Weihnachtswunder braucht Zeit. Zwar wurde an „Heilig Abend“ von den griechischen Behörden grundsätzlich die Genehmigung erteilt. Aber bislang dürfen die Mitarbeiter von SOS-Kinderdorf noch nicht einmal zu einer Vorbesichtigung des Lagers kommen. Entweder ist das Wetter zu schlecht, oder auf Lesbos gerade Corona ausgebrochen, oder der Flughafen gesperrt. Irgendwie passt es immer gerade nicht. Wahrscheinlich sieht es im Lager auch im Moment nicht so schön aus. Für die werten Gäste aus Österreich will man doch vorher aufräumen. Aber wie soll das gerade gehen?

Und überhaupt, ist nicht in elf Monaten schon wieder Weihnachten?

Elisabeth Hauser, Geschäftsführerin von SOS-Kinderdorf versucht noch immer die Fassung zu bewahren. Das generöse Angebot der österreichischen Bundesregierung verlangt ihr einen schmerzhaften Spagat ab. Und inzwischen spricht sie doch Klartext. Lieber würde man die Kinder in Österreich betreuen. Denn was in Griechenland mit ihnen passiert widerspräche allen Kinderrechten. Die Zustände seien verheerend.

Diese Zustände sind kein Naturereignis, sondern Verbrechen. Von Menschen gemacht, deren Namen wir kennen.

Irgendwann ist Corona vorbei. Und spätestens dann wird darüber zu reden sein.

Die “Paneuropäische Universität” des Dr. Hokuspokus

Europäisches Tagebuch, 17.1.2021: Der Rücktritt der österreichischen Arbeitsministerin Christine Aschbacher erfolgte nach weniger als einer Woche. Anfang Januar flog auf, dass ihre Diplomarbeit an der Fachhochschule Wiener Neustadt 2006 zu einem großen Teil aus Plagiaten bestand – und dort, wo sie etwas selbst geschrieben hatte, nicht selten aus Nonsens. Auch ihre schon mit Ministerinnenwürden 2020 an der Technischen Universität Bratislava im Fach „Maschinenbau“ eingereichte Dissertation „Entwurf eines Führungsstils für Innovative Unternehmen“ enthält, so stellt der „Plagiatsjäger“ Stefan Weber mit der üblichen Software der Uni Wien fest, über 20 % Abgeschriebenes ohne Nachweis. Und jede Menge Realsatire, die sich von selbst ergibt, wenn man englische Zitate vor Jahren mit dem damals noch ziemlich unbeholfenen „Google-Translate“ übersetzt und seitdem nicht korrigiert hat.

Die Universität in Bratislava und ihre Gutachter, die bislang nicht durch Deutschkenntnisse aufgefallen sind, fühlt sich ganz zu Unrecht am Pranger. Schließlich habe man mit der offiziellen Plagiatssoftware der Slowakischen Hochschulen nur 1,15% Plagiate feststellen können. Diese Software kennt kaum deutschsprachige Quellen. So ist denn der Dr. Bratislava mittlerweile ein geflügeltes Wort.

Frau Aschbacher war sich selbstverständlich keines Verschuldens bewusst, beklagte die „Vorverurteilungen“ und erklärte, sie habe nach „bestem Wissen und Gewissen“ gehandelt. Und dann ging es mit dem Rücktritt doch ganz schnell. „Ihre Familie solle nicht leiden…“ und so weiter. Aber es ist wohl wahrscheinlicher, dass Kanzler Kurz sie aus der Schusslinie nehmen musste, bevor noch unangenehmere Fragen gestellt würden. Zum Beispiel wer eigentlich der Arbeitsministerin den Deal mit der slowakischen Fakultät für „Maschinenbau“ vermittelt hat. Und überhaupt: Fragen danach, wie Österreicherinnen und Österreicher aus Politik und Wirtschaft zu ihren akademischen Titeln kommen, und deren Promotoren zu Ehrungen durch Politik und Wirtschaft. Niemand weiß, wer Frau Aschbacher beraten hat.

Vor wenigen Tagen war im ORF die Stimme eines in solchen Kreisen wohlbekannten Experten zu hören: „Univ.-Prof. Dr.h.c. Dr.“ Peter Linnert, der Ende 2015 von ÖVP-Staatssekretär Harald Mahrer (heute Wirtschaftskammerpräsident) das Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst 1. Klasse verliehen bekam. Und zwar in seiner Eigenschaft als Rektor der „Goethe Universität Bratislava“.
Die von Linnert gegründete Privatuniversität ist längst Geschichte. Schon einen Tag vor der Ordensverleihung in Wien am 16. Dezember 2015 wurde sie – nach langen öffentlichen Diskussionen über eklatante Missstände – wegen erheblicher „Mängel im Studienprogramm“ von der slowakischen Regierung geschlossen.

Harald Mahrer verleiht Peter Linnert das Ehrenkreuz 1. Klasse, Foto: Willibald Haslinger

Aber das tat der erfolgreichen Tätigkeit des nunmehrigen Ehrenkreuzträgers in Wien keinen Abbruch. Linnert leitet bis heute das 2003 gegründete „Studienzentrum Hohe Warte“ in Wien und die damit verbundene „Sales Manager Akademie“. Das Programm besteht aus der Vermittlung von akademischen Graden an derzeit vier osteuropäischen Privatuniversitäten in Bratislava, Warschau und Belgrad, die mit klangvollen Namen um Kundschaft werben und sich mit “Europa” schmücken.
Für 30.000,- € kann man sich aussuchen, ob man an der „Paneuropäischen Universität Bratislava“, oder an der „European University Belgrad“ promovieren will, in „International Management“, „Ökonomie“ oder „Massenmedien“ zum Beispiel.
Die auf diese Weise erkauften Doktorate mögen in der akademischen Welt nicht zählen. Aber in Wirtschaft und Politik sind sie hilfreich. Die geforderten „wissenschaftlichen Leistungen“, wie die Teilnahme an insgesamt zehn Tagen Seminar, Vorträge in „wissenschaftlichen Tagungen“ und Veröffentlichungen (in der hauseigenen „Zeitschrift“), sind im „Studienzentrum“ Hohe Warte selbst – als gesellige Anlässe – zu absolvieren. Und auch die Promotionsfeiern im Wiener Rathaus machen etwas her. Als der deutschen Sprache grundsätzlich mächtige „Zweitgutachter“ fungieren emeritierte Professoren in Österreich, die sich damit, so Linnert, ein Zubrot verdienen.

Belgrads „European University“ befindet sich im Privatbesitz ihres Rektors, Milija Zečević, der (neben zahlreichen käuflichen Ehrentiteln) auch Präsident der „European Academy of Science“ ist, die an der gleichen Adresse residiert wie Linnerts „Studienzentrum“, der Geweygasse 4 im 19. Wiener Gemeindebezirk. Doch für „akademische Feiern“ mit Partnerorganisationen wie der „Albert Schweitzer International University“ aus Genf (und so schönen Themen wie „Global Business and Management in the Function of Peace“) oder die Ernennung neuer Mitglieder trifft man sich lieber im Hotel Imperial.

Das es solch komplizierter Umwege für die Absolventen des Studienzentrums Hohe Warte bedarf, liegt daran, dass es Linnert trotz seiner Bemühungen um die jüngere Generation von Politiker*innen und Unternehmer*innen bislang nicht gelungen ist, seine Einrichtung in eine „Privatuniversität für Wirtschaft und Ethik“ zu verwandeln. Denn dafür braucht es eine formelle Akkreditierung, und die hat ihm die zuständige Kommission in Österreich schon zum fünften Mal verweigert. Zu Linnerts Leidwesen reden da nicht nur Politiker und Unternehmer mit.

So musste auch seine Tochter Julia 2013 ihre „kommunikationswissenschaftliche“ Dissertation an der Paneuropäischen Universität Bratislava einreichen. Zweitgutachter: Peter Linnert. 2018 wurde auch diese „Dissertation“ von VroniPlag Wiki – manuell – untersucht. Und wie sich zeigte, stellt sie alle Rekorde in den Schatten. Der Text enthält genau 18 Sätze, die nicht abgeschrieben wurden. Ein Plagiatswert von mehr als 98%. Auch Linnerts Sohn Michael, mittlerweile im Imperium der verschiedenen „Sales Management Academies“ der Linnerts beschäftigt, kam auf diesem Weg zu seinem Doktortitel – der einem in Bratislava auch dann nicht aberkannt wird, wenn Plagiate nachgewiesen werden.

Linnert ist keineswegs der einzige Anbieter auf dem Markt. Auch Ghostwriter kann man beschäftigen, oder es mit einer windigen Arbeit an einer „ordentlichen“ österreichischen Hochschule versuchen, wie der steirische ÖVP-Landesrat Christian Buchmann, dessen Dissertation in Graz im Jahr 2000 von zwei Parteifreunden positiv begutachtet wurde, trotz 30% Plagiats. Damals gab es freilich noch keine wirksame Software. 2017 musste Buchmann seinen Doktortitel zwar wieder abgeben, aber das schadete seiner politischen Karriere nicht. Derzeit ist er Präsident des österreichischen Bundesrates.

Linnerts „paneuropäisches“ Titel-Geschäft floriert jedenfalls weiter. Und nur selten wird davon einmal öffentlich geredet. 2014 erwarb z.B. der Steyrer ÖVP-Stadtrat Markus Spöck seinen Doktortitel im Fach „Internationales Management“ über die „Hohe Warte“ an der “European University Belgrad“. Und zur gleichen Zeit erwarb auf diesem Weg auch Christa Kranzl ihre Doktorwürde, nachdem sie an der Hohen Warte schon ihren Master in „Executive Sales Management“ erhalten hatte. Die ehemalige niederösterreichische Landesrätin (zuständig u.a. für Bildung) und kurzzeitige SPÖ-Staatssekretärin (für „Innovation“) unter Kanzler Gusenbauer war 2011 aus der SPÖ ausgeschlossen worden, weil sie in ihrem Heimatort mit einer eigenen Liste gegen die SPÖ angetreten war.
Als Unternehmensberaterin (Spezialgebiet „Förderberatung“) war sie nun im Fortbildungswesen für Unternehmer tätig. 2016 lehrte „Dr. Christa Kranzl“ so zum Beispiel „Regierungspolitik und Parlamentarismus“ an der „Middlesex University/KMU Akademie & Management AG“ in Linz, die offenbar noch weitere illustre Gestalten aus der Grauzone von Scharlatanerie und Business beschäftigte. So lehrte dort auch „Dr.“ Hubert Dollack, Drahtzieher eines anderen europäischen und außereuropäischen Netzwerks, das höchst erfolgreich akademische Titel verkauft.

Ab 2011 nannte Dollack sich Präsident der „University of Northwest-Europe“ in einer ehemaligen Abtei im niederländischen Kerkrade, auch wenn diese „Universität“ formell gar nicht anerkannt war. Schließlich trug sie das „Gütesiegel“ des „Universidad Azteca International Network Systems“, wohinter sich das Vertriebssystem mexikanischer Doktortitel verbirgt. Ihren virtuellen Campus betreibt das „Universidad Azteca European Programme“ in Innsbruck, wo es den umtriebigen Titelverkäufern vor zehn Jahren sogar gelang, eine kurzzeitige Kooperation mit der MedUni Innsbruck einzugehen, bevor diese den Braten roch. Der Dekan der Azteken, ein gewisser „Prof. Dr. Dr. Dr.“ Gerhard Berchtold, ehemaliger Klubdirektor der FPÖ im Innsbrucker Landtag und Wirtschaftskammerfunktionär (Entsorgung, Abfallwirtschaft), vertritt auch die „Universidad Central de Nicaragua“.

Hubert Dollack, promoviert an der TU Ostrava, leitete hingegen auch das inzwischen verblichene „Steinbeis Institute of Operations Management“ in Stuttgart, das „IMC Institut für Management & Consulting“ und das „UNIDI Career College“, eine Nebenstelle der nicht vorhandenen „Universität“ in Kerkrade. Auf den Fluren der ehemaligen Abtei residierten 2015 auch eine obskure „Martin Buber Universität“ (die ebenso vergeblich auf ihre Anerkennung wartete) und eine noch obskurere „European New University“, die Außenstelle der „International Teaching University“ in Tiflis, Georgien. Deren Abschlusszeugnisse wiederum werden vor allem von der „European University“ in Belgrad ausgestellt.

Womit sich so manche Kreise schließen. „Konsul Univ.-Prof. Dr. rer. pol. Dr. habil. Dr. h.c. mult.“ Peter Linnert wird sich wohl bald zur Ruhe setzen. Er blickt, mit seinen 84 Jahren, inzwischen auf ein langes erfolgreiches und manchmal auch weniger erfolgreiches Leben zurück.

Promoviert wurde er tatsächlich 1964 an der Universität Hamburg, und begann seine Laufbahn als Assistent am Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre. 1969 wechselte er nach Wien an die Wirtschaftsuniversität. Und dann verliert sich seine „akademische“ Biografie eine Weile im Ungefähren. Erst in den 1990er Jahren klärt sich das Bild wieder und bald sieht man Linnert erneut an der Wirtschaftsuni in Wien, nun als frischgebackenen Ehrendoktor der Universität Vilnius, und als Verantwortlichen für das Seminar Service Management, ein Fortbildungsangebot für Führungskräfte – mit dem er sich 1996 selbständig macht. Die „Sales Manager Akademie“ ist geboren. Und ein teurer, aber bequemer Zugang zum Diplom des „Master of Business Administration“, geliefert von der Universität von Staffordshire in England, das Ganze für 20.440,- €.

Auch als Autor von Büchern für Management und Business zeichnet Linnert regelmäßig mit seinem Namen. Schon 1971 veröffentlichte er seinen „Clausewitz für Manager. Strategie und Taktik der Unternehmensführung“. Es folgten ein Dutzend weiterer Titel, darunter „Alles Event? Erfolg durch Erlebnis-Marketing“, „Größere Markterfolge durch Total Quality Management“ oder „Die Finanzierung der Unternehmungen des Vortrags- und Aufführungswesens“. Sein neuestes Buch, gerade 2019 erschienen, wird auf der Website seines Studienzentrums „besonders empfohlen“: Es heißt kurz und bündig „Wirtschaftskriminalität“.

Warum Linnerts Lebenslauf zwanzig so wenig dokumentierte Jahre enthält, erschließt sich aus einem Bericht der Wochenzeitschrift Der Spiegel aus dem Jahre 1976: „Papiere von St. Pauli“. Damals war das vorerst letzte von Linnerts windigen Geschäften geplatzt, als die Deutsche Bank recht schlampig gefälschte Aktien im Wert von angeblich 2 Millionen DM in Linnerts Depot in Frankfurt fand. Er hatte versucht, die gefälschten Aktien in seinem Depot zu beleihen, um mit diesem Geld sein Firmenimperium zu retten, das vor allem aus Luftnummern bestand. Seine „Vereinigte Zünder- und Kabelwerke AG“ produzierte längst nichts mehr, sondern beschäftigte sich mit Vermögenstransaktionen. In Guatemala plante er den Kauf eines größeren Waldgebietes zur Einrichtung einer „Freihandelszone“. Von der Errichtung eines Marmorwerkes war die Rede und einer Reederei zwecks Transports des Marmors nach Japan. Sein „Marketing Institut Peter Linnert und Co“ knüpfte Netzwerke und vertrieb einen „praxisnahen, aktuellen Beratungsbrief“. Mit seinem Kompagnon Ekkehard Zahn (der auch 50 Jahre später noch an Linnerts „Sales Management Akademien“ beteiligt sein sollte) veranstaltete er exklusive Seminare für Führungskräfte oder solche, die es werden wollten. Doch dann kaufte er auch noch Deutschlands zweitgrößtes Möbelversandhaus, die Steinheimer Möbel-Becker GmbH, die im Mai 1976 Konkurs anmelden musste. Auf der Suche nach Kapital ließ Linnert seine windigen Zünder- und Kabelwerke neue Aktien auflegen, die schon bald nicht mehr das Papier wert waren, auf dem sie gedruckt wurden. Als auch noch die gefälschten Aktien im Frankfurter Depot aufflogen, wurde Linnert in seiner Hamburger Villa an der Elbchaussee 359 verhaftet.
Er hätte die Aktien in Hamburg-St. Pauli gekauft, beteuerte er. Doch da glaubte man ihm in Deutschland jedenfalls wirklich nichts mehr. In der Szene hatte Peter Linnert damals längst seinen Spitznamen erhalten: Dr. Hokuspokus. Das trifft es noch besser als Dr. Bratislava.

https://plagiatsgutachten.com/blog/warum-erhaelt-ein-promotionsberater-das-oesterreichische-ehrenkreuz-fuer-wissenschaft-und-kunst-i-klasse/

https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-41119562.html

https://causaschavan.wordpress.com/2016/03/11/huetchenspiele-teil-2-allgemeines-guatemala/

https://causaschavan.wordpress.com/2016/04/04/huetchenspiele-teil-3-sturm-und-drang-in-bratislava/

 

 

Olaf gegen Frontex

Europäisches Tagebuch, 13.1.2021: Die Nachricht ist eingeschlagen. Die EU-Behörde für Betrugsbekämpfung (Olaf) ermittelt gegen die EU-Grenzschutzagentur Frontex.

Seit vielen Monaten treten kroatische Grenzbeamte EU-Recht mit Füßen und treiben Flüchtlinge an der EU-Außengrenze gewaltsam zurück nach Bosnien. Sie tun dies mit dem Beifall einiger Regierungen in Europa. Ungarn und Österreich sind ganz vorne dabei, wenn es darum geht, diesen offenen Rechtsbruch zu vertuschen oder gut zu heißen, wenn es mit dem Vertuschen angesichts der vielen Bewiese nicht mehr funktioniert. Schließlich sind auch österreichische Grenzbeamte nicht zimperlich, wenn es darum geht an der slowenischen Grenze einfach mal die Ohren zu zuhalten, wenn Flüchtlinge um Asyl bitten – und sie stattdessen gewaltsam nach Slowenien zurückzustoßen, von wo sie an die Kroaten abgeschoben werden, die sie dann wiederum an der bosnischen Grenze abladen. Dafür zahlt die EU dann Bosnien Geld dafür, sich um diese illegal abgeschobenen Flüchtlinge zu kümmern. In Bosnien landet dieses Geld in unsichtbaren Kanälen – aber ganz offenkundig nicht in der Flüchtlingsbetreuung. So durften hunderte von Flüchtlingen das Ende des Jahres bei klirrender Kälte im Freien verbringen, weil das improvisierte Zeltlager Lipa noch immer kein Strom, kein Wasser und keine Heizung hatte und darum von der Internationalen Organisation für Migration aufgelöst wurde. Seitdem ist nicht viel passiert. Außer das, was jetzt „Hilfe vor Ort“ heißt: ein paar neue, unbeheizte Zelte, ohne Wasser und ohne Strom. 2000 Flüchtlinge hausen nun zum großen Teil unter Plastikplanen im Wald. Bei Minustemperaturen. Viele der Fälle sind gut dokumentiert.
Bis heute traut sich der Europäische Menschenrechtsgerichtshof an diesen andauernden Rechtsbruch von EU-Mitgliedsstaaten und Anwärtern nicht heran. Doch immerhin ist nun die von der EU selbst betriebene Grenzschutzagentur Frontex Gegenstand von Untersuchungen. Lange Zeit setzten Länder wie Ungarn, Polen und Österreich große Hoffnungen in Frontex. Dann realisierten Orban und Kurz, dass sich auch Frontex an Gesetze halten muss. Und Frontex fiel in Ungnade.
Doch Frontex Direktor Fabrice Leggeri wollte 2020 offenbar seinen Ruf in Budapest, Warschau und Wien retten. So ist Frontex inzwischen, wie seit Monaten bekannt, im östlichen Mittelmeer an illegalen Zurückweisungen vor der griechischen Küste beteiligt. Und in der Behörde scheint auch sonst so einiges unrund zu laufen, von Einschüchterungen von Mitarbeitern die Bedenken haben, bis zu Unregelmäßigkeiten bei Ausschreibungen. Ob die nun laufenden Ermittlungen Konsequenzen haben werden, bleibt abzuwarten.

https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/ermittlungen-gegen-eu-grenzschutzbehoerde-frontex-17142763.html

https://www.tagesschau.de/ausland/lipa-lager-bosnien-101.html

https://www.derstandard.at/story/2000121752241/berichte-ueber-illegale-pushbacks-von-migranten-an-oesterreichischer-grenze

Reden über Corona – in China

Europäisches Tagebuch, 3.1.2021: Reden über Corona macht in China noch immer die Behörden nervös. Vor fünf Tagen wurde die chinesische Anwältin und unabhängige Journalistin Zhang Zhan zu vier Jahren Haft verurteilt. Im Februar 2020 war sie von Shanghai nach Wuhan gereist und hat die staatliche Nachrichtensperre über die Ausbreitung der Pandemie unterlaufen. Auf Youtube und Twitter berichtete sie über die Situation in den überfüllten Krankenhäusern und über ununterbrochen auf Hochbetrieb laufende Krematorien, über Menschenrechtsverletzungen und Inhaftierungen andere Journalisten und über Zwangsmaßnahmen gegen Familienangehörige von Opfern, die über ihre Notlage berichten wollten, während die staatlichen Medien die Pandemie schon für „unter Kontrolle“ erklärten. Am 14. Mai 2020 galt sie als vermisst. Kurz zuvor war sie verhaftet worden und wurde zunächst wochenlang ohne Anklage gefangen gehalten.  Offenbar wurde sie gefoltert und 24 Stunden am Tag in Handschellen gehalten, nachdem sie im September in Hungerstreik getreten ist und seitdem mit einer Magensonde zwangsernährt wurde. Ihr Prozess dauerte drei Stunden. Sie ist damit die erste, aufgrund ihrer Berichterstattung über die Covid-19 Pandemie verurteilte Journalistin in China. Andere erwarten noch ihren Prozess. Die Europäische Union verlangt ihre Freilassung.

3.1.2020: Heute wurde Li Wenliang, ein Arzt in Wuhan, zusammen mit sieben Kollegen in der chinesischen Stadt auf eine Polizeistation zitiert und davor gewarnt, weiter „falsche Behauptungen zu verbreiten“ die „die gesellschaftliche Ordnung ernsthaft gestört“ hätten. Sie müssen unter Strafandrohung eine Schweigepflichtserklärung unterschreiben. Li Wenliang hat – angesichts der Serie von Lungenentzündungen im Krankenhaus von Wuhan – vor einigen Tagen in sozialen Netzwerken vor dem neuen Erreger gewarnt, der sich von Mensch zu Mensch verbreiten würde, und Ärzte aufgefordert, Schutzkleidung zu tragen. Die städtische Gesundheitskommission von Wuhan hat Mitteilungen ins Internet gestellt, die alle Krankenhäuser in Wuhan aufforderten, jeden Lungenentzündungspatienten mit unbekannter Ursache, der auf dem Fischmarkt in Wuhan gewesen war, zu melden.

Vor zwei Tagen hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) an ihrem Genfer Hauptsitz eine Erklärung herausgegeben: „Alle Indizien deuten darauf hin, dass der Ausbruch in Verbindung zu Ansteckungen auf einem Fischmarkt in Wuhan steht.“ Es gebe allerdings, so erklärt die WHO, keine klaren Hinweise auf eine Übertragung von Mensch zu Mensch.
Die Wuhaner Gesundheitskommission äußert in einem Interview, dass die Untersuchung der Fälle nicht abgeschlossen sei und dass Experten der Nationalen Gesundheitskommission auf dem Weg nach Wuhan seien, um die Untersuchung zu unterstützen.

Bosnische Sylvester im Freien

Europäisches Tagebuch, 2.1.2021: Die europäischen Verbrechen an Flüchtlingen sind um eine Facette reicher. Seit vielen Monaten schützt insbesondere Kroatien „unsere“ Außengrenzen auf illegale, aber effektive Weise. Flüchtlingen, denen es zum Beispiel über Bosnien gelingt, an – und über – die kroatische Grenze zu kommen, werden gewaltsam wieder zurückgestoßen, bevor sie von ihrem Recht, einen Asylantrag zu stellen, Gebrauch machen können. Das verstößt zwar gegen europäisches und internationales Recht, aber selbst der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte schaut inzwischen resigniert (oder zynisch?) unter den Tisch, wenn es um den europäischen „Grenzschutz“ geht. Viele der Flüchtlinge waren zunächst im Lager Bira in der Stadt Bihac untergebracht, dann wurden sie nach „Protesten aus der Bevölkerung“, die inzwischen in Bosnien billiger zu haben sind, als Semmeln, im September in ein von der Armee provisorisch errichtetes Zeltlager in „the middle of nowhere“ verfrachtet, nach Lipa. Dort durften sich internationale Hilfsorganisationen um die Gestrandeten kümmern. Die bosnischen Behörden versprachen, das improvisierte Lager an die Strom- und Wasserversorgung anzuschließen, um es „winterfest“ zu machen. Doch nichts dergleichen geschah. Aus den Augen aus dem Sinn.
Ende Dezember kam der Frost. Aber noch immer keine Möglichkeit, das Lager zu heizen, noch immer kein Strom, kein Wasser. Gar nichts. Die Internationale Organisation für Migration (IOM) entschied, das Lager, in dem die Menschen sonst im beginnenden Winter erfroren wären, zu schließen. Und während der Räumung zündeten einige Flüchtlinge die maroden Zelte an, die sie endgültig hinter sich zu lassen glaubten.
Mit den bosnischen Behörden wurde ausgehandelt, die Flüchtlinge wieder ins Lager Bira nach Bihac oder in Kasernen in andere Landesteile zu bringen. Aber Lokalpolitiker verkündeten, es gäbe „Proteste aus der Bevölkerung“. So verbrachten 900 Menschen die Weihnachtstage im Freien. Dann stand doch die Evakuierung der obdachlos campierenden Flüchtlinge auf dem Programm. 500 von ihnen wurden zum Jahresende in Busse verladen. Und steckten dort fest. Denn die Busse fuhren nicht. Lokal- und Regionalpolitiker beugen sich den „Protesten aus der Bevölkerung“, die sie selbst nach Kräften geschürt haben. Und die Republika Srpska nimmt ohnehin niemand auf. Schließlich seien es die bosniakischen Muslime, die die „Migranten“ ins Land geholt hätten. Was auch immer damit gemeint sei, die Parole kommt immer an. Jeder Versuch der Zentralregierung in Sarajewo, Recht und Ordnung durchzusetzen (und das heißt in diesem Fall eine menschenwürdige Unterbringung der Flüchtlinge) ist so zum Scheitern verurteilt.

So verbrachten 500 Menschen die letzten beiden Tage des Jahres in ungeheizten Bussen. 24 Stunden lang. Dann ließ man sie wieder aussteigen. Sylvester erlebten sie unter freiem Himmel. Am Neujahrstag versorgte sie das Rote Kreuz. Österreich verspricht „Hilfe vor Ort“. Die bosnische Armee stellt wieder Zelte auf. Zelte gibt es genug. Unbeheizbar, wie die davor. Das zynische Spiel geht weiter. Der Winter auch.

„full of fish, by the way“

Europäisches Tagebuch, 31.12.2020: Nun ist er also vollzogen, der Brexit. 1200 Seiten „Deal“, ein paar hundert Seiten davon hat Boris Johnson schon zu Weihnachten bei seiner dreieinhalb Minuten langen Weihnachtsansprache auf Twitter in die Kamera gehalten und seinen Landsleuten versprochen, dass viel Fisch darin enthalten sei. Seine launige Ansprache über Hoffnung, Truthahn, Pudding, Rosenkohl und Brandybutter wird in die Geschichte eingehen. Als was, wird dieselbe noch erweisen. Literarisch jedenfalls als Parodie.
Gute Stimmung hat sie auf der Insel verbreitet. Den Europäischen Freunden auf dem Festland, die am Weihnachtsabend die Verhandlungen für abgeschlossen erklärten, war die gute Laune etwas weniger glaubhaft abzunehmen. Da ist kein Triumph im Spiel, allenfalls die Erleichterung, eine überflüssige Quälerei sei nun endlich an ihrem wenigstens halbwegs erträglichen Ende angekommen. Heute morgen durfte der britische Botschafter in Wien im Radio ebenfalls einen Versuch unternehmen, gute Laune zu stiften. Das fiel ihm deutlich schwerer, als seinem Premierminister. Mit dem Erasmus-Programm, dass hunderttausende von jungen Menschen vom Festland und von den Inseln einander näher gebracht hat, ist jedenfalls Schluss. Das konnte auch Leigh Turner nicht in Brandybutter verwandeln.

Auf die Frage, ob der Brexit-Vertrag und damit der Ausstieg Großbritanniens aus der EU denn auch irgendwelche Vorteile bringen würde, fiel ihm lediglich ein, stolz zu betonen, dass das nun geschlossene Handelsabkommen besser sei … als ein No-Deal Brexit. Darauf allerdings wären wir auch gekommen.

Was bleibt ist: Fisch. Die Fangquoten der europäischen Fischer in britischen Gewässern sollen nun im Laufe der nächsten Jahre um 25% gesenkt werden. Das wird die EU nicht ruinieren. Und den britischen Fischern auch nicht viel helfen. Wenn sie irgendwann einmal aus ihrem Rausch aufwachen. Für das Geld, das der Brexit gekostet hat – und noch kosten wird, z.B. um Zollkontrollen durchzuführen, für Zölle, die nicht erhoben werden sollen – hätte man den britischen Fischern wohl besser helfen können. Aber der Traum, Großbritannien wieder zu alter Größe einer globalen Führungsmacht zurückzuführen, war stärker. Ein Traum der freilich zerrissen ist zwischen zwei Ansprüchen, der Vorstellung davon selbst als Zentrum des Commonwealth ein übernationales Imperium darzustellen, und dem alten kolonialen Gefühl, eine überlegene Kultur zu repräsentieren.
Doch “the proof of the pudding comes with the eating”. Ob von diesen Träumen außer mehr Fisch von britischen Fischern viel übrig bleiben wird, wird die Zukunft weisen. Denn kaufen sollen diesen Fisch: die Europäer auf dem Festland.

Ein Gespräch über die “letzten Europäer”

Das Jahr 2020 geht zu Ende. Trotz aller Widrigkeiten haben wir am 4. Oktober unsere Ausstellung “Die letzten Europäer” eröffnen können. Und werden sie hoffentlich im Januar wieder für das Publikum aufsperren können. Am 22. Oktober hat Helene Maimann auf Österreich 1 in der Sendung “Im Gespräch” 50 Minuten mit Hanno Loewy über die “letzten Europäer” gesprochen. Hier der link (siehe rechte Spalte) zur Aufzeichnung dieser Sendung – als kleines Geschenk zum Jahreswechsel.
Danke an die Kurator*innen der Ausstellung Felicitas Heimann-Jelinek, Michaela Feurstein-Prasser und Hannes Sulzenbacher für die spannende Zusammenarbeit an diesem Projekt.

Aktuelle Ausstellung

Gemeinsam impfen

Europäisches Tagebuch, 27.12.2020: In den 27 Staaten der Europäischen Union wird mit der Impfung gegen Covid 19 begonnen. Gestern wurden schon in einem Pflegeheim im deutschen Bundesland Sachsen-Anhalt, sowie in Ungarn und der Slowakei einzelne Impfdosen verabreicht. Offenbar hatte man dort an dem symbolträchtigen gemeinsamen Start am heutigen Sonntag kein Interesse. Auch in Österreich war es zunächst unklar ob in allen Bundesländern zugleich begonnen werden soll. Kritisiert wurde zunächst, dass nur in Wien und Niederösterreich begonnen werden soll, dann wurden „Showtermine“ in allen Bundesländern kritisiert. Nun sind doch alle bis auf Kärnten dabei. Während in den meisten Ländern mit Bewohner*innen in Pflegeheimen und dann mit Gesundheitspersonal in Pflegeheimen und Krankenhäusern begonnen wird, lässt sich in Tschechien Ministerpräsident Andrej Babis zuerst impfen, um „ein Vorbild“ abzugeben. Der Europäischen Union ist es jedenfalls gelungen, einen innereuropäischen Konkurrenzkampf um die Vakzine zu vermieden und eine weitgehend gerechte Verteilung der Impfdosen durchzusetzen. Und nach allen Querelen um Brexit und das Desaster einer nicht zustande kommenden gemeinsamen und womöglich auch humanen und menschenrechtskonformen Flüchtlingspolitik, hat die Europäische Union diesen symabolischen Gleichklang in der Bekämpfung der Pandemie auch bitter nötig.

Dabei musste zunächst einmal spekuliert werden, welcher Wirkstoff es denn als erster schaffen wird, die Tests zu bestehen und die Zulassung zu erreichen. Nun treten auch alle Besserwisser auf den Plan, die davon wissen wollen, dass die EU von dem einen oder anderen Wirkstoff noch mehr hätte erwerben können. Aber welcher der Wirkstoffe als erster über die Ziellinie kommt, das wussten auch diese Besserwisser vorher nicht. Andere finden, dass die Europäische Zulassungsbehörde zu langsam oder zu schnell entschieden hat. Und der Wirkstoff deshalb zu unsicher sei, oder überflüssigerweise zu aufwändig geprüft wurde, also sicherer als nötig sei. Irgendeiner ist immer schlauer. Die USA und Groß-Britannien impfen schon seit ein paar Tagen. Aber auch nur ein paar wenige Menschen. Denn die großen bestellten Mengen kommen dort genauso erst ab Januar zum Einsatz.
Der deutsche Gesundheitsminister Spahn ist jedenfalls nicht nur stolz, weil der der Impfstoff von Biontech-Pfitzer in Deutschland entwickelt wurde, sondern weil seine Entwickler nun auch noch als Symbol für ein erfolgreiches Einwanderungsland dienen sollen: das Ehepaar Uğur Şahin und Özlem Türeci, die beide Kinder türkischer Migrantenfamilien sind.

Was bei alldem fast untergeht: es ist heute auf den Tag ein Jahr her, dass Covid-19 als das erkannt wurde, was es ist.

27.12.2019: Zhang Jixian, eine Ärztin des Hubei Provinz Krankenhauses für Chinesische und Westliche Medizin, teilt den lokalen Gesundheitsbehörden mit, dass die rätselhafte Krankheit, die an SARS erinnert, offenbar durch ein neuartiges Coronavirus verursacht wurde. Zu diesem Zeitpunkt sind bereits mehr als 180 Menschen infiziert.

Weihnachten auf Lesbos

Europäisches Tagebuch, 22.12.2020: In zwei Tagen ist Weihnachten. Das „provisorische“ Lager Kara Tepe auf Lesbos, in das die Insassen des abgebrannten Lagers Moria zwangsumgesiedelt wurden, versinkt im Schlamm. Dann wird das Wasser abgepumpt. Dann versinkt es wieder im Schlamm. Es wird kalt. Statt in selbstgebastelten Holzhütten, die sie sich in Moria noch bauen konnten, leben 7500 Menschen, davon 2500 Kinder, nun in Zelten ohne Heizung. Die Bewohner versuchen mit ihren Camping-Gaskochern ein wenig Wärme zu produzieren. Immer öfter werden sie mit Brandwunden behandelt. In den Zelten ist es dunkel. Nach drei Monaten gibt es noch immer kein warmes Wasser. Sanitäranlagen gibt es auch nicht. Ab 17.00 Uhr ist es im Lager stockfinster, da es keine funktionierenden Straßenlaternen gibt. Schulen oder Kinderbetreuung gibt es auch nicht. Das Camp verlassen dürfen die Insassen einmal in der Woche, für vier Stunden zum Einkaufen.
Das Lager liegt auf einem ehemaligen Truppenübungsplatz am Meer. Der Schlamm ist voller bleihaltiger Übungsmunition. Viele Kinder trinken abends nichts, weil sie Angst haben, nachts aufs Klo zu müssen. Klos, die es nicht gibt. Viele haben massive Schlafstörungen, Panikattacken und Alpträumen. Ein dreijähriges Mädchen ist im Lager vergewaltigt worden. Manche Kinder begehen Selbstmordversuche. Die ausländischen Helfer, die im Lager Flüchtlinge betreuen, wissen nicht mehr, mit welchen Argumenten sie den Kindern den Selbstmord ausreden sollen. Manche der Helfer arbeiten für SOS-Kinderdorf. Die Organisation betreibt auf Lesbos in der Nähe des neuen Lagers seit Jahren ein kleines Kinderschutzzentrum, das eigentlich Ende des Jahres aufgelöst werden soll. Sie fordern seit Monaten stattdessen auch in Kara Tepe wenigstens eine Tagesbetreuung für einen Teil der Kinder einrichten zu dürfen.
Einige Zeit lang gingen die Insassen von Kara Tepe ins Meer zum Baden, bis es dafür zu kalt wurde. Da sich die Menschen nicht mehr Waschen können, breitet sich Krätze im Lager aus. Auch Erkältungskrankheiten und Lungenentzündungen grassieren. Und immer mehr Kinder, nicht zuletzt die Babys, leiden unter Rattenbissen, berichten die Ärzte ohne Grenzen. In den anderen Lagern auf den Inseln sieht es nicht viel besser aus. Im Lager Vathy auf Samos leben 3700 Menschen in einem Lager, das für 600 Menschen eingerichtet wurde. Hier mussten kürzlich die Bewohner gegen Tetanus geimpft werden, wegen der zunehmenden Gefährdung durch Rattenbisse.

Die österreichische Regierung verhindert nach wie vor, dass Länder und Gemeinden in Österreich Flüchtlinge von den griechischen Inseln aufnehmen können. Auch in der ÖVP wächst der Druck auf den Kanzler, endlich die populistische Blockade aufzugeben. Doch Kurz hat schon vor Jahren angekündigt, dass es „hässliche Bilder“ geben würde. Seine Politik setzt auf Abschreckung, Kindesmisshandlung, Folter, Körperverletzung und Freiheitsberaubung. Warum soll er auf der Höhe seines Erfolgs davon abrücken?

Geiseln dieser Politik sind auch die Grünen, die sich im Parlament am Montag aufs Neue in Koalitionsdisziplin übten und gemeinsam mit türkisblau-blau einen SPÖ-Antrag für die Aufnahme von Flüchtlingen ablehnten. Und doch scheint es jetzt eine türkisblaue Doppelstrategie zu geben. Es sind ja nur noch wenige Tage bis Weihnachten. Das Fest der Flüchtlinge und Notunterkünfte. Der unschuldigen Kinder. Der Herzenswärme.

Ein PR-Berater des Kanzlers, Wolfgang Rosam, hatte schon länger die Idee zu einem genialen PR-Gag gegen Erfrierungserscheinungen am Herzen. Jetzt hat man sich an das SOS-Kinderdorf erinnert, das seit Monaten darum bettelt, etwas für die Kinder auf Lesbos tun zu dürfen. Nach dem missglückten  Auftritt von Türsteher Nehammer, der sich nach dem Brand von Moria breitbeinig vor einem dicken russischen Flieger filmen ließ, dessen Ladung inzwischen in irgendeiner griechischen Lagerhalle vor sich hin gammelt („Hilfe vor Ort“) – muss nun der Chefdiplomat des Reiches ausrücken.

Vor ein paar Tagen wurde SOS-Kinderdorf von der freudigen Nachricht aus dem Außenministerium überrascht. Zu Weihnachten soll es nun doch ein paar weniger hässliche Bilder geben. Und eine Tagesbetreuung für Kinder in Kara Tepe. Eine Genehmigung der griechischen Behörden gibt es allerdings noch nicht, auch sonst ist nicht wirklich klar, ob und wann es den „sicheren Ort“ für Kinder – wenigstens ein paar Stunden am Tag – geben wird. Aber Außenminister Schallenberg ließ sich dafür am Wochenende schon einmal in der Nachrichtensendung Zeit im Bildfeiern. Ein schönes Bild, das Bild eines selbstzufriedenen Mannes, der Gutes tut. Zumindest sich und seinem Kanzler.
Ob das Ablenkungsmanöver den Kindern auf Lesbos wenigstens eine kleine Flucht aus dem Elend ermöglichen wird, bleibt abzuwarten. Auch der Geschäftsführerin von SOS-Kinderdorf wäre es lieber, sie gleich nach Österreich zu bringen. Aber die Herbergssuche in diesem Land ist wohl wieder mal vergeblich.
Fröhliche Weihnachten.

Als alles anfing

Europäisches Tagebuch, 18.12.2019: Es wird bekannt, dass in der Chinesischen Millionenstadt Wuhan seit dem Beginn des Monats Fälle von Lungenentzündung mit unklarer Ursache aufgetreten sind. Über eine neue SARS Epidemie wird spekuliert. Bis zum 15. Dezember sind 27 Fälle der unbekannten neuen Krankheit bestätigt.

Europäisches Tagebuch, 18.12.2020: Insgesamt sind in der Welt inzwischen mindestens 1.671.772 Menschen an Covid-19 gestorben. Über 75.000.000 Menschen waren an Covid 19 erkrankt, viele von Ihnen leiden noch immer an ihren Folgen. In den USA sind inzwischen über 313.000 Menschen an der Pandemie gestorben. Eine Zahl die sogar alle pessimistischen Schätzungen übertrifft. Noch ist kein Ende in Sicht, auch wenn nun mit Impfungen begonnen wird. Die Zahl der täglichen Opfer beträgt nun regelmäßig zwischen 2000 und 3000. Vor zwei Tagen sind 3600 Menschen an Covid 19 verstorben. Im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung sind die Zahlen der Toten in manchen europäischen Staaten freilich noch höher. In Österreich werden heute 145 Tote gemeldet. Das sind prozentual doppelt so viele Tote wie in den USA. In Ungarn sind es 187 Tote. In Frankreich, wo inzwischen mehr als 60.000 Menschen gestorben sind, werden heute 610 Tote gemeldet. In Italien sind es 674, bei einer Gesamtzahl von 67.000 Toten. Auch in Deutschland schnellen die Zahlen nun nach oben. In vielen Ländern werden neue, schärfere lockdown-Verordnungen erlassen.
Doch die Massentests in Österreich, mit denen es hätte gelingen können, eine größere Zahl von Infizierten zu warnen und in Quarantäne zu schicken, waren ein Flop. Die Zahl der Menschen, die sich impfen lassen wollen, nimmt ab. Die Zahl der Menschen, die Verschwörungstheorien über den Ursprung des Virus anhängen und verbreiten, nimmt hingegen zu.
So wird die Covid-19 Pandemie noch länger dauern.
Die ökonomischen Folgen treffen vor allem die Menschen im globalen Süden. Doch darüber wird wenig gesprochen.

 

Ludwik Lejzer Zamenhof und die Sprache der Menschheit

Europäisches Tagebuch, 15.12.2020: Heute vor 161 Jahren wurde Ludwik Lejzer Zamenhof in Bialystok geboren. Unter dem Pseudonym Doktor Esperanto sollte er 1887 eine Plansprache begründen, die noch heute von Menschen gesprochen und gepflegt wird, die darauf hoffen, dass die Babylonische Sprachverwirrung einst einer vereinigten Menschheit nicht länger im Weg stehen wird.
Eine Hoffnung die heute mehr denn je vergeblich erscheint.

Ludwik Lejzer Zamenhof, 1908

Zamenhof wuchs in einer vielsprachigen Welt auf, einer vielsprachigen Stadt, in der selbstverständlich Polnisch, Russisch, Deutsch und Jiddisch gesprochen wurde. Sein Vater war der jüdischen Aufklärungsbewegung, der Haskala verbunden, verstand sich als Russe und als Atheist. Er arbeitet als Sprachlehrer für Französisch und Deutsch – und wurde russischer Schulinspektor und Zensor. Zamenhofs Mutter hingegen war religiös und sprach Jiddisch. Aus diesem Kosmos voller sich damals noch nicht ausschließender Widersprüche zog Lejzer, der sich bald den nicht-jüdischen Vornamen Ludwik zulegte, seine eigenen Lehren. Zunächst aber studierte er Medizin, erst in Moskau, dann in Warschau, und wurde Augenarzt.
Die Pogrome von 1882 führten den jungen Russen, als der auch er sich zunächst verstand, zur frühen zionistischen Bewegung. Doch das Ziel einer jüdischen Heimstätte im Nahen Osten erschien ihm unrealistisch. Er sah die Zukunft der Juden in einer versöhnten Welt, ohne sprachliche, kulturelle oder religiöse Mauern. Und wurde folgerichtig Internationalist.
Bereits als Kind hatte Zamenhof sich für den Reichtum der Sprachen begeistert, beherrschte selbstverständlich Russisch und Jiddisch, lernte früh Polnisch, Deutsch und Französisch, in der Schule zusätzlich Griechisch, Latein und Englisch. Auch Hebräisch eignete er sich an, sollte er doch später die hebräische Bibel ins Esperanto übersetzen.
Sein eigentlicher Traum aber war eine leicht zu erlernende Weltsprache, in der eine zerstrittene Menschheit zueinander finden sollte. Nicht um ihre „eigene“ Sprachen zu vergessen, sondern um eine gemeinsame Basis zu gewinnen. Schon an seinem 18. Geburtstag sang er mit seinen Freunden ein Lied in der Lingwe Uniwersale.
1887 schließlich veröffentlichte er unter dem Namen Dr. Esperanto seinen endgültigen Entwurf, und begann mit der Herausgabe einer eigenen Zeitschrift, La Esperantisto, von Adressbüchern und Wörterbüchern. Und er arbeitete an einer universalistisch-humanistischen Weltanschauung, die er zunächst Hillelismus (nach dem bedeutenden jüdischen Gelehrten der vorchristlichen Zeit) und schließlich auf Esperanto Homaranismo nannte.
Die Esperanto-Bewegung zählte bald tausende Anhänger in den verschiedensten Ländern Europas. Viele Familien lehrten die Sprache ihren Kindern, so auch die Familie von George Soros in Ungarn. Doch die nationalistische Selbst-Zerfleischung Europas im 1. Weltkrieg konnte seine Bewegung genauso wenig aufhalten, wie die Friedensbewegung.
Den Kriegsbeginn erlebte Zamenhof 1914 in Köln, auf dem Weg von Warschau nach Paris zum 10. Esperanto-Weltkongress. Über die Kriegsjahre zog Zamenhof sich zurück, arbeitete an seiner Übersetzung der hebräischen Bibel ins Esperanto, verfasste ein Denkschrift An die Diplomaten, di er aufrief, bei den kommenden Friedensverhandlungen die Minderheiten nicht zu vergessen, und kämpfte mit seiner Herzkrankheit, die ihn schließlich am 14. April 1917 besiegte. Zamenhof wurde 57 Jahre alt. Auf seinem letzten Weg zum Jüdischen Friedhof in Warschau begleitete ihn eine große Menschenmenge, darunter auch viele seiner armen jüdischen Patienten.

Bis heute gibt es Esperantogruppen in vielen Ländern die zumindest die Erinnerung an Zamenhofs Traum hochhalten. 2017 hatte sogar die Unesco Zamenhofs 100. Todestag in die Liste der offiziellen Gedenktage des Jahres aufgenommen. Der Stadtrat von Bialystok, beherrscht von der rechts-nationalen Partei PIS lehnte es freilich ab, den berühmten „Sohn der Stadt“ mit einem Zamenhof-Jahr zu ehren. Mit einem jüdischen Internationalisten wollten sie sich nun wirklich nicht schmücken.

Für unsere Ausstellung haben wir am 7. Oktober 2020 Yaron Matras, Professor em. für Linguistik an der Universität Manchester über Mehrsprachigkeit und Plansprachen interviewt.

https://youtu.be/U_73kSe_-9A