Europäisches Tagebuch, 27.1.2020: Heute jährt sich der Tag der Befreiung von Auschwitz zum 75. mal. Primo Levi, der das Lager überlebte, hat diese „Befreiung“ immer nur in Anführungsstrichen beschreiben können. Vier Soldaten der Roten Armee waren die ersten Menschen aus der Welt „draußen“ die ihm am 27. Januar 1945 begegneten.
„Sie erschienen uns, als hätte das vom Tod erfüllte Nichts, in dem wir seit zehn Tagen wie erloschene Sterne kreisten, ein festes Zentrum bekommen, einen Kondensationskern, und so war es wohl auch: vier bewaffnete Männer, aber nicht gegen uns bewaffnet: vier Friedensboten mit bäuerischen, kindlichen Gesichtern unter den schweren Pelzmützen.“ Beim Anblick der Überlebenden des Lagers erstarrten sie. „Es war die gleiche wohlbekannte Scham, die uns nach den Selektionen und immer dann überkam, wenn wir Zeuge einer Misshandlung sein oder sie selbst erdulden mussten: jene Scham, die die Deutschen nicht kannten, die der Gerechte empfindet vor einer Schuld, die ein anderer auf sich lädt und die ihn quält, weil sie existiert, weil sie unwiderruflich in die Welt der existenten Dinge eingebracht ist und weil sein guter Wille nichts oder nicht viel gilt und ohnmächtig ist, sie zu verhindern.“ Diese Scham hat auch Primo Levi den Rest seines Lebens begleitet.
Als sich – schon vor vier Tagen – zur Feier des 75. Jahrestages der Befreiung von Auschwitz 50 Staatsoberhäupter in Jerusalem in der Gedenkstätte Yad Vashem trafen, ein Tag nach einer für die Gäste veranstalteten Cocktailparty des Jerusalemer Bürgermeisters, war von dieser Scham nichts, aber auch rein gar nichts zu spüren. Nur politisches Kalkül.
Der israelische Premier und der amerikanische Vize-Präsident nutzen das “World Holocaust Forum”, um den Iran zum größten Feind der Menschheit zu erklären. Der russische Präsident, Freund des iranischen Regimes und zugleich der israelischen Gastgeber, nutzte den Tag um seine Großmacht zum Retter der Menschheit zu erklären. Der polnische Präsident nutzte die Gelegenheit, beleidigt zu Hause zu bleiben, nachdem die Polen zuvor aus Moskau ausgerichtet bekommen haben, am Zweiten Weltkrieg schuld gewesen zu sein.
Für die letzten Überlebenden des Holocaust interessierte sich kaum jemand. Von ihnen bleiben Videoaufnahmen im Archiv.
PS: Im Jüdischen Museum Hohenems kann man sich manche davon ansehen und darüber reflektieren, was von dieser Erbschaft übrig bleibt. Die Ausstellung “Ende der Zeitzeugenschaft?” wird noch weiter wandern, nach Flossenbürg und München, Augsburg, Berlin, Wien und Frankfurt.