Europäisches Tagebuch, 17.2.2021: Seit einer Woche ist das Jüdische Museum Hohenems wieder geöffnet. Zeit dafür zu dokumentieren, welche Spuren und Kommentare unsere Besucher*innen bisher in unserer Ausstellung Die letzten Europäer hinterlassen haben. Dafür haben wir auf zwei großen Landkarten unter den Fragen: “Welche Staaten sollten in Zukunft zur Europäischen Union gehören?” und “Was ist für Dich/Sie Europa?” Platz geschaffen.
Hier ist der Ort für ihre Antworten und Reaktionen auf viele europäische Fragen und natürlich auch für neue Fragen. Jetzt sind die Landkarten voll und wir machen nun Platz für neue Antworten und Fragen – und das Spiel beginnt von vorne.
Die Türkei wird auch ohne Erdogan weiterhin aggressiv gegen die Kurden vorgehen und Aggressivität passt nicht zum “Friedensprojekt Europa”! Dagegen gehört Israel als realisierte Heimstättenvision des Budapester Österreichers Theodor Herzl (war auch Korrespondent des Wiener Blattes “Neue Freie Presse” in Paris und ebenso frankophil wie Stefan Zweig) durchaus zu einem grenzenlosen “neuen Europa” der Menschenrechte und geistigen Liberalität. Der neue Judenstaat wurde nicht zuletzt von David Ben Gurion unter einem riesigen Bildnis des Visionärs ausgerufen!
So sehr sich Stefan Zweig und Theodor Herzl in ihrer Frankophilie einig waren, distanzierte sich Zweig unter dem Eindruck des Weltkriegsgeschehens immer mehr von der “Heimstätten-Vision” Herzls und tat dies auch schriftlich in Briefen an den Religionsphilosophen Martin Buber kund. So schrieb er etwa an diesen am 24. Januar 1917: “Nie habe ich mich durch das Judentum in mir so frei gefühlt als jetzt in der Zeit des nationalen Irrwahns – und von Ihnen und den Ihren trennt mich nur dies, dass ich nie wollte, dass das Judentum wieder Nation wird und damit sich in die Concurrenz der Realitäten erniedrigt. Dass ich die Diaspora liebe und bejahe als den Sinn seines Idealismus, als seine weltbürgerliche allmenschliche Berufung. Und ich wollte keine andere Vereinung als im Geist, in unserm einzigen realen Element, nie in einer Sprache, in einem Volke, in Sitten, Gebräuchen, diesen ebenso schönen als gefährlichen Synthesen.” Und Zweig konkretisierte diese Gedanken noch in einem weiteren Brief an Buber im Februar 1918: “Denn ich bin ganz klar und entschlossen, je mehr sich im realen der Traum zu verwirklichen droht, der gefährliche Traum eines Judenstaates mit Kanonen, Flaggen, Orden, gerade die schmerzliche Idee der Diaspora zu lieben, das jüdische Schicksal mehr als das jüdische Wohlergehn. Im Wohlergehn, in Erfüllungen war dieses Volk nie ein Wert – nur im Druck findet es seine Kraft, in der Auseinandersprengung seine Einheit. Und im Beisammensein wird es sich selbst auseinandersprengen. Was ist eine Nation, wenn nicht ein verwandeltes Schicksal? Und was bleibt noch von ihr, entweicht sie ihrem Schicksal? Palästina wäre ein Schlusspunkt, das Rückkehren des Kreises in sich selbst, das Ende einer Bewegung, die Europa, die die ganze Welt durchschüttert hat. Und es wäre eine tragische Enttäuschung wie jede Wiederholung.”
Prophetische Worte des “Weltbürgers” Stefan Zweig, ehe er sich in der Folge realiter auf seine vielen Weltreisen begeben hat, um in andere Kulturen einzutauchen, sich in diversen historischen Biographien literarisch selbst zu finden und letztlich staatenlos sowie Exilant und Migrant zu werden.
Noch ein Wort zu Stefan Zweigs Beziehung mit Hohenems: Seine Mutter Ida war eine geborene Brettauer und entstammte der weitverzweigten Familie Brettauer aus Hohenems, deren schön renovierten Stammsitz man heute dort bewundern und besichtigen kann. Stefan Zweig selbst hat in seinem melancholischen Werk “Die Welt von gestern”, das zeitgleich mit dem Buch “Brasilien, ein Land der Zukunft” kurz vor seinem Tod dort entstand, voll Stolz auf seine Herkunft aus Hohenems verwiesen.