Schon seit dem 18. Jahrhundert gab es in Anlehnung an das Modell der Vereinigten Staaten von Amerika die Vorstellung von den „Vereinigten Staaten von Europa“. Sie ist bis heute nicht realisiert. Walter Rathenau (1867–1922) war einer jener, die sie vor Augen hatten.
Der Sohn des bekannten Gründers der AEG – selbst prominenter Unternehmer – war während des Ersten Weltkriegs für die Rohstoffversorgung des deutschen Reiches zuständig. Er forderte auch den Einsatz belgischer Zwangsarbeiter zur Kompensierung des kriegsbedingten Mangels an Arbeitskräften in Deutschland.
Bereits vor dem Krieg hatte Rathenau für die Errichtung eines mitteleuropäischen Zollvereins plädiert, in dessen Zentrum er eine deutsch-österreichische Wirtschaftsgemeinschaft sah, deren Anziehungskraft sich die westeuropäischen Länder auf Dauer nicht verschließen könnten. Nach 1918 bemühte er sich in verschiedenen politischen Funktionen um eine Normalisierung des Verhältnisses zwischen Deutschland und den alliierten Siegermächten sowie um einen Ausgleich mit Sowjetrussland. 1922 wurde in „Besinnung auf christliche, abendländische Werte“ die Paneuropa-Bewegung begründet. Ihr erster Großspender war der deutsch-jüdische Bankier Max Warburg. Sie blieb bis heute weitgehend wirkungslos. Rathenaus Idee einer Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft hingegen wurde 1957 Wirklichkeit. Aus ihr erwuchs 1992 schließlich die Europäische Union.
^ Walther Rathenau, vermutlich Berlin, ca. 1920, © Jüdisches Museum Berlin
< Walter Rathenau, Gesammelte Schriften Bd. 1, 1918, Ausschnitt, © Günter Kassegger
> Gedenkstein für die Mörder Rathenaus in Saaleck, 2012, © Torsten Biel
Rathenau hat weder die Europäische Einigung noch den Zweiten Weltkrieg erlebt. Er wurde von der völkischen Rechten der Weimarer Republik als „Erfüllungspolitiker“ bezeichnet, sein Wirken als Minister als Beleg für die „Macht des internationalen Judentums“ interpretiert, seine Verhandlungen mit Russland als „jüdischer Bolschewismus“ diffamiert. Der Hass der extremen Rechten auf alles, wofür Rathenau stand, entlud sich nicht nur im Skandieren der Parole „Knallt ab den Walter Rathenau, die gottverdammte Judensau!“ Am 24. Juni 1922 wurde er von Mitgliedern der rechtsterroristischen „Organisation Consul“ tatsächlich ermordet.
Die Täter Erwin Kern und Hermann Fischer kamen bei der Festnahme in Saaleck in Sachsen-Anhalt um und wurden auf dem dortigen Friedhof verscharrt. Hitler ließ den „Helden“ ein Denkmal errichten, dessen Inschrift in DDR-Zeiten entfernt wurde. Nach der Wiedervereinigung wurde das Grab zu einer Wallfahrtsstätte für Neonazis. Das Militär transportierte den Stein daraufhin ab und die Kirchengemeinde schloss den Grabplatz. 2012, zum 90. Todestag der Mörder, wurde dort von Unbekannten ein Findling deponiert, der – in runenähnlicher Schrift – die Namen der beiden trägt.
Michael Miller (Wien) über antisemitische Schuldzuweisungen nach dem 1. Weltkrieg und die Paneuropa-Bewegung: