Europäisches Tagebuch, 2. März 2023: Heute vor 123 Jahren wurde Gerald Reitlinger geboren.
von Hanno Loewy
Aus einem Archäologen und Kunstsammler wurde ein Historiker des Holocaust. Das Leben Gerald Reitlingers führte ihn zunächst in die alte Vergangenheit Asiens, bevor ihn die jüngste Vergangenheit Europas dazu brachte, sich in die Archive der Täter zu versenken.
Geboren wurde der jüngste Sohn von Albert Reitlinger und Emma Brunner – die aus der gleichnamigen Hohenemser Familie stammte – am 2. März 1900 in London. Nach seinem Kunststudium an Londoner Akademien und der Kulturwissenschaften in Oxford nahm Reitlinger 1930-31 an Ausgrabungen im Irak teil, unternahm Forschungsreisen in den Iran, die Türkei und nach China. 1932 erschien sein Buch A Tower of Skulls. A Journey Through Persia and Turkish Armenia. Daneben sammelte er mit Begeisterung syrische wie persische Keramik – und lebte das Leben eines exzentrischen Connaisseurs, der für seinen galligen Humor bekannt war.
Im Zweiten Weltkrieg diente er in der britischen Armee zunächst in der Luftabwehr, dann als Ausbilder. Doch nach 1945 widmete er sein Leben der Erforschung des Holocaust. 1953 veröffentlichte er in London die erste Gesamtdarstellung der Schoa: The Final Solution. Betroffen und skeptisch stellt er den nationalen Gedächtnisverlust in Frage, der die ehemaligen Täterländer bald flächendeckend erfasst hatte. Das Münchner Institut für Zeitgeschichte lehnte es ab, Reitlingers Buch zu veröffentlichen. Man wollte sich in der Aufarbeitung des Nationalsozialismus nicht von „außen“ stören lassen. Das Buch erschien schließlich trotzdem auf Deutsch unter dem Titel Endlösung. 1956 folgte seine Studie über The SS. Alibi of a Nation 1922-1945. Das Buch bekam von seinem deutschen Verlag freilich einen weniger sarkastischen Titel verpasst, um sie dem deutschen Publikum schmackhaft zu machen: Die SS – Tragödie einer deutschen Epoche. Noch ein drittes Buch über die NS-Verbrechen folgte. The House Built on Sand. The Conflicts of German Policy in Russia 1939–1945 erschien 1960 in London, und unter dem Titel Ein Haus auf Sand gebaut. Hitlers Gewaltpolitik in Russland 1941–1944 auch auf Deutsch.
Reitlinger schrieb über den Holocaust mit unbestechlichem Blick. Aber selbst dem Studium der monströsen Aktenbestände der SS gewann er mit bissigem Sarkasmus einen schwachen Optimismus ab: „Hiob wünschte in seinem Elend, sein Widersacher möge ein Buch schreiben, und sein Gebet wurde erhört, denn es gibt in Wahrheit nichts, das dieser Widersacher nicht zu Papier gebracht hätte. Ich habe fast volle vier Jahre unter diesen Urkunden verbracht und habe ihre Gesellschaft nicht nur düster oder niederdrückend gefunden. Denn auf vielen Seiten huscht und glimmt etwas, ohne das jede Regierung eine Hölle auf Erden wäre – menschliche Fehlbarkeit. (…) Es kann sein, daß mörderisches Rassegefühl unausrottbar in der Natur von Ameisen und Menschen liegt; der Roboterstaat jedoch, der ihm vollen Ausdruck geben würde, kann und wird niemals von Bestand sein.“
Und doch endet sein Buch mit unbequemen Fragen und zugleich mit einer großbürgerlichen Sehnsucht nach „alten Werten“:
„Ist die Beseitigung von auserlesenen Opfern etwas, das geradezu in der Natur des übermächtigen modernen ‚demokratischen‘ Staates verborgen liegt? Kann es wieder geschehen, und kann es in andern Ländern geschehen? Es mag lange dauern, bevor wir die Antwort auf diese Fragen kennen, die wie ein roter Faden durch dieses ‚Postmortem‘ über die Endlösung laufen.
Es ist schwer zu glauben, daß es in Deutschland oder im deutschbesetzten Teil Europas einen Menschen gab, der im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte war und während der letzten zwei Jahre des Krieges nicht wußte, daß die meisten Juden verschwunden waren, oder nicht irgendwo gehört hätte, daß sie erschossen oder vergast worden sind. Ebensowenig nehme ich an, daß es einen Menschen gab, der nicht einen Freund hatte, der jemanden kannte, der ein Massaker gesehen hatte. Mehr als hundert Millionen Menschen müssen von diesen Dingen gewußt und über sie im Flüsterton mit andern gesprochen haben. (…) Der Deutsche von 1933 war eine Art Karikatur der europäischen Zivilisation, die um so leichtfertiger, habgieriger und unkritischer wurde, je mehr materieller Fortschritt die alten Werte untergrub.“
Nach seinen drei Büchern über die NS-Verbrechen kehrte Reitlinger zur Kunst- und Kulturgeschichte zurück. Sein dreibändiges Werk The Economics of Taste (1961-1970) widmet sich der Geschichte des Kunstmarktes von 1760 bis zur Gegenwart. Seine eigene, bedeutende Sammlung, die kurz vor seinem Tod 1978 durch ein Feuer in seinem Haus beschädigt wurde, vermachte er dem Ashmolean Museum in Oxford, wo sie heute die „Gerald Reitlinger Gallery“ bildet.