Europäisches Tagebuch, 3.10.2020: In Catania beginnt heute der Prozess gegen den italienischen Ex-Innenminister Matteo Salvini, wegen Freiheitsberaubung mit der Anhörung des mittlerweile aus der Opposition agierenden rechtsradikalen Führers. Salvini hatte im Juli 2019 einem Schiff der italienischen Küstenwache die Einfahrt in den Hafen Augusta auf Sizilien verweigert. Auf dem Schiff befanden sich 131 aus Seenot gerettete Bootsflüchtlinge. Das zuständige Gericht in Catania sah damit den Straftatbestand der Freiheitsberaubung gegeben, auf den eine Höchststrafe von 15 Jahre Haft steht. Im Februar stimmte der römische Senat mehrheitlich für die Aufhebung von Salvinis Immunität – als die Koalition zwischen Salvinis rechter Lega Nord und der Fünf-Sterne-Bewegung schon Geschichte war. Salvini, der im Zeichen der Corona-Krise in den Umfragen abgestürzt ist, nutzt den Prozess jedenfalls für seinen Dauerwahlkampf. Seit Tagen mobilisiert er auf Sizilien mit flammenden Reden und Verdi-Arien vom Band. „Vincerò“ – „Ich werde siegen“. Er habe nur die Grenzen und die Ehre Italiens verteidigt, in dem er 130 Menschen als Geiseln seiner rechtsradikalen Politik nahm. Eine Verurteilung Salvinis gilt dennoch als unwahrscheinlich – und so wird ihm der Prozess vermutlich auch noch helfen an seinem Comeback zu arbeiten.
Europäisches Tagebuch, 3.10.2019: Die Kapitänin des Seenotrettungsschiffes Sea-Watch 3, Carola Rackete, hielt heute eine Rede vor dem Europäischen Parlament in Brüssel, im Rahmen einer Anhörung des Innenausschusses – und erhielt von einem Teil der Abgeordneten stehende Ovationen. Der ORF berichtete ausführlich über diesen ungewöhnlichen Anlass:
„Ich wurde empfangen wie ein Schiff, das die Pest nach Europa bringt“, sagte Rackete am Donnerstag im Innenausschuss des Parlaments. „Es war schwer, eine EU-Bürgerin zu sein in diesen Tagen. Ich habe mich geschämt.“ Die Anhörung von Rackete fand am sechsten Jahrestag der Flüchtlingstragödie von Lampedusa statt, bei der 366 Menschen ums Leben gekommen waren. Während die Abgeordneten der Tragödie mit einer Schweigeminute gedachten, betonte Rackete, dass sich seitdem nicht viel geändert habe.
Die deutsche Aktivistin schilderte in eindringlichen Worten ihre Erfahrungen als Seenotretterin, etwa als ihr Schiff auf ein Wrack traf, um das herum Leichen trieben. Einige hätten einander in den Armen gehalten, als sie starben, „die Körper untrennbar verbunden“. Sie habe auch drei Kinder gesehen, „die die Leiche eines Babys im Arm hielten. Dann sangen einige für dieses Baby und schaukelten es, als wäre es noch am Leben.“
Keine dieser Erfahrungen sei aber so schlimm gewesen wie die „Frustration“, 70 Tage lang mit geretteten Menschen auf der „Sea-Watch 3“ im Mittelmeer unterwegs zu sein „und den Menschen zu erklären, dass Europa sie nicht wollte, Europa, das Symbol der Menschenrechte“. Rackete verteidigte in diesem Zusammenhang neuerlich ihre Entscheidung, den Hafen von Lampedusa anzusteuern. „Das war keine Provokation“, so Rackete. „Das hätte ich viel früher tun sollen”, sagte Rackete und verwies auf den Schutz von Menschenleben. „Ja, ich würde es jederzeit wieder tun. Menschen sterben jeden Tag, natürlich würde ich es wieder tun“, antwortete sie später auf eine entsprechende Frage.
Bei ihrer Landung gegen den Willen der italienischen Regierung in Lampedusa habe sie „viel ungewollte Aufmerksamkeit“ bekommen, so Rackete vor den Abgeordneten. „Aber wo waren Sie, als wir nach Hilfe gerufen haben, über alle möglichen Kanäle, wo waren Sie, als wir nach einem sicheren Ort gefragt haben? Man hat mir Tripolis genannt, die Hauptstadt eines Landes, in dem Bürgerkrieg herrscht“, kritisierte sie. „Wenn wir wirklich besorgt sind über Folter in Libyen, muss Europa die Kooperation mit der libyschen Küstenwache einstellen“, forderte Rackete unter dem Applaus der Abgeordneten.
In ihrer Rede erinnerte Rackete an die Flüchtlingstragödie mit Hunderten Toten vor Lampedusa. „Sechs Jahre sind vergangen, und statt dass ähnliche Tragödien vermieden werden, hat die EU ihre Verantwortung externalisiert und an Libyen delegiert, wobei Völkerrecht gebrochen wird.“ Es gebe aber „Hoffnung“, nämlich die Aktionen der zivilgesellschaftlichen Organisationen.
Rackete forderte einen radikalen Systemwandel im Umgang mit Migration. Eine Reform von Dublin sei „längst überfällig“, es brauche humanitäre Korridore und sichere und legale Routen nach Europa. „Eine Anlandung von geretteten Personen muss sich an das Recht halten und darf nicht Ad-hoc-Verhandlungen anheimgestellt werden.“
„Nach meiner Verhaftung gab es großes Interesse an der Seenotrettung. Ich hoffe, dass sich das in den Taten widerspiegeln wird. Ich hoffe auf echten Fortschritt und nicht, dass es für mich und viele Organisationen noch schwieriger wird”, so Rackete. „Wir müssen vorsichtig sein, was in den nächsten Wochen verhandelt wird, und sichergehen, dass unsere Forderungen durchgesetzt werden”, forderte sie die Abgeordneten auf.
In der Anhörung machten Vertreter von Frontex, EU-Kommission, EU-Grundrechteagentur sowie der italienische Küstenwache-Kapitän Andrea Tassara klar, dass die Rettung von Flüchtlingen im Mittelmeer nicht kriminalisiert werden dürfe. In der Debatte zeigten sich aber Differenzen. So pochten konservative Abgeordnete darauf, den Schleppern das Handwerk zu legen. Frontex-Direktor Fabrice Leggeri wich mehrmals der Frage aus, ob er Libyen als sicheren Drittstaat ansieht.
Der Direktor für Migration der EU-Kommission, Michael Shotter, wies darauf hin, dass seit Juni im Rahmen von Ad-hoc-Aktionen bereits über 1.000 Menschen an Land gehen konnten und an andere Mitgliedsstaaten sowie Norwegen verteilt wurden. „Wir brauchen jetzt einen zuverlässigen und ständigen Such- und Rettungseinsatz anstelle von Ad-hoc-Aktionen“, sagte Shotter. Daher sei es „wichtig“, dass sich nach der Einigung von Malta weitere Mitgliedsstaaten daran beteiligen und „Solidarität“ zeigen.
Der Vorsitzende des Innenausschusses, der spanische Sozialist Juan Fernando Lopez Aguilar, pochte ebenfalls auf klare Regeln, die eine Kriminalisierung von Seenotrettung verhindern. Der Ausschuss werde diesbezüglich eine Entschließung ausarbeiten, die dann bei der kommenden Plenartagung des Europaparlaments angenommen werden soll.
Einen Kontrapunkt setzten Abgeordnete von rechtspopulistischen Parteien wie der Slowake Milan Uhrik, der Rackete selbst die Ausreise nach Afrika nahelegte. „Ich kann mich mit (dem früheren italienischen Innenminister Matteo, Anm.) Salvini nur identifizieren, der sagt, Sie sollten im Gefängnis sitzen“, sagte der Abgeordnete der Partei „Volkspartei – Unsere Slowakei“. Der deutsche Rechtspopulist Nicolas Fest legte nach, indem er Rackete fragte, ob sie es als Teil ihrer Aufgabe sehe, das Leben der Europäer „durch das Einschleusen von Folterern und Terroristen zu gefährden“. ÖVP-Delegationsleiterin Karoline Edtstadler übte in der Debatte wenig verhüllte Kritik an den Aktivitäten der Seenotretter. Man müsse das „Schleppergeschäft beenden“, sagte sie. „Ich frage mich einfach, wie wir dieses Geschäft beenden wollen, wenn die Rettung immer noch das Ticket nach Europa ist“, so die Ex-Staatssekretärin über die Frage nach dem „Pull-Faktor“ durch Rettungsaktionen. Die EU solle sich nicht in gute und schlechte Staaten „auseinanderdividieren lassen“, Edtstadler forderte die Etablierung eines Systems, „das nicht den Falschen in die Hände spielt“.
SPÖ-Europaabgeordnete Bettina Vollath forderte ein Ende der Kriminalisierung von Seenotrettern. „Es kann niemals und unter keinen Umständen kriminell sein, Menschen in Not zu helfen, sondern es ist eine moralische und rechtliche Verpflichtung“, betonte sie in einer Aussendung unter Verweis auf aktuelle Zahlen der Vereinten Nationen, wonach heuer bereits über 1.000 Menschen im Mittelmeer ertrunken seien und seit Anfang 2014 über 15.000 Menschen. „Es braucht legale Einreisewege, schnelle und rechtssichere Verfahren und Hilfe vor Ort, um die Fluchtursachen zu bekämpfen“, betonte sie.
Monika Vana, Österreichs Delegationsleiterin der Grünen, will ein EU-Seenotrettungsprogramm auf den Weg bringen. „Das Mittelmeer ist ein Massengrab für Schutzbedürftige, das ist eine Schande für die gesamte EU“, so Vana zu ORF.at. Sie sei für legale und sichere Einreisemöglichkeiten in die EU. Schleppern müsse das Handwerk gelegt und sichere Fluchtmöglichkeiten geschaffen werden. Der EU-Rat müsse unbedingt dem Frontex-Fonds „Search and Rescue zustimmen, der vorgestern vom Budgetausschuss des Europaparlaments vorgeschlagen wurde“, forderte Vana.
Laut dem EU-Abgeordneten Erik Marquardt von den deutschen Grünen wurde die „humanitäre Hilfe Teil eines politischen Spiels”: „Die EU sollte Schiffe ins Mittelmeer schicken, um Menschen zu retten. Das ist nicht nur eine Verantwortung der Kommission, sondern von jedem Mitgliedsstaat. Es sind nicht nur die Menschen, die im Mittelmeer ertrinken, sondern auch unsere europäischen Werte“, so Marquardt. (Quelle: https://orf.at/stories/3139594/)