René Samuel Cassin und die Menschenrechte

Europäisches Tagebuch, 5.10.2020: Heute vor 133 Jahren wurde in Bayonne René Samuel Cassin geboren, einer der engagiertesten Vorkämpfer der Menschenrechte im 20. Jahrhundert. 1968 wurde ihm für seine Verdienste der Friedensnobelpreis verliehen.

René Samuel Cassin

Cassins Vater Azarie Henri Cassin entstammte einer sefardischen, portugiesisch-marranischen Familie und war als Weinhändler in Nizza tätig. Seine Mutter Gabrielle Dreyfus stammte aus einer elsässisch-jüdischen Familie. Cassin zog als promovierter Jurist in den 1. Weltkrieg und kehrte schon im Oktober 1914 schwer verwundet zurück. Noch während des Krieges gründete er mit anderen Kriegsteilnehmern die Union fédérale, den französischen Verband der Kriegsopfer, dem er von 1922 als Präsident vorstehen sollte. 1921 und 1924 organisierte er Konferenzen von Kriegsversehrten und Veteranen, die für Verständigung und Friedensabkommen zwischen den verfeindeten Nationen eintraten. Er tat dies durchaus als französischer Patriot, der von einer universellen französischen Mission überzeugt war:

„Wir verkörpern seit Jahrhunderten ein Ideal der Freiheit, der Unabhängigkeit, der Menschlichkeit“, deshalb seien die Mitglieder der Union fédérale die „Vertreter der französischen Moral in der Welt“.

Als Professor ab 1920 in Lille, dann ab 1929 an der Sorbonne in Paris, lehrte er Völkerrecht. Vor allem aber war Cassin in unzähligen Nichtregierungsorganisationen und politischen Ämtern aktiv. Von 1924 bis 1938 vertrat er Frankreich beim Völkerbund. 1940 emigrierte er nach London und gründete mit Charles de Gaulle France Libre, die französische Exilarmee in den britischen Streitkräften. Von 1941 bis 1943 wurde er Nationalkommissar der Freien Französischen Regierung in London und 1944 gehörte er zu den Initiatoren des Französischen Komitees für die Nationale Befreiung in Algier und bereitete als Präsident deren juristischer Kommission die französische Gesetzgebung nach 1945 vor. 1944 wurde er Vizepräsident des französischen Staatsrates (bis 1960) und 1946 auch Präsident der französischen Elite-Hochschule École nationale d’Administration.

Von 1946 bis 1958 vertrat er Frankreich bei den Vereinten Nationen und gehörte zu den Begründern der UNESCO. Vor allem aber gehörte zum engsten Kreis der Verfasser der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen, zusammen u.a. mit Karim Azkoul, dem libanesischen Diplomaten und Philosophen.
Von 1959 bis 1968 schließlich war er Vizepräsident, dann Präsident des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes.

Eine Palästinareise in den 1930er Jahren, vielleicht auch sein sefardisches Familienerbe, hatte ihn dazu motiviert sich für die Förderung der arabisch-jüdischen Bevölkerung Palästinas einzusetzen. Nach 1945 wurde er neben seinen vielen anderen Ämtern auch Präsident der Alliance Israelite Universelle (die im 19. Jahrhundert die Ideale der französischen Revolution vertrat und europäische Bildung unter orientalischen Juden verbreiten sollte, nicht ohne eine gewisse Portion europäisch-kolonialen Hochmut).

„Hitlers Hauptziel war die Auslöschung der Juden“, schrieb Cassin, „aber ihre Vernichtung war auch Teil einer Attacke auf Alles, wofür die Französische Revolution stand: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und Menschenrechte. Hitlers Rassismus war im Kern ein Versuch, die Prinzipien der Französischen Revolution auszulöschen.“ Das hinderte Cassin zwar nicht, nach der Vernichtung des europäischen Judentums das jüdisch-nationale, zionistische Projekt zu unterstützen. Doch forderte er nach 1945 auch klare Einschränkungen nationaler Souveränität in allen Fragen der Menschenrechte, die vor jeder nationalen Gesetzgebung Vorrang haben müssten und auch mit Zwangsmaßnahmen durchgesetzt werden müssten.
Sein Eintreten für soziale Rechte weckte in den USA Misstrauen gegen ihn. Ein Beamter des State Department stand nicht an, ihn als „Kryptokommunisten“ zu bezeichnen. Doch neben seinem Engagement für die Menschenrechte und für die Ideale der Gleichheit, blieb Cassin in vielen gesellschaftspolitischen Fragen ein klassisch konservativer Liberaler. So hatte er gegenüber der rechtlichen Gleichstellung von Frauen eine eher zögerliche Haltung, ja er stimmte im französischen Exilparlament in Algier sogar gegen eine sofortige Einführung des aktiven und passiven Frauenwahlrechts.

Cassin starb am 20. Februar 1976 in Paris.

Die Stunde des Parlamentes

Europäisches Tagebuch, 6.10.2020: Gestern debattierte das Europäische Parlament den vorliegenden Bericht über die Demontage rechtsstaatlicher Prinzipien in einigen Mitgliedsländern. Eine turbulente Diskussion.
Seit Monaten ringen das Europäische Parlament und die Kommission um eine klare Linie gegenüber jenen Europäischen Staaten, die sich von rechtstaatlichen Standards verabschieden , auf dem Weg zur „illiberalen Demokratie“, also Staaten ohne freie Presse, ohne unabhängige Justiz, ohne Schutz von Minderheiten vor Willkür, Diskriminierung oder Verhetzung, ohne das politische Korrektiv einer wachen Zivilgesellschaft – Staaten also in denen das Volk nur noch an die Urne gerufen wird, um seine Führer im Amt zu bestätigen, die ohnehin schon vor der Wahl verkünden, dass sie auch bei einer Wahlniederlage nicht abtreten werden.
Ende September hat die Europäische Kommission erstmals einen EU-weiten Bericht über die Situation der Rechtstaatlichkeit in den einzelnen Mitgliedstaaten veröffentlicht, der wie erwartet besorgniserregend ausfällt. Dabei weist der Bericht nicht nur auf die wachsende staatliche „Kontrolle“ von Presse und Justiz in Ländern wie Ungarn und Polen hin, sondern auch auf erhebliche Defizite in Bereichen wie Korruptionsbekämpfung oder Gewaltenteilung, auch in anderen Staaten wie Bulgarien, Malta, Tschechien, Kroatien, der Slowakei oder Rumänien. Kommissionspräsidentin von der Leyen war bemüht, diplomatisch zu bleiben. „Wenngleich wir in der EU sehr hohe Standards in Bezug auf die Rechtsstaatlichkeit haben, besteht an verschiedenen Stellen Handlungsbedarf.“ Man werde „weiterhin mit den Mitgliedstaaten an Lösungen arbeiten“. Vizepräsidentin Véra Jourová wurde in einem Spiegel-Interview zuvor schon deutlicher, und bezeichnete Ungarn als „kranke Demokratie“, was ihr prompt Rücktrittsforderungen aus Budapest eintrug.

Im Zuge des 1,8 Milliarden Euro Deals der EU Kommission, mit dem die europäische Wirtschaft und insbesondere die am schwersten betroffenen Staaten nach dem Corona-Einbruch wieder in Schwung gebracht werden soll, hatten Kommission und Parlament auch einen wirksamen Mechanismus versprochen, um die Einhaltung rechtstaatlicher Regeln einzufordern. Polen und Ungarn haben von Anfang an deutlich gemacht, was sie davon halten – und im Rat eine Blockade der Wirtschaftshilfen angedroht. Hilfen von denen sie freilich selbst ebenfalls stark profitieren würden. Die deutsche Ratspräsidentschaft hat vor einer Woche einen Kompromissvorschlag vorgelegt, der eher den Eindruck eines zahnlosen Tigers macht. Kürzungen von EU-Finanzhilfen wären damit nur nach der Feststellung möglich, dass Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit auch direkte Auswirkungen auf den Umgang mit Geld der EU haben. Die EU-Kommission wollte einen durchaus härteren Weg gehen und den Zugang zu Finanzmitteln generell von der Einhaltung der Rechtstaatlichkeit abhängig machen. Doch auch der deutsche Kompromissvorschlag, der im Zweifelsfall wohl völlig wirkungslos bleiben würde, scheitert natürlich am Veto aus Budapest und Warschau.
Doch auch die Niederlande, Belgien, Schweden, Dänemark und Finnland stimmen gegen die deutsche Vermittlung. Ihnen geht der Vorschlag verständlicherweise nicht weit genug.
Und so rüstet sich nun das EU-Parlament in dieser Frage endlich auch ins Spiel zu kommen.

Katarina Barley, die deutsche stellvertretende Präsidentin des EU-Parlaments erklärt dem Deutschlandfunk, dass man sich von Ungarn und Polen und ihrer Drohung, das ganze Budget platzen zu lassen keineswegs erpressen lassen will. „Wenn wir jetzt die Rechtsstaatlichkeit aufgeben, dann haben wir für die weiteren sieben Jahre Verhältnisse in der EU, wie sie unsere Bürgerinnen und Bürger auch nicht wollen, denn unsere Steuergelder gehen dann an Regime wie das von Orbán und Kaczynski, die sich vor allen Dingen Geld in die eigene Tasche schaufeln, aber ihre Länder zu Demokratien umbauen, die mit den Werten der EU nichts mehr zu tun haben.“ Schließlich wäre Ungarn auf die EU finanziell angewiesen.

In der Parlamentsdebatte gestern hielt der slowakische Abgeordnete und Berichterstatter des Parlaments zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, Michal Simecka, eine bewegende Rede. Ungarn sei keine Demokratie mehr, und Polen auf dem Wege dazu. Auch Bulgarien sei auf einem gefährlichen Weg, dort würden Menschen seit drei Monate erfolglos gegen die grassierende Korruption der Regierung protestieren. Er selbst hätte vor 1989 schon erlebt, was es heißt, wenn Menschen willkürlich verhaftet werden oder ihre Arbeit verlieren, weil sie ihre Meinung sagen. Das Bild der EU als „Garant für Demokratie“ sei stark beschädigt. Nur ein „besseres Monitoring“ wie es die EU-Kommission fordere reiche nicht. Die „Herrschaft des Rechts“ müsse auch durchgesetzt werden können. Die im Bericht kritisierten Regierungen reagierten unterschiedlich, während Bulgarien und Rumänien weitere Reformen im Sinne der EU-Empfehlungen ankündigten, griffen Polen und Ungarn die EU frontal an und wiesen jede Kritik zurück. Morgen wird über den Bericht im Parlament abgestimmt. Eine breite Zustimmung wird erwartet. Dann wird sich zeigen, ob das Parlament gegenüber dem Europäischen Rat, in dem Länder wie Polen oder Ungarn mit ihrem Veto-Recht gegen das Hilfs-Budget drohen, auch standhaft bleibt.

Im Internet rücken derweilen die treuesten Freunde von Orbans“ neuer Demokratie“ schon zum Entsatz aus, allen voran Henryk Broder, der sich im rechten Bloggerparadies „Achse des Guten“ über die „Domina“ Barley lustig machen darf. Sexismus darf bei diesem Männerbund ja nicht fehlen.

Die Eröffnung

Europäisches Tagebuch, 4.10.2020:
Unsere Ausstellung Die letzten Europäer. Jüdische Perspektiven auf die Krisen einer Idee | Die Familie Brunner. Ein Nachlass hat begonnen. Unter Corona-Bedingungen eine ungewohnte Eröffnung vor kleinem Publikum – mit gebührendem Abstand und Platzbeschränkung, wie es die Situation erfordert. Alles ist eben etwas anders im Moment.
Dafür nahmen viele Gäste am Livestream teil und nun sind die Eröffnungsreden von Bürgermeister Dieter Egger, Landesstatthalterin Barbara Schöbi-Fink, Aleida Assmann, Ariel Brunner, Hannes Sulzenbacher und Felicitas Heimann-Jelinek – wie auch der Film von Ronny Kokert über Moria im Februar 2020 – auf unserem youtube-Kanal zu sehen. Hineinschauen und Hineinhören lohnt sich, viel überraschendes ist da zu entdecken. Wir freuen uns auf anregende Diskussionen in unserem Haus.

 

Hier einige Impressionen vom ersten Tag, eingefangen von Dietmar Walser.

Foto: Dietmar Walser

Foto: Dietmar Walser

“wie ein Schiff, das die Pest nach Europa bringt”?

Europäisches Tagebuch, 3.10.2020: In Catania beginnt heute der Prozess gegen den italienischen Ex-Innenminister Matteo Salvini, wegen Freiheitsberaubung mit der Anhörung des mittlerweile aus der Opposition agierenden rechtsradikalen Führers. Salvini hatte im Juli 2019 einem Schiff der italienischen Küstenwache die Einfahrt in den Hafen Augusta auf Sizilien verweigert. Auf dem Schiff befanden sich 131 aus Seenot gerettete Bootsflüchtlinge. Das zuständige Gericht in Catania sah damit den Straftatbestand der Freiheitsberaubung gegeben, auf den eine Höchststrafe von 15 Jahre Haft steht. Im Februar stimmte der römische Senat mehrheitlich für die Aufhebung von Salvinis Immunität – als die Koalition zwischen Salvinis rechter Lega Nord und der Fünf-Sterne-Bewegung schon Geschichte war. Salvini, der im Zeichen der Corona-Krise in den Umfragen abgestürzt ist, nutzt den Prozess jedenfalls für seinen Dauerwahlkampf. Seit Tagen mobilisiert er auf Sizilien mit flammenden Reden und Verdi-Arien vom Band. „Vincerò“ – „Ich werde siegen“. Er habe nur die Grenzen und die Ehre Italiens verteidigt, in dem er 130 Menschen als Geiseln seiner rechtsradikalen Politik nahm. Eine Verurteilung Salvinis gilt dennoch als unwahrscheinlich – und so wird ihm der Prozess vermutlich auch noch helfen an seinem Comeback zu arbeiten.

Europäisches Tagebuch, 3.10.2019: Die Kapitänin des Seenotrettungsschiffes Sea-Watch 3, Carola Rackete, hielt heute eine Rede vor dem Europäischen Parlament in Brüssel, im Rahmen einer Anhörung des Innenausschusses – und erhielt von einem Teil der Abgeordneten stehende Ovationen. Der ORF berichtete ausführlich über diesen ungewöhnlichen Anlass:

„Ich wurde empfangen wie ein Schiff, das die Pest nach Europa bringt“, sagte Rackete am Donnerstag im Innenausschuss des Parlaments. „Es war schwer, eine EU-Bürgerin zu sein in diesen Tagen. Ich habe mich geschämt.“ Die Anhörung von Rackete fand am sechsten Jahrestag der Flüchtlingstragödie von Lampedusa statt, bei der 366 Menschen ums Leben gekommen waren. Während die Abgeordneten der Tragödie mit einer Schweigeminute gedachten, betonte Rackete, dass sich seitdem nicht viel geändert habe.
Die deutsche Aktivistin schilderte in eindringlichen Worten ihre Erfahrungen als Seenotretterin, etwa als ihr Schiff auf ein Wrack traf, um das herum Leichen trieben. Einige hätten einander in den Armen gehalten, als sie starben, „die Körper untrennbar verbunden“. Sie habe auch drei Kinder gesehen, „die die Leiche eines Babys im Arm hielten. Dann sangen einige für dieses Baby und schaukelten es, als wäre es noch am Leben.“
Keine dieser Erfahrungen sei aber so schlimm gewesen wie die „Frustration“, 70 Tage lang mit geretteten Menschen auf der „Sea-Watch 3“ im Mittelmeer unterwegs zu sein „und den Menschen zu erklären, dass Europa sie nicht wollte, Europa, das Symbol der Menschenrechte“. Rackete verteidigte in diesem Zusammenhang neuerlich ihre Entscheidung, den Hafen von Lampedusa anzusteuern. „Das war keine Provokation“, so Rackete. „Das hätte ich viel früher tun sollen”, sagte Rackete und verwies auf den Schutz von Menschenleben. „Ja, ich würde es jederzeit wieder tun. Menschen sterben jeden Tag, natürlich würde ich es wieder tun“, antwortete sie später auf eine entsprechende Frage.

Bei ihrer Landung gegen den Willen der italienischen Regierung in Lampedusa habe sie „viel ungewollte Aufmerksamkeit“ bekommen, so Rackete vor den Abgeordneten. „Aber wo waren Sie, als wir nach Hilfe gerufen haben, über alle möglichen Kanäle, wo waren Sie, als wir nach einem sicheren Ort gefragt haben? Man hat mir Tripolis genannt, die Hauptstadt eines Landes, in dem Bürgerkrieg herrscht“, kritisierte sie. „Wenn wir wirklich besorgt sind über Folter in Libyen, muss Europa die Kooperation mit der libyschen Küstenwache einstellen“, forderte Rackete unter dem Applaus der Abgeordneten.
In ihrer Rede erinnerte Rackete an die Flüchtlingstragödie mit Hunderten Toten vor Lampedusa. „Sechs Jahre sind vergangen, und statt dass ähnliche Tragödien vermieden werden, hat die EU ihre Verantwortung externalisiert und an Libyen delegiert, wobei Völkerrecht gebrochen wird.“ Es gebe aber „Hoffnung“, nämlich die Aktionen der zivilgesellschaftlichen Organisationen.

Rackete forderte einen radikalen Systemwandel im Umgang mit Migration. Eine Reform von Dublin sei „längst überfällig“, es brauche humanitäre Korridore und sichere und legale Routen nach Europa. „Eine Anlandung von geretteten Personen muss sich an das Recht halten und darf nicht Ad-hoc-Verhandlungen anheimgestellt werden.“

„Nach meiner Verhaftung gab es großes Interesse an der Seenotrettung. Ich hoffe, dass sich das in den Taten widerspiegeln wird. Ich hoffe auf echten Fortschritt und nicht, dass es für mich und viele Organisationen noch schwieriger wird”, so Rackete. „Wir müssen vorsichtig sein, was in den nächsten Wochen verhandelt wird, und sichergehen, dass unsere Forderungen durchgesetzt werden”, forderte sie die Abgeordneten auf.
In der Anhörung machten Vertreter von Frontex, EU-Kommission, EU-Grundrechteagentur sowie der italienische Küstenwache-Kapitän Andrea Tassara klar, dass die Rettung von Flüchtlingen im Mittelmeer nicht kriminalisiert werden dürfe. In der Debatte zeigten sich aber Differenzen. So pochten konservative Abgeordnete darauf, den Schleppern das Handwerk zu legen. Frontex-Direktor Fabrice Leggeri wich mehrmals der Frage aus, ob er Libyen als sicheren Drittstaat ansieht.
Der Direktor für Migration der EU-Kommission, Michael Shotter, wies darauf hin, dass seit Juni im Rahmen von Ad-hoc-Aktionen bereits über 1.000 Menschen an Land gehen konnten und an andere Mitgliedsstaaten sowie Norwegen verteilt wurden. „Wir brauchen jetzt einen zuverlässigen und ständigen Such- und Rettungseinsatz anstelle von Ad-hoc-Aktionen“, sagte Shotter. Daher sei es „wichtig“, dass sich nach der Einigung von Malta weitere Mitgliedsstaaten daran beteiligen und „Solidarität“ zeigen.
Der Vorsitzende des Innenausschusses, der spanische Sozialist Juan Fernando Lopez Aguilar, pochte ebenfalls auf klare Regeln, die eine Kriminalisierung von Seenotrettung verhindern. Der Ausschuss werde diesbezüglich eine Entschließung ausarbeiten, die dann bei der kommenden Plenartagung des Europaparlaments angenommen werden soll.

Einen Kontrapunkt setzten Abgeordnete von rechtspopulistischen Parteien wie der Slowake Milan Uhrik, der Rackete selbst die Ausreise nach Afrika nahelegte. „Ich kann mich mit (dem früheren italienischen Innenminister Matteo, Anm.) Salvini nur identifizieren, der sagt, Sie sollten im Gefängnis sitzen“, sagte der Abgeordnete der Partei „Volkspartei – Unsere Slowakei“. Der deutsche Rechtspopulist Nicolas Fest legte nach, indem er Rackete fragte, ob sie es als Teil ihrer Aufgabe sehe, das Leben der Europäer „durch das Einschleusen von Folterern und Terroristen zu gefährden“. ÖVP-Delegationsleiterin Karoline Edtstadler übte in der Debatte wenig verhüllte Kritik an den Aktivitäten der Seenotretter. Man müsse das „Schleppergeschäft beenden“, sagte sie. „Ich frage mich einfach, wie wir dieses Geschäft beenden wollen, wenn die Rettung immer noch das Ticket nach Europa ist“, so die Ex-Staatssekretärin über die Frage nach dem „Pull-Faktor“ durch Rettungsaktionen. Die EU solle sich nicht in gute und schlechte Staaten „auseinanderdividieren lassen“, Edtstadler forderte die Etablierung eines Systems, „das nicht den Falschen in die Hände spielt“.

SPÖ-Europaabgeordnete Bettina Vollath forderte ein Ende der Kriminalisierung von Seenotrettern. „Es kann niemals und unter keinen Umständen kriminell sein, Menschen in Not zu helfen, sondern es ist eine moralische und rechtliche Verpflichtung“, betonte sie in einer Aussendung unter Verweis auf aktuelle Zahlen der Vereinten Nationen, wonach heuer bereits über 1.000 Menschen im Mittelmeer ertrunken seien und seit Anfang 2014 über 15.000 Menschen. „Es braucht legale Einreisewege, schnelle und rechtssichere Verfahren und Hilfe vor Ort, um die Fluchtursachen zu bekämpfen“, betonte sie.
Monika Vana, Österreichs Delegationsleiterin der Grünen, will ein EU-Seenotrettungsprogramm auf den Weg bringen. „Das Mittelmeer ist ein Massengrab für Schutzbedürftige, das ist eine Schande für die gesamte EU“, so Vana zu ORF.at. Sie sei für legale und sichere Einreisemöglichkeiten in die EU. Schleppern müsse das Handwerk gelegt und sichere Fluchtmöglichkeiten geschaffen werden. Der EU-Rat müsse unbedingt dem Frontex-Fonds „Search and Rescue zustimmen, der vorgestern vom Budgetausschuss des Europaparlaments vorgeschlagen wurde“, forderte Vana.
Laut dem EU-Abgeordneten Erik Marquardt von den deutschen Grünen wurde die „humanitäre Hilfe Teil eines politischen Spiels”: „Die EU sollte Schiffe ins Mittelmeer schicken, um Menschen zu retten. Das ist nicht nur eine Verantwortung der Kommission, sondern von jedem Mitgliedsstaat. Es sind nicht nur die Menschen, die im Mittelmeer ertrinken, sondern auch unsere europäischen Werte“, so Marquardt. (Quelle: https://orf.at/stories/3139594/)

Die Lümmel von der ersten Bank

Europäisches Tagebuch, 16.9.2020: Meine ersten Kinoerlebnisse waren „Hurra, hurra die Schule brennt“ und „Die Lümmel von der ersten Bank“. Verzogene Bengel aus wohlhabenden Familien, die man trotzdem irgendwie mochte. Wirkliche Rebellen waren das allerdings nicht. Wenn die Streiche nichts halfen, dann musste Pepe Nietnagels Vater halt den Direktor der Schule bestechen.
Nicht lustig hingegen ist das, was die Schulbuben in der österreichischen Regierung treiben. Nicht einmal einen halbwegs plausiblen Antrag an die EU-Kommission können sie schicken, wenn sie von den möglichen Ausnahmeregelungen in Sachen Wettbewerbsgerechtigkeit in der EU profitieren wollen. Eigentlich wichtig genug, um sich ein bissel Mühe zu geben.
Schon vor einigen Tagen hat Finanzminister Gernot Blümel mal wieder auf die EU geschimpft, weil sie die Verlängerung und Ausweitung der großzügigen Wirtschaftshilfen an notleidende Betriebe (Fixkostenzuschüsse) blockieren würden. Nun traf man sich gestern in Wien, interessanter Weise vor eingeladenen Pressevertretern, um die Unstimmigkeiten mit dem EU-Vertreter in Wien, Martin Selmayr, zu besprechen. Der Austria Presseagentur und dem Standard verdanken wir nähere Einblicke in eine, aus österreichischer Sicht wohl ziemlich missglückte Übung in Message Control. Martin Selmayr nämlich war sichtlich not amused, auch darum, weil er statt zunächst einmal die Einwände der EU erläutern zu dürfen, als letzter drankam. Die Lümmel von der ersten Bank mussten erst einmal der Presse ihre eigene Interpretation der finsteren EU-Machenschaften zum Besten geben. Martin Selmayr, selbst ein durchaus konservativer Politiker, musste sichtlich an sich halten, damit ihm nicht der Kragen platzte. Und wies die Schulbuben darauf hin, dass sie einfach nur einen rechtlich sauberen Antrag stellen müssten. 

Und das im Übrigen eigentlich heute, also gestern, der letzte Tag dafür sei. Zeit genug die Hausaufgaben zu machen, sei seit Anfang August gewesen, als die Bedenken der EU-Kommission dem österreichischen Finanzminister übermittelt wurden. „Wenn heute die Notifizierung so erfolgt, wie von Frau Vestager (der Wirtschaftskommissarin) vergangenen Freitag angeregt, dann ist das morgen erledigt“, sagte Selmayr. Ein entsprechender Antrag sei, „wenn sich drei intelligente Leute zusammensetzen, innerhalb einer halben Stunde“ gemacht. Er wünsche sich, dass Finanzministerium und Kommission, „das heute Nachmittag noch hinbekommen“. Und bietet wirksame Nachhilfe an: Es gebe drei Lösungsmöglichkeiten, auch „wenn es am letzten Tag recht knapp“ sei. Dann ließ es sich Selmayer doch nicht nehmen, den ursprünglichen Antrag Blümels im Detail zu zerpflücken und öffentlich vorzuführen, was für eine unprofessionelle Schluderei da abgeliefert worden sei. Was wiederum Gernot Blümel und Tourismusministerin Elisabeth Köstinger nicht amüsierte. 

Selmayr erklärte ihnen coram publico wie man einen Antrag schreibt. Was in Zeiten des Lockdowns möglich war, nämlich alles auf eine Naturkatastrophe zu schieben und so zu tun, als gäbe es überhaupt keine Umsätze, das entspräche heute ja nicht mehr den Gegebenheiten. Die Grundlage für den Antrag müsse nun der Hinweis auf die schwere Wirtschaftskrise sein, die die Pandemie ausgelöst habe: „Dann kann die Kommission sofort genehmigen. Es geht darum: Können wir rechtlich zuverlässig vorübergehend Beihilfen genehmigen?“ Es sei schon besser, wenn man den Antrag gleich richtig formuliert, statt hinterher nachzubessern. 

Der ertappte Blümel wurde patzig. „Ich bitte Sie, hören Sie auf mit diesen Paragrafen; ich weiß schon, dass man auf Rechtliches achten muss“, so Blümel. „Es geht um österreichisches, nicht europäisches Steuergeld, das eingesetzt werden soll.“ 

Martin Selmayr bewies weiterhin seine Engelsgeduld und gab noch einmal den Rat, doch einfach zusammenzuarbeiten, statt stur an einem nicht genehmigungsfähigen Antrag festzuhalten. Und er gab auch den anwesenden Unternehmensvertretern recht, die ihr Leid klagten, und wiederholte ein ums andere mal, dass ihnen Hilfe zusteht, auch in der geplanten Höhe. Es müssten nur, ja auch die Schulbuben in Wien müssten halt einfach nur „ordentlich“ arbeiten, so wie jeder andere auch. 

Gernot Blümel zeigte sich offenkundig desinteressiert daran, dass gemeinsame und rechtswirksame Regeln in der EU auch für Österreich gelten, und zwar auch dann, wenn es um „österreichisches Steuergeld“ geht. Genau dafür sind diese gemeinsamen Regeln, von denen Österreich nicht zuletzt auf den ost- und mitteleuropäischen Märkten bis jetzt besonders profitiert hat, nämlich eigentlich da. 

Oder ist diese Lümmelei Kalkül, die Lust mit dem Feuer zu spielen um weiterhin EU-feindliche Stimmung anzufachen. Und ist es nicht besser die Probleme der österreichischen Regierung und ihrer Behörden mit den eh schon laufenden Förderprogrammen in der Krise kurzerhand Brüssel umzuhängen? Schließlich ist Wahlkampf in Wien.
Und wenn alles nichts hilft, dann kann ja der Papa den Direktor bestechen…

Ein bisschen mehr…

Europäisches Tagebuch, 18.9.2020:
Es geht doch. Oder jedenfalls ein bisschen. Frei nach Claude Juncker: „Ein bisschen mehr wäre etwas weniger weniger“.
Deutschland will nun offenbar zusätzlich 1553 Flüchtlinge aus dem abgebrannten Lager Moria aufnehmen. Lange Zeit gab es keine Bewegung zwischen Innenminister Seehofer und den insgesamt 150 deutschen Städten und Kommunen (incl. Berlin), die forderten, Flüchtlinge aufnehmen zu dürfen. Immer wieder war davon die Rede, dass es keinen deutschen Alleingang geben dürfe. Nach der Katastrophe auf Lesbos haben sich nun Kanzlerin Merkel, Innenminister Seehofer und Vertreter der SPD doch über ein anderes Vorgehen einigen können. Die mehr als 1500 Flüchtlinge aus Moria sollen insgesamt 408 Familien umfassen, darunter auch schon anerkannte Flüchtlinge, die trotz Asylstatus aufgrund der griechischen Asylpolitik und der immer noch hochgehaltenen „Dublin-Regeln“ auf Lesbos festsaßen. 
Das Problem ist in Wahrheit natürlich weitaus größer, denn die Zustände in den griechischen „Aufnahmelagern“ auf den Inseln war und ist nicht nur auf Lesbos katastrophal, sondern wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 16.9. berichtete auch auf Chios, Leros, Kos und nicht zuletzt auf Samos. Im dortigen Lager Vathy. Sind ebenfalls fast 7000 Menschen untergebracht. Ungefähr das zehnfache seiner Kapazität. Dass die im sogenannten EU-Türkei-Deal vereinbarte mögliche Rückweisung von Migranten, deren Asylantrag negativ beschieden wurde, nicht in Anwendung kam lag im übrigen, wie die FAZ trocken vermerkt, nicht in erster Linie an der Türkei, sondern vor allem daran, dass Griechenland auf den Inseln gar nicht erst die Ressourcen aufbaute, um die Asylanträge ordentlich prüfen zu können. So nahm eine fatale Entwicklung ihren Lauf, die in erster Linie das Leid der Flüchtlinge vergrößerte. Die FAZ berichtet von alarmierenden Zuständen. Eine Frau, die dort seit sechs Monaten mit Mann und Kleinkind ausharrt, erzählt von ihrer Rettung aus dem Meer durch die griechische Küstenwache – „vor allem aber von der Tortur danach: von einem Wohncontainer mit Betten ohne Matratzen, von täglich mehrstündigem Anstehen für die Mahlzeiten in Hitze, Regen oder Kälte. Von einer teilnahmslosen Polizei, die nicht eingreift, wenn Schwächere verprügelt oder bestohlen werden. Von einem einzigen Arzt für mehrere tausend Menschen – und vor allem von der Ungewissheit darüber, wie lange all das noch die eigene Lebenswelt bleiben wird.“ Im Lager wächst Frustration, Konkurrenz verschiedener Gruppen, deren Herkunft nicht immer kompatibel ist – schließlich kommt man aus Kriegsgebieten – und natürlich bricht sich die Verzweiflung gewaltsam Bahn, in Demonstrationen und Proteste gegen die Bewacher, und meistens gegeneinander. Wie soll es auch anders sein? Auch die Bewohner der naheliegenden Griechischen Orte demonstrieren, und auch sie bleiben nicht mehr immer friedlich.
Die Bürgermeister der Inseln fordern vergeblich Solidarität der Regierung auf dem Festland, Griechenland fordert, zumeist vergeblich Solidarität mit Europa, und selbst einem Hardliner wie Horst Seehofer platzt inzwischen der Kragen, wenn er an Österreich denkt, und erklärt im Spiegel-Interview: „Ich bin von der Haltung unserer österreichischem Nachbarn enttäuscht, sich an der Aufnahme einer überschaubaren Zahl von Schutzbedürftigen aus Griechenland nicht zu beteiligen. (…) Wenn wir nichts tun, stärken wir die politischen Ränder.“ Nun ja, der politische Rand ist längst im Wiener Kanzleramt angekommen.

Abschiebepatenschaften

Europäisches Tagebuch, 23.9.2020:
Die EU-Kommission unternimmt einen neuen Anlauf, die Asylpolitik der verschiedenen Mitgliedsländer zu koordinieren. Das grenzt angesichts der Haltung einiger Staaten schon an den Mut der Verzweiflung. Die Deutsche Welle berichtet unverdrossen: „Der Brand im Flüchtlingscamp Moria und die menschenunwürdigen Zustände auf Lesbos geben der Debatte “neuen Schwung” meinen EU-Beamte in Brüssel. Die Chefin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, hat angekündigt, dass das alte System, auch Dublin-Regeln genannt, durch etwas Neues ersetzt werden soll. Eine Verpflichtung für EU-Staaten, Flüchtlinge oder Asylbewerber aufzunehmen, wird wohl nicht enthalten sein, weil viele Mitgliedsstaaten dies schlicht verweigern würden.“
Mittlerweile hat Deutschland seine neue Zahl von 1500 schon ein kleine wenig relativiert. Hiermit sind nicht nur Menschen aus Moria gemeint, sondern von verschiedenen griechischen Inseln. Doch dort herrschen ja auch die gleichen unmenschlichen Bedingungen, die auf Lesbos zur Explosion geführt haben. Aber es bleibt trotzdem zusätzlich bei der schon angekündigten Aufnahme von 150 Kindern und Jugendlichen aus Moria. Frankreich nimmt ebenfalls 150, Italien immerhin 300 Menschen auf. Die Niederlande hingegen schummeln. Sie kündigen die Aufnahme von 100 Menschen aus Moria an – und vermindern um diese Zahl allerdings ihr UN-Kontingent. So kann man sich und die Welt auch belügen. Und Finnland nimmt 12 Jugendliche auf. Na denn.

Doch die EU-Kommission will nun über einen neuen „Migrations-Pakt“ reden. Das alte Dublin-System solle überwunden werden, kündigt EU-Kommissar Schinas an, meldet die Deutsche Welle: „Künftig könnten die Mitgliedstaaten wählen, ob sie Asylbewerber aufnehmen wollen oder lieber bei der Rückführung und Abschiebung von abgelehnten Asylbewerbern helfen wollen.“ Kommissionpräsidentin von der Leyen legt nach. Dieses System solle verpflichtend sein. Staaten wie Ungarn, Polen (oder Österreich), die sich an der Aufnahme von Flüchtlingen nicht beteiligen, sollen dann in Zukunft deren Rückführung organisieren. Und sich dabei an alle internationalen Vorschriften halten. Etwas, wofür diese zunehmend autoritär und illiberal regierten Staaten ja allgemein besonders bekannt sind. Aber auch die EU-Kommission hat nun offenbar auf Sarkasmus umgeschaltet, und nennt ihren neuen Vorschlag „Rückführungs-Patenschaften“. Nein, im Kalender nachschauen klärt das auch nicht auf. Heute ist nicht der 1. April.

Freunderldienste leicht gemacht

Europäisches Tagebuch, 24.9.2020: Finanzminister Blümel lässt es also drauf ankommen. Der österreichische Antrag wird nicht korrigiert. Der Wiener Wahlkampf ist ohnehin wichtiger als die Notstandshilfen für die leidende Wirtschaft. Und da es mit deren Verteilung eh nicht sehr rund läuft, ist es gut einen Sündenbock dafür zu haben: Brüssel.
Dabei hätte die EU-Kommission allen Grund, Österreich sehr viel deutlicher die Rute ins Fenster zu stellen, als sie es tut. Im Moment blühen nämlich Konstruktionen, die Korruption – oder zumindest Freunderldienste – geradezu planmäßig fördern.
Statt die Auszahlung von 15 Milliarden Hilfsgeldern für Unternehmen über das Finanzamt zu regeln, und damit unter öffentlicher Kontrolle durch Parlament und Rechnungshof, hat der Bund eine „Covid-19 Finanzierungsagentur“ als Gesellschaft mit beschränkter Haftung gegründet. Die Cofag soll der notleidenden Wirtschaft mit Fixkostenzuschüssen und Überbrückungsgarantien zur Seite stehen und wird vom Bund entsprechend finanziell aufgestellt. „Gemäß § 6a Abs. 2 ABBAG-Gesetz stattet der Bund die COFAG so aus, dass diese in der Lage ist, kapital- und liquiditätsstützende Maßnahmen, die ihr gemäß § 2 Abs. 2 Z 7 ABBAG-Gesetz übertragen wurden, bis zu einem Höchstbetrag von 15 Milliarden Euro zu erbringen und ihre finanziellen Verpflichtungen zu erfüllen.“ Der Vorteil dieser Konstruktion liegt auf der Hand: eine GesmbH ist schließlich dem Parlament nicht auskunftspflichtig.

Florian Scheuba meint dazu bissig im Standard: „Nicht nur Abgeordnete der Opposition können somit nicht mehr mit lästigen Fragen wie “Wer bekommt wie viel Steuergeld und warum?” nerven. Auch Antragsteller können sich die Bitte um Begründung, warum ihr Hilfsantrag abgelehnt wird, sparen, denn Cofag-Beiratsmitglieder sind zur Verschwiegenheit verpflichtet. Bleibt als letzte Hoffnung der Rechnungshof? Nein, denn auch dessen Ansinnen nach begleitender Kontrolle kann die Agentur mit einem herzhaften “Cofag yourself” abschmettern. Hier wird also gerade ein blickdichter Darkroom für künftige Mauscheleien geschaffen. Wie finster der wird, lassen die jüngsten Vorgänge rund um einen 800.000-Euro-Vertrag der Cofag mit einer zunächst geheim gehaltenen PR-Agentur erahnen. “Das Geld fließt nicht in Eigen-PR, sondern etwa in die Betreuung der Homepage oder die Beantwortung von Medienfragen”, meint Cofag-Geschäftsführer Bernhard Perner“.

Mal schauen, wieviele Medienanfragen es – angesichts der bekannt kritischen Presselandschaft in Österreich – so geben wird. 

Die Mär vom „christlich-jüdischen Abendland“

Europäisches Tagebuch, 28.9.2020: Kennen Sie den? Mayer will verreisen. Auf dem Bahnhof in Wien, schon auf dem Bahnsteig, fällt ihm ein, dass er noch schnell auf die Toilette muss. Er fragt herum: „Entschuldigung, können Sie mir sagen, sind Sie Antisemit?“ „Ich? Also, das ist eine Unterstellung. Ich liebe die Juden.“ „Schon gut, sie können mir offenbar nicht helfen.“ Und er wendet sich an den nächsten: „Verzeihung, sind Sie Antisemit?“ „Also wirklich, ganz und gar nicht. Ich liebe Israel, so ein wunderbares Land, so wehrhaft gegen…“ „Lassen Sie’s gut sein.“ Und wieder wendet er sich an den nächsten. „Bitte, können Sie mir sagen, sind Sie Antisemit?“ „Ja was, natürlich, die Juden herrschen überall, sogar das Wetter…“ „Vielen Dank, Sie sind ehrlich. Können Sie kurz auf meinen Koffer aufpassen?“

Österreichs „Integrationsministerin“ Susanne Raab liebt es, Deutschlands AfD liebt es, Viktor Orbán liebt es, Identitäre lieben es, Kanzler Sebastian Kurz liebt es, die CSU liebt es, Donald Trump und Martin Engelberg lieben es: das „christlich-jüdische Abendland“. HC Strache liebt sogar das „christlich-jüdisch-aramäische Erbe“. Aber das interessiert inzwischen kaum noch jemand.

Ich weiß nicht mehr genau, wann der jüdisch-christliche Dialog, der in den 1950er Jahren unter dem Eindruck der Schoa – und dem kritischen Nachdenken unter Christen – begonnen hat, von der Parole des „christlich-jüdischen Abendlandes“ vereinnahmt wurde.

In Deutschland war schon Ende der 1990er Jahre immer öfter davon die Rede. Gerne wurde auch die Aufklärung und das griechische Erbe herbeizitiert. Das einzige was fehlte, war der Islam. Als hätten nicht islamische Philosophen entscheidend dazu beigetragen, dass Europa sein griechisches Erbe im Mittelalter wiederentdeckt hat. Man konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, diese Leerstelle in der öffentlichen Identitätsrhetorik sei das einzig Reale an diesem Gerede.

2010 kam die Parole vom christlich-jüdischen Abendland auch in Wien an. Martin Engelberg, Herausgeber einer „jüdischen“ Zeitschrift und inzwischen türkisblauer Nationalrat und Israel-Experte des Kanzlers, beschwor das „judeo-christlichen Erbe“, und eine „gemeinsame jüdisch-christliche Wertegemeinschaft“ (nach 1000 Jahren christlicher Judenverfolgung), und warnte vor muslimischen Einwanderern.

Inzwischen ist die Rede vom „importierten Antisemitismus“ Gemeingut und dient vor allem als Rechtfertigung für eine rassistische, fremdenfeindliche, islamophobe Asyl- und Migrationspolitik. Und sie dient als Ablenkung von allem, was in dieses identitäre Weltbild nicht passt. Noch immer geht die größte Gefahr für Juden in Österreich und in Europa von Rechtsextremen aus, auch wenn sich manche Islamisten anstrengen, davon zu lernen. Noch immer muss man sich als Jude auch im Alltag bürgerlicher Kreise, der sogenannten Mitte der Gesellschaft, immer wieder gepflegte Ressentiments über jüdischen Einfluss auf dies oder jenes anhören.

Mehr denn je sind gerade die innigsten Freunde israelischer Politik, von Orbán, über Matteo Salvini bis Marie le Pen, von den Rechtspopulisten der Niederlande, Belgiens und der meisten osteuropäischen Staaten, jederzeit zu antisemitischen Ausritten gröberen Kalibers fähig.  Dann nämlich, wenn es nicht um Israel, also die Juden im Nahen Osten geht, die dort als Vorhut des „Abendlandes“ die Drecksarbeit für Europa und die USA erledigen, und dafür auch die Schläge abkriegen sollen. Sondern um Juden in aller Welt, die ihr Recht darauf verteidigen, in offenen Gesellschaften zu leben, in denen nicht Ethnie oder Religion darüber entscheiden, ob man bürgerliche, politische oder soziale Rechte genießt.

So hat man als Jude seine liebe Not damit, dass ausgerechnet Israel, als „jüdischer Staat“ von den Nationalisten dieser Welt inzwischen als Rechtfertigung für ihren eigenen Rassismus missbraucht wird, und sich gerne gebrauchen lässt. Und steht nun einer seltsamen Konstellation gegenüber, von glühenden Antisemiten und fanatischen „Freunden“ Israels: immer häufiger denselben Leuten.

Der „Kampf gegen Antisemitismus“, den die jetzige österreichische Regierung vollmundig ins Programm geschrieben hat, und erst recht das dort festgeschriebene Bekenntnis zu Israel als „jüdischem Staat“ (entscheidet eigentlich Österreich, ob Israel sich ethnisch-religiös oder säkular-pluralistisch definiert?), richtet sich in Wirklichkeit gar nicht gegen Antisemitismus sondern gegen alles, was als „zu weitgehende“ Kritik an Israel interpretiert werden kann. Das trifft, im Namen des „christlich-jüdischen Abendlandes“, natürlich nicht nur Muslime, die sich – wie christliche Fundamentalisten auch – zum „Kampf um Jerusalem“ aufstacheln lassen, sondern mindestens ebenso häufig Juden, also die Richtigen. Orbán hat es vorgemacht. Beraten von seinem Freund Benjamin Netanjahu hat er seine Macht mit einer Kampagne gegen die „jüdische Weltverschwörung“ von George Soros zementiert, der Europa mit muslimischen Einwanderern überfluten wolle.

In Deutschland kann man die segensreiche Tätigkeit eines staatlichen „Antisemitismusbeauftragten“ schon länger beobachten. Der denunziert inzwischen vor allem sogenannte „linksliberale“ Kritiker seiner Amtsführung (die meisten von ihnen jüdische und israelische Intellektuelle) als latent gewaltbereite „Antisemiten“. Solche Spezialisten bekommen wir in Österreich sicher auch bald.

Engel der Geschichte

Europäisches Tagebuch, 26.9.2020: Heute vor 80 Jahren nahm sich Walter Benjamin in Port Bou an der Grenze zwischen Frankreich und Spanien das Leben. Er war auf der Flucht vor den Nationalsozialisten, hatte die Grenze schon überwunden – und fürchtete, von den spanischen Grenzbeamten wieder ins besetzte Frankreich zurückgeschickt zu werden.

Wenige Monate zuvor, im Mai 1940, hatte er seinem Freund Stephan Lackner in Paris geschrieben:

„Man fragt sich, ob die Geschichte nicht im Begriff ist, eine geistreiche Synthese von zwei nietzscheanischen Begriffen zu schmieden, nämlich die des guten Europäers und die des letzten Menschen. Das könnte den letzten Europäer ergeben. Wir alle kämpfen darum, nicht zu einem solchen zu werden.“

Benjamins letzten bedeutender Text, seine Thesen über den Begriff der Geschichte, rettete Hannah Arendt für die Nachwelt. An seinen „Engel der Geschichte“ erinnert seit August in Hohenems, vor dem früheren Gasthaus Engelburg am Kreuzungspunkt der ehemaligen Judengasse und Christengasse, eine Skulptur von Günther Blenke. Inspiriert von dem Stück eines verbrannten Baumes, in den ein Blitz eingeschlagen ist.

Aufstellung der Brunnenplastik in Hohenems von Günther Blenke, am 8.8.2020. Foto: Julie Walser

In seinen „Thesen über den Begriff der Geschichte“ schrieb Walter Benjamin 1940:

„Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“

Danke an Günther Blenke – und Franz Sauer, der das Fragment des verbrannten Baumes im Wald geborgen hat.

Günther Blenke, Franz Sauer und der “Engel der Geschichte”. Foto: Julie Walser

Das Parlament probt den Aufstand

Europäisches Tagebuch, 7.9.2020: Auf die EU kommt ein ernster „Machtkampf“ zu. Das Europäische Parlament, also das einzige europäische Organ, das über eine europäisch-demokratische Legitimation verfügt, will sich dem Diktat der Regierungschefs nicht beugen. Das vollmundig verkündete Konjunkturpaket von 750 Milliarden Euro zur Eindämmung der Folgen der Corona-Pandemie, dass die EU-Kommission im Juli ausverhandelt hat, stand von Beginn an unter einem schlechten Stern: die Einigung der Kommissionsmehrheit mit den knausrigen vier, dann fünf EU-Staaten um Österreich und die Niederlanden wurde mit massiven Kürzungen im EU-Haushalt an anderer Stelle erkauft. Damit wollen sich die EU-Parlamentarier vieler Fraktionen keineswegs abfinden. So soll ausgerechnet das Programm „EU4Health“, das den Schutz vor grenzüberschreitenden Gesundheitsgefahren schützen und bezahlbare Medikamente besser verfügbar machen soll, von 9,4 Milliarden auf 1,7 Milliarden Euro gekürzt werden. Gemeinsame Programme für Forschung, Bildung, Klimaschutz und Digitalisierung sollen ebenfalls gekürzt werden. Und damit der Spielraum für grenzüberschreitende Zusammenarbeit eingeschränkt statt ausgeweitet werden. Europäisch gesinnte Abgeordnete der Grünen, der Sozialdemokraten, der Liberalen aber auch der konservativen Volkspartei aus verschiedenen Ländern sind durchaus bereit, vom Vetorecht des Parlaments Gebrauch zu machen. Der Grüne Abgeordnete Rasmus Andresen bringt die Möglichkeit ins Spiel, nur das Hilfspaket, nicht aber den Haushalt in dieser Form zu verabschieden, um den Druck nun in die andere Richtung zu erhöhen. Dazu gehört auch, ernsthaftere Sanktionen gegen solche Mitgliedsländer in den Budgetvollzug zu schreiben, die gegen rechtsstaatliche Standards verstoßen. Die EU-Parlamentarier verlangen außerdem, endlich ernsthaft die Eigeneinnahmen der EU zu erhöhen, durch eine wirksame Plastiksteuer, durch Digitalsteuern oder die Besteuerung von grenzüberschreitenden Gewinnen der Technologie-Riesen.

Dem EU-Parlament und der Kommission stehen noch schwierige Verhandlungen bevor. Das Bedürfnis des EU-Parlaments, von den „sparsamen“ Regierungschefs wird herumschubsen lassen, ist enden wollend. Selbst die „türkisen“ Abgeordneten aus Österreich haben in der Vergangenheit nicht gerade große Begeisterung über die Europa-feindliche Linie der österreichischen Regierung gezeigt. Aber man wird noch sehen ob den Worten z.B. eines Othmar Karas nun auch Taten folgen werden.

“Hilfe vor Ort”

Europäisches Tagebuch, 25.9.2020: Ein ORF-Bericht über Lesbos. Späte Stunde. Danach kann man nicht gut schlafen.
Der bestbezahlte Türsteher der Nation, Österreichs Innenminister Nehammer landet mit dem dicksten Flugzeug, das er von den Russen mieten konnte, in Griechenland. Er bringt 55 Tonnen „Hilfsgüter“ und Polizisten. Er steht breitbeinig vor der Kamera und spricht von „Hilfe vor Ort“. Wir kennen das schon. Und er macht nun auch ganz deutlich, was er damit meint.
Es geht nicht um Hilfe für die Menschen, die seit Monaten, zum Teil seit Jahren auf der Insel gefangen gehalten werden. Es geht darum, den Griechen dabei zu helfen, sie weiter schlecht zu behandeln, zur Abschreckung. Mit den österreichischen Zelten soll ein neues Lager errichtet werden, sieben Kilometer entfernt, weit weg von jeder anderen Siedlung, noch besser kontrollierbar, noch abschreckender als es Moria schon war. Aber zumindest für den Anfang mal ein bissel ordentlicher und sauberer. Bis die Presse wieder abgezogen ist und man die Menschen wieder im Dreck allein lassen kann, der sich im Herbst von selber einstellt.
Die Menschen, die nun mit „sanftem Druck“ wie es heißt, in das neue Lager gezwungen werden, müssen ihre wenige Habe, auf Paletten, Kisten oder Brettern geschnallt, selber auf der Straße den kilometerlangen Weg ins neue Lager ziehen. Auch diese Bilder wird man so schnell nicht vergessen. Zumindest weiß man jetzt, wie sich Österreich „Hilfe vor Ort“ vorstellt.
Der Provinzgouverneur der Inseln erklärt dem ORF indessen, wie man das auf Lesbos so sieht: man danke Österreich für seine Bemühungen, aber Zelte hätte man schon selber gehabt, diese Hilfe hätte man gar nicht gebraucht. Worauf man auf den Inseln wartet ist, dass Europa die Flüchtlinge endlich unter den Mitgliedsstaaten verteilt. Nun ja, die griechische Regierung könnte sie natürlich auch aufs Festland nehmen, aber in dieser Frage ist sich die griechische Regierung und die europäische Koalition der Unwilligen einig.
Bundeskanzler Kurz hat solche Lager auf griechischen Inseln schon vor Jahren gefordert. Und Österreichs sprachschöpferisch so begabter Ex-Innenminister Kickl hatte auch einen originellen Namen dafür: „Konzentrierungslager“. Sage da nur einer, Österreich und manche anderen EU-Staaten hätten aus der Geschichte nichts gelernt.

Postcriptum am 30. September 2020: Heute berichten die Nachrichten davon, dass die “55 Tonnen Hilfsgüter” niemals auf Lesbos angekommen sind. Sie sind irgendwo auf dem griechischen Festland verräumt. Die griechische Regierung weiß nicht, was sie mit den 400 Zelten anfangen soll. Wie schon gesagt: “Zelte haben wir…”

“Aura des Gespenstischen”

Europäisches Tagebuch, 11.9.2020: Tausende Flüchtlinge aus dem Lager Moria campieren nun auf der Straße im Dreck. Deutschland und Frankreich, und einige weitere europäische Länder wollen 400 Kinder und Jugendliche aufnehmen. Österreich ist bereit, ein paar Decken und Zelte zu schicken. Außenminister Schallenberg hat vorgestern dem österreichischen Konzert der Schande seinen ganz eigenen Ton hinzugefügt. Jovial wie immer, in gewählten Worten, bestätigt er Interviewer Armin Wolff in der Nachrichtensendung ZIB 2, dass das Elend auf den griechischen Inseln seinen Zweck hat: Abschreckung. Und daran wolle man auch in Zukunft nichts ändern. „Genau diese Ruhe und Sachlichkeit“ verleiht seinem Auftritt, wie Irene Brickner im Standard schreibt, eine „Aura des Gespenstischen und Unsagbaren“. Er redet wie ein gut gelaunter, netter, freundlicher Herr, der ganz und gar mit sich im Reinen ist. Nur redet er über Geiselnahme, Kindesmisshandlung, Nötigung und Körperverletzung mit Todesfolge. Halt über die Dinge mit denen er und seine Kollegen sich derzeit in die Gewaltgeschichte Europas einschreiben. Armin Wolff hatte keine Chance, diesen „Panzer aus Beamtenmentalität und Flüchtlingsabschreckung“ aufzubrechen, so Brickner. Anderen europäischen Politikern platzt derweil langsam der Kragen. Deutschlands konservativer Innenminister Seehofer “wundert sich”. Jan Asselborn, Luxemburgs Außenminister redet Klartext: „Ganz Europa ging Kurz‘ Gerede auf den Leim, man müsse nur die Grenzen schließen, damit sich das Flüchtlingsproblem erledige.“ Selbst der Kronen-Zeitung geht das alles inzwischen zu weit. Und sie zitiert geradezu angewidert den österreichischen Kanzler: „Wieso sind uns die Kinder auf den griechischen Inseln näher als die in Venezuela?“ Ja warum wohl?

Wenn sich die Hölle auftut

Europäisches Tagebuch, 9.9.2020: Heute ganz ohne Contenance und Diplomatie. Nackt und fassungslos. Das Lager Moria existiert nicht mehr. Ein Großbrand hat das Flüchtlingslager auf Lesbos vernichtet, wo seit Jahren tausende von Menschen als Geiseln europäischer Politik eingesperrt sind. Set Monaten leben dort 13.000 Menschen in Unterkünften, dass für einen Bruchteil von ihnen Platz hat. Unter unmenschlichen Bedingungen, heillos überfüllt, ohne sanitäre Versorgung, notdürftig am Leben gehalten von NGOs und den Vereinten Nationen, die sich dafür von den Verbrechern, die uns heute regieren auch noch beschimpfen lassen müssen. Österreich zahlt immerhin auch etwas, für die Bewachung dieser Menschen durch griechische Polizei. 13.000 Menschen, darunter Kinder, Kranke, alles was dazu gehört, wurden dort wie Vieh gehalten, als Abschreckung gegen alle, die womöglich noch an Europas „Werte“ (sei es moralische, sei es materielle) glaubten.

Seit Monaten warnen NGOs davor, dass irgendwann Corona im Lager ausbrechen wird. Weitgehend abgeschlossen vom Rest der Welt, war Moria eine Zeitlang von Corona verschont. Doch vor einer Woche gab es den ersten schweren Fall und zahlreiche Ansteckungen. Angst breitete sich aus, vor Infektionen und erst Recht vor der „Quarantäne“, denn niemand darf mehr das Lager verlassen. Einigen gelang es dennoch in die umliegenden Hügel zu fliehen. Erst Recht fürchten die Flüchtlinge, in neu geplante, hermetische Gefängnislager irgendwo auf Lesbos oder Chios verfrachtet zu werden, den Rest von Selbstbestimmung und Würde zu verlieren.

In der Folge kam es zu Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Flüchtlingsgruppen. Irgendwann ist die aufgestaute Verzweiflung von vielen Monaten Hoffnungslosigkeit und Quälerei in nackte Panik umgeschlagen.
Die Populisten Europas haben es geschafft, die Lage zur Explosion zu bringen. Das Lager ist abgebrannt.
In den mit Menschen vollgestopften Unterkünften gibt es unzählige potentielle Gefahren. Aber es ist von Brandstiftung ist die Rede, und es würde niemand wundern. Wer keine andere Wahl mehr hat, der zündet sich als letztes Mittel eben selber das Dach über dem Kopf an.

Österreichs Innenminister nutzt die Katastrophe für weitere Hetze: „Gewaltbereite Migranten haben kein Recht auf Asyl in Europa.“ Das lässt das schlimmste befürchten. Auf den Zynismus der letzten Monate und Jahre folgt wohl noch ärgerer Zynismus. Aus ihm spricht die nackte Menschenverachtung. Wie kann sich so ein Mensch morgens noch in den Spiegel schauen? Aber vielleicht haben die Nehammers und Kurz und wie sie alle heißen ihre Spiegel inzwischen abgehängt.

“Symbolpolitik”

Europäisches Tagebuch, 12.9.2020: Der österreichische Kanzler postet eine Videobotschaft. Das hat für ihn den unbestreitbaren Vorteil, sich keine unbequemen Fragen von aufsässigen Journalisten mehr gefallen lassen zu müssen. Das Lügen fällt noch leichter so.
Es können ja nicht jedes Jahr mehr hier ankommen, sagt er. Doch es werden seit Jahren immer weniger. 2019 wurden so wenige Asylanträge gestellt, wie kaum zuvor seit dem Jahr 2000.

Einmal mehr bekräftigt er seine Weigerung, unbegleitete Kinder oder irgendjemand anderes aus dem zerstörten Lager Moria aufzunehmen. Und demonstriert dabei eine eigensinnige Version von „Moral“. „Dieses menschenunwürdige System aus 2015, das kann ich mit meinem Gewissen nicht vereinbaren.“ Von welchem „System“ spricht er? Von welchem Gewissen?
Man werde stattdessen „vor Ort helfen, damit eine menschenwürdige Versorgung sichergestellt ist.“ Dazu hatte man inzwischen jahrelang die Möglichkeit. Und Österreich hat keinen Finger gerührt. Denn die Verhältnisse in Moria sollten ja als Abschreckung dienen, und konnten deswegen gar nicht menschenunwürdig genug sein. Die Forderung nach mehr humanitärem Engagement Österreichs „vor Ort“ hat Sebastian Kurz schon als Außenminister und erst recht als Bundeskanzler bislang nur rhetorisch interessiert. Geschehen ist so gut wie nichts. Nun fordert er ein „einen ganzheitlichen Ansatz“. Was meint er damit? „Symbolpolitik“ lehnt er ab, womit er offenkundig die bescheidenen (beschämenden?) Versuche Deutschlands, Frankreichs und einiger anderer europäischer Staaten (incl. der Schweiz) meint, wenigstens ein paar hundert Kinder aus dem Inferno auf Moria zu befreien.

Das ist der gleiche Mann, der bei Gedenkfeiern für die Opfer der Shoah pflichtschuldig ernst dreinschaut, wenn der Talmud zitiert wird: „Wer ein Menschenleben rettet, rettet die ganze Welt.“ Ob das wirklich stimmt weiß ich auch nicht. Aber jedes aus dem Dreck von Lesbos gerettete Kind wird es zumindest so empfinden.

Tausende von Flüchtlingen campieren dort nach wie vor im Freien. Aber auch für Salzburgs Landeshauptmann Haslauer sind die 13.000 Flüchtlinge nur ein kollektiver Brandstifter und Erpresser, der sein Haus angezündet hat, „damit (sein) Nachbar (ihn) aufnehmen muss“. Und dem man deswegen auch nicht helfen soll. Diese kranke Logik ist derzeit nicht nur in Österreichs Regierung, sondern vor allem in sozialen Netzwerken verbreitet. Hat es Sinn dagegen noch irgendwie zu argumentieren? Mit so hilflosen Sätzen wie:
Die meisten Menschen dort haben überhaupt nichts angezündet, sondern nur ein paar von ihnen. Und war es In Österreich nicht bislang üblich, Kinder aus einem Haus zu retten, auch wenn einer der Hausbewohner vielleicht ein Brandstifter war? Die Menschen in Moria haben aber gar nicht in einem „Haus“ gewohnt, sondern waren gegen ihren Willen in ein Lager gesperrt. Und sie wurden dort unter Bedingungen „gehalten“, von denen jeder und jede wusste, dass sie irgendwann zu einer Explosion der Verzweiflung führen musste. Am Ende kam Corona ins Lager und die nackte Panik.
Wie will man überhaupt miteinander reden, wenn solche einfachen Wahrheiten keine Rolle mehr spielen? Aber genau darum geht es ja. Hier soll nicht miteinander geredet werden. Deswegen ja auch eine Videobotschaft.