Fauler Fisch und brennende Busse

Europäisches Tagebuch, 8.4.2021: In seiner Weihnachtsansprache hat der englische Premier Boris Johnson seinen englischen Landsleuten Fisch versprochen, viel Fisch. Natürlich auch Truthahn, Pudding, Rosenkohl und Brandybutter. Was auch immer zu Weihnachten auf die englische Tafel kommen mag. Aber was bleibt, ist nun wohl wirklich: viel Fisch. Auf dem die Briten nun zum Teil sitzen bleiben.

Schon der Scheidungsvertrag mit der EU hatte die britischen Fischer enttäuscht. Deren Empörung über die europäischen Fischerboote in „ihren“ Gewässern hatte den EU-Austritt Großbritanniens ganz wesentlich befeuert. Und nun sollen sie noch weiterhin die europäischen Invasoren, allen voran belgische, irische, dänische und niederländische Fischer, in ihren Jagdgründen dulden? Immerhin gehörte zum „Deal“ in letzter Minute, dass deren Fangquoten zwar gesenkt aber durchaus nicht abgeschafft würden. „Johnson hat uns die Rechte an allen Fischen versprochen, die in unserer exklusiven Wirtschaftszone schwimmen“, so klagte der Chef des nationalen Verbunds der Fischereiorganisationen (NFFO), Andrew Locker, noch zu Weihnachten sein Leid dem Sender BBC Radio 4. „Aber wir haben nur einen Bruchteil davon erhalten.“

Inzwischen dämmert den britischen Fischern freilich die Erkenntnis, dass ihr Problem nun ein ganz anderes ist: wohin mit „ihrem“ Fisch?

Denn so sehr die Briten vielleicht auch Fish and chips selber mögen, leben tun die britischen Fischer vom europäischen Markt. Und den Zugang zu diesem Markt haben sie sich selber nun deutlich erschwert. Bei einem fragilen Gut wie Fisch kann das fatale Folgen haben, denn der muss schnell aus dem Netz in den Handel. Und genau daran hapert es seit Januar. Ganze Schiffsladungen sind in britischen Häfen verrottet. Die Lieferketten mussten neu organisiert werden, der komplizierte Weg durch den Zoll funktioniert zwar inzwischen leidlich. Aber all das kostet Geld und treibt die Preise in die Höhe – und das ist schlecht für den Absatz des symbolisch kostbarsten, was Großbritannien offenbar zu exportieren in der Lage ist: Fisch. Der droht nun das zu werden, was er politisch immer schon war, ein fauler Fisch.

Dass dies für die britischen Fischer eine Überraschung ist, mag nur denjenigen verwundern, der davon ausgeht, dass Menschen wirklich immer im Sinne ihrer Interessen handeln.

Noch weniger überraschend allerdings beginnt nun auch in Nordirland die Saat des Brexit aufzugehen. Krawalle, Straßenschlachten, verletzte Polizisten, brennende Busse. All das hat lange den Alltag im Norden der irischen Insel geprägt, bis „einst“ (so ist man schon versucht zu sagen) 1998 mit dem Karfreitagsabkommen ein Meilenstein im Friedensprozess zwischen Katholiken und Protestanten erreicht wurde. Schließlich waren Großbritannien und Irland beide in der EU und die Grenzen konnten geöffnet werden, zwischen den Ländern, aber „step by step“ auch innerhalb der gespaltenen nordirischen Gesellschaft. 16.200 Bombenanschläge, 37.000 Fälle von Schusswaffengebrauch, 22.000 Überfälle und 2.200 Brandanschläge waren in den Jahrzehnten des Konflikts von beiden Seiten ausgegangen. 3.600 Menschen starben, 47.000 wurden verletzt.

Nun haben protestantische Gewalttäter pünktlich zu Ostern wieder damit begonnen britische Polizisten zu attackieren und marodierend durch die Straßen zu ziehen, am Brennpunkt der „Grenze“ zwischen protestantischen und katholischen Stadtvierteln. Unter dem Vorwand, gegen die „Zollgrenze“ zwischen Nordirland und Großbritannien zu protestieren. Mit dem Ziel freilich, die alten Grenzen auf der Insel wieder herzustellen. Fortsetzung folgt.

Rückblick, 7.4.2020: In den USA sterben täglich ungefähr 2000 Menschen. US-Präsident Trump macht die WHO für die Corona-Krise verantwortlich und droht damit, die Zahlungen der USA an die WHO einzustellen.
Die EU schickt ein Team aus rumänischen und norwegischen Ärzten und Pflegern nach Mailand und Bergamo. Österreich beteiligt sich mit 3000 Litern Desinfektionsmitteln an dieser Aktion. Deutschland nimmt Patienten aus dem Elsass auf.

„Du bist Familie“ – oder: „Die Vorstadtbuben“

Europäisches Tagebuch, 6.4.2021: Die Chat-Protokolle verschiedener österreichischer Politiker lesen sich wie das Drehbuch einer neuen ORF-Serie unter dem Titel die „Vorstadtbuben“. Oder nicht doch besser “Die Familie” – schließlich geht es um die 26 Milliarden schwere Österreichische Staatsholding Öbag (Österreichische Beteiligungs AG).

„Du bist Familie“ – Gernot Blümel an Thomas Schmid.

Juni 2017: Sebastian Kurz lässt den Kabinettschef im Finanzministerium Thomas Schmid Ideen für die staatlichen Beteiligungen entwickeln. Schmid war in den 2000er Jahren Pressesprecher von Finanzminister Karl Heinz Grasser, dann Büroleiter des ÖVP-Klubobmanns und Ex-Kanzler Schüssel. 2013 wurde er Kabinettschef im Finanzministerium, zunächst unter Hans Jörg Schelling, dann unter Hartmut Löger.

Juli 2017: Sebastian Kurz wird neuer Parteichef der ÖVP und lässt die Koalition mit der SPÖ platzen.

November 2017: Im Rahmen der Koalitionsverhandlungen mit der FPÖ werden auch die Posten in diversen von der Republik kontrollierten Unternehmen verteilt. Thomas Schmid an Sebastian Kurz: „cooler Deal für ÖVP“. Zu den ausgehandelten „Deals“ gehört auch die Umwandlung der damaligen Staatsholding Öbib GmbH in eine Aktiengesellschaft, die Öbag.

Dezember 2017: Thomas Schmid bittet Sebastian Kurz, dafür zu sorgen, dass die Zuständigkeit für die neue Staatsholding beim Finanzministerium bleibt. Aus seinen Ambitionen, zur Staatsholding zu wechseln macht er intern kein Geheimnis. Aber Kurz wolle noch, dass er im Finanzministerium bleibe.
Wenig später fordert Schmid den neuen Kanzleramtsminister Gernot Blümel auf, er möge ihm helfen, das neue Gesetz „rasch umzusetzen! Das bist du mir echt schuldig!“. Offenbar ist er nervös. Aber vielleicht scherzt er ja auch nur: „Ich stürze mich heute in die Donau und du bist schuld!“ schreibt Schmid an Blümel. „Alles ein Schaas“, antwortet Blümel.

Februar 2018: Gerüchte über die geplante Neuaufstellung der Staatsholding und eine mögliche Besetzung des Spitzenjobs mit Thomas Schmid, inzwischen Generalsekretär im Finanzministerium, sickern durch. „Ich will keine ÖBIB Storys mehr“, lässt Schmid einen Pressesprecher wissen. Die würden ihm nur schaden. Kanzler Kurz verspricht, bei der Presse zu intervenieren. Thomas Schmid an Kanzler Kurz: „Dich zu haben ist so ein Segen! Es ist so verdammt cool jetzt im BMF (Finanzministerium; Anm.)!!! Danke Dir total dafür!!“

Juli 2018: Thomas Schmid plant schon seinen Umzug in die Chefetage der noch nicht gegründeten Öbag. Es geht um solche Details, wie die Frage, welcher Chauffeur mitkommt und den Einbau einer Klimaanlage.

5. Oktober 2018: Thomas Schmid lässt den damaligen Kanzleramtsminister und Regierungskoordinator Gernot Blümel wissen, es sei mit der FPÖ ein „gutes Paket“ vereinbart: türkiser Alleinvorstand bei der Öbag und zwei Aufsichtsratsposten für die FPÖ.

Im November 2018 macht sich Thomas Schmid noch einmal Sorgen, seine Bestellung zum Alleinvorstand der ÖBAG könnte an Ungeschicklichkeiten des Finanzministers scheitern. Am 13. November tauscht er sich mit einem Pressereferenten im Finanzministerium über Finanzminister Hartwig Löger aus:
Schmid: „Das ist totale Unprofessionalität. Wenn seine Dummheit verhindert, dass ich in die Öbag darf, bin ich echt sauer.“
Pressereferent: „Das können sie dir nicht mehr nehmen. Das wäre komplett irre.“
Schmid: „Hoffentlich. Das schadet alles unserem Ruf. Der fährt das BMF an die Wand kommunikativ. (…) Bei dem musst du so aufpassen. Alles du machen. Und wenig Medien. Fernsehen vermeiden.“
Pressereferent: „Aber wie können wir ihm beibringen, dass er fleißig sein muss und Briefings forciert?“
Schmid: „Gar nicht. Das ist ein 60-jähriger Mann.“

Dezember 2018: Das neue Öbag-Gesetz wird beschlossen. „SchmidAG fertig“, lässt Gernot Blümel Thomas Schmid wissen (unter Hinzufügung eines kräftigen Oberarm-Emojis).

Januar 2019: Es werden Aufsichtsratsmitglieder für die ÖBAG gesucht. Als Beraterin Schmids für die Suche nach weiblichen Aufsichtsratsmitgliedern fungiert Gabriela Spiegelfeld. Gabriela Spiegelfeld hat offenbar Mühe, Frauen zu finden, die sich dafür hergeben: Sie schreibt an Schmid: „Mir gehen die Weiber so am Nerv. Scheiß Quote“.
Wonach gesucht wird zeigt sich in einer Nachricht von Schmid an Kanzler Kurz am 24.1.2019: „wirklich eine gute! Compliant, Finanzexpertin, steuerbar, Raiffeisen und sehr gutes Niederösterreich Netzwerk, Sie hat für NÖ auch delikate Sachen sauber erledigt“.
Auch bei Finanzminister Löger beklagt sich Schmid: „Bestellung in der ÖBAG stockt – Frauenthema“ und bemerkt „Sophie Karmasin wäre gut steuerbar“.

Die Ausschreibung für die Besetzung des Alleinvorstands wird nun auf ihn zugeschnitten. „Ich bin aber nicht international erfahren. Ich habe immer in Österreich gearbeitet“, schreibt Schmid einer Mitarbeiterin. Die entsprechende Anforderung in der Ausschreibung wird gestrichen.

15. Februar 2019: der neue Aufsichtsrat der Öbag wird bestellt. Bis zuletzt gibt es Probleme mit Kandidaten. Die favorisierte Aufsichtsratschefin sagt noch am Vortag ab. Auch der ehemalige deutsche – und über eine Plagiatsaffäre gestolperte – Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg ist im Gespräch. Schließlich übernimmt Helmut Kern den offenbar ungeliebten Job.

Anfang März 2019: Thomas Schmid, noch Generalsekretär im Finanzministerium, trifft sich mit dem Generalsekretär der Bischofskonferenz, Peter Schipka. Es geht um die Kritik der Kirchen an der Flüchtlingspolitik der Regierung. Als Druckmittel auf die Kirche wird eine Streichung kirchlicher „Steuerprivilegien“ und eine Kürzung von Förderungen erwogen. „Wir werden ihnen ordentliches Package mitgeben“, schreibt Schmid an Kanzler Kurz. „Im Rahmen eines Steuerprivilegien-Checks aller Gruppen in der Republik wird für das BMF (Finanzministerium) auch die Kirche massiv hinterfragt“.
Kanzler Kurz vor dem Gespräch an Schmid. „Ja super. Bitte Vollgas geben.“
Schmid nach dem Gespräch an Kanzler Kurz am 13.3.2019: „Also Schipka war fertig!“ Er habe ihm die Pläne zur Streichung von Steuerprivilegien und zur Kürzung von Förderungen dargelegt. „Er war zunächst rot, dann blass, dann zittrig. Er bot mir Schnaps an, den ich in der Fastenzeit ablehnte weil Fastenzeit.“

Kurz’ Kommentar: „Super danke vielmals!!!! Du Aufsichtsratssammler:)“ Schmid: „Das ist dort mein Hauptberuf – bitte mach mich nicht zu einem Vorstand ohne Mandate. Das wäre ja wie Wiener Stadtrat ohne Portfolio.“ Kurz: „Kriegst eh alles was du willst“ (drei Küsschen-Emojis). Schmid: „Ich bin so glücklich :-))) … Ich liebe meinen Kanzler“.

25. März 2019: Thomas Schmid und Sebastian Kurz sind beim Industriellen Klaus Ortner zum Abendessen eingeladen, dem Großspender der „neuen ÖVP“, „familiär und gemütlich“ wie Schmid schreibt. „Den Kanzler erlebt man auch nicht oft so entspannt!“, bedankt er sich in einer SMS bei Ortner. Ortners Tochter ist kurz zuvor in den Öbag-Aufsichtsrat bestellt worden. Mit fünf der neun Mitglieder hat sich Schmid in den vergangenen zwei Wochen persönlich getroffen.

26. März 2019: Hearing für die Besetzung des Alleinvorstands der Staatsholding Öbag. Thomas Schmid wird, wie zu erwarten, als „bester Bewerber“ eingestuft. „Hearing ist super gelaufen. War der Beste. Trotz einiger guter Bewerber“, schreibt er an den Mann von Gabriela Spiegelfeld – den Immobilienunternehmer Georg Spiegelfeld, Aufsichtsrat der Bundesforsten.

27. März 2019: Thomas Schmid wird zum Alleinvorstand der Staatsholding Öbag bestellt.

Ein Jahr später – die türkis-blaue Koalition ist Geschichte – ist die Postenbesetzung Gegenstand im Ibiza-Untersuchungsausschuss:

Gernot Blümel im Ibiza-Untersuchungsausschuss am 25.6.2020: „Nun, was die Vorstandsbestellung in der Öbag betrifft, so ist das ja auch klar geregelt, dass das eine Aufgabe des Aufsichtsrates der Öbag ist. Ich war ja lediglich im Nominierungskomitee der Öbib dabei, und insofern ist auch das nicht in meinen Zuständigkeitsbereich gefallen.“

Sebastian Kurz im Ibiza Untersuchungsausschuss am 24.6.2020: „Von mir ist das nicht ausgegangen, aber soweit ich mich erinnern kann, hat er mich irgendwann davon informiert, dass er sich bewerben wird. Es war auch in den Medien ein Thema.“ „Ich kann mich nicht erinnern, dass ich mich für ihn eingesetzt habe, aber ich habe ihn für qualifiziert gehalten.“

Quellen: Reichlich, z.B.:

https://www.derstandard.at/story/2000125434848/wie-die-chats-zu-den-aussagen-von-schmid-kurz-co

Rückblick, 6.4.2020: Inzwischen sind mehr als 250.000 irgendwo auf dem Erdball gestrandeter Europäer auch mit Hilfe der EU in ihre Heimatländer zurückgeflogen worden. Weitere 350.000 hätten Antrage auf Rückholung gestellt, doch angesichts der zunehmenden Schließung der Lufträume werde diese immer schwieriger, warnt der EU-Außenbeauftragte Joseph Borrell.

Im Marchfeld in Österreich fehlen inzwischen alleine für die Spargelernte 3000 rumänische Erntehelfer. Eklatante Ernteausfälle werden erwartet. Währenddessen machen Firmen dubiose Geschäfte mit unterbezahlten einheimischen Leiharbeitern, die mit illegalen Vertragskonstruktionen beschäftigt werden.

FPÖ-Chef Norbert Hofer fordert das Ende der EU als politische Union.

Marcus Samuel: Von Muschelsammlern und Öl

Europäisches Tagebuch, 4.4.2021: Die Geschichte so mancher multinationalen Unternehmung beginnt mit Pionieren auf unbekanntem Terrain. Und so manchem Umweg einer Biographie: Heute vor 222 wurde Marcus Samuel geboren.

Von Felicitas Heimann-Jelinek

Seit der Antike übt das Meer einen spezifischen Reiz auf den Menschen aus. Es ist gefährlich und verlockend, es trennt und verbindet, es hat mörderische Kraft und es gibt Nahrung. Besondere und absonderliche Schätze der Meere üben seit jeher eine eigene Faszination auf den Menschen aus. Spektakuläre Meeresfunde waren Objekte fürstlicher Begierden, die in ihren Wunderkammern mit ihrem Besitz ihre Machtphantasien ausleben konnten. In der Moderne treffen Exotik, aber auch Naturwissenschaft auf immer breiteres Interesse. Von literarischen Phantasie-Reisen, Fernweh und realen Urlaubserinnerungen angeregt, kamen vor allem Muscheln als Souvenirs in Mitteleuropa während der „Adria-Ausstellung“, der bedeutendsten maritimen Schau in Wien, auf. Die »Adria-Ausstellung« von 1913 war die letzte große Ausstellung in Österreich vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs und die letzte große Ausstellung der österreichisch-ungarischen Monarchie.[1] Andenken-Muscheln waren schon in der legendären Schau „Venedig in Wien“ im Jahr 1885 Verkaufsschlager gewesen, auf der „Zierwerk und Galanteriegegenstände aus Lava, Corallen, Muscheln und Schildpatt“ angeboten worden waren.[2] Doch schon einige Zeit früher hatte ein Geschäftsmann den Zauber der Weite, der Tiefe und der Ferne, den Muscheln ausstrahlen, geschickt genutzt: Marcus Samuel (4. April 1799 – 24. November 1872).

Bereits 1833 öffnete Marcus Samuel ein Antiquitäten-Geschäft in London – manche nannten es Kolonialwaren Geschäft, andere wiederum sagen, es war eher ein Kuriositäten-Laden. Für letztere Einschätzung spricht die Tatsache, dass Samuel nicht der sephardischen Elite Londons angehörte, vielmehr aus bescheidenen bayerisch-holländischen Migranten-Verhältnissen stammte. Ebenfalls Kuriositäten-Laden-Variante spricht, dass einer seiner frühen Verkaufsschlager eben ein Souvenir-Objekt war, nämlich „knickknack boxes“ mit aufgeklebten Muscheln, die er am Strand von Brighton vertrieb. Wie dem auch sei, Marcus Samuel bot in seinem Geschäft dem naturhistorisch und meeresbiologisch interessierten Publikum auch Meeresmuscheln an, die ihm Seeleute von ihren Fahrten mitbrachten. Das Geschäft florierte derart, dass Marcus Samuel seine Söhne dazu bringen konnte, selber stetig weitere Strecken per Schiff zurückzulegen, um – aus englischer Perspektive – immer ausgefallenere Muscheln zu finden. Mit wachsendem Angebot bzw. wachsender Nachfrage wuchs ein kleine Samuel’sche Flotte heran. Jedes der Schiffe erhielt eine Art Logo, welches jeweils eine andere Muschel war.

Marcus Samuel jun. entdeckte schließlich, dass es außer Muscheln noch Anderes im Meer gab, das sich verwerten ließ: Bodenschätze. Sein Bruder Samuel Samuel realisierte überdies bei einer Fahrt ins Schwarze Meer die Bedeutung des Ölhandels. Und so sattelten die Brüder von Muscheln auf Kerosin und Öl um. Das Geschäft schoss in die Höhe und die Samuels gründeten eine Company, die 1897 unter dem naheliegenden Namen „Shell“ eingetragen wurde. Von den verschiedenen Muscheln wählte man 1904 die Kamm-Muschel oder Pecten als endgültiges Firmen-Logo. 1907 fusionierte die Firma mit der Royal Dutch Company of the Netherlands und die Shell-Gruppe in ihrer heutigen Form entstand.[3]

Marcus Samuel, 1st Viscount Bearsted. London Stereoscopic & Photographic Company, 1902

1902 wurde Marcus Samuel jun. in den Adelsstand eines Baronet erhoben und der zweite jüdische Lord Mayor von London. In Anerkennung seiner Verdienste um die Versorgung des Britischen Königreiches während des Ersten Weltkriegs mit Treibstoff wurde er 1925 schließlich mit dem neu geschaffenen Titel eines Viscount Bearsted geehrt.

Sein Sohn Colonel Walter Horace Samuel, 2nd Viscount Bearsted MC (13. März 1882 – 8. November 1948) war Vorsitzender der Shell Transport and Trading Company. Daneben war er ein engagierter Kunstkenner und –Sammler. Zu seinen Kunstwerken gehörten Werke von Rembrandt, Canaletto, George Stubbs, Hans Holbein dem Jüngeren und Hogarth. Auch war er ein Trustee der National Gallery sowie der Tate Gallery und Vorsitzender der Whitechapel Art Gallery in London.

Sein Haus und seine Sammlung wurden 1948 dem National Trust gestiftet und damit öffentlich gemacht. Er diente im Ersten Weltkrieg, machte aber vor allem im Zweiten Weltkrieg von sich Reden, da er mit dem Secret Intelligence Service (SIS alias MI6) und dann Special Operations Executive (SOE) arbeitete. Als Offizier der Sektion D des SIS war er ab 1939 zunächst an frühen Versuchen beteiligt, Widerstandsnetzwerke in Skandinavien aufzubauen und war dann eine Schlüsselfigur bei den Plänen zur Gründung einer britischen Widerstandsorganisation – dem Home Defence Scheme. Im Sommer 1940 überwachte er die Übertragung eines Teils des SIS-Nachrichtendienstes auf die neuen Hilfseinheiten. Walter Samuel war Mitglied der 1942 gegründeten antizionistischen Jewish Fellowship. Trotzdem setzte er sich in den 1930er Jahren für die Auswanderung von Juden aus Nazi-Deutschland nach Palästina bei Wahrung eines dortigen Friedens ein.[4]

[1] Unter dem höchsten Protektorate Seiner k.u.k. Hoheit des durchlauchtigsten Herrn Erzherzogs Franz Ferdinand von Österreich-Este. Österr. Adria-Ausstellung Wien 1913. Hrsg. von der Ausstellungs-Kommission. – Wien, 1913.

[2] Norbert Rubey/Peter Schoenwald, Venedig in Wien. Theater- und Vergnügungsstadt der Jahrhundertwende , Wien 1996.

[3] http://www.gilthserano.de/businesswissen/011202.html; http://www.shell.com/home/Framework?siteId=ch-de&FC2=/ch-de/html/iwgen/zzz_lhn.html&FC3=/ch-de/html/iwgen/sitemap.html

[4] https://www.oxforddnb.com/view/10.1093/ref:odnb/9780198614128.001.0001/odnb-9780198614128-e-62461;jsessionid=A80F57D8CA3484776EB356F441160DE9

Erpressung und Solidarität

Europäisches Tagebuch, 2.4.2020: Nachdem es mit Lügen und Zockerei nicht funktioniert hat, versucht es Österreich innerhalb der Europäischen Union nun offenbar mit Erpressung. Es gilt die Unschuldsvermutung.
In dem Gerangel über die Verteilung der zusätzlichen 10 Millionen Impfdosen, die die EU-Kommission von Biontech-Pfizer für eine vorzeitige Lieferung herausverhandelt hat, soll die neue österreichische Vertretung in der Steering Group nach Berichten des Magazin Politico gedroht haben, die weiteren Lieferungen an die EU insgesamt zu blockieren, wenn Österreich nicht über die ihnen zustehenden 140.000 zusätzlichen Impfdosen hinaus mit Extra-Lieferungen bedacht wird – z.B. auf Kosten der bisher durch verfehlte Bestellungen ins Hintertreffen gelangten Länder wie Bulgarien. Also genau auf Kosten jener Länder, die Bundeskanzler Kurz noch vor wenigen Tagen vor die Karre seiner Angriffe auf die EU gespannt hat. Kurz hatte dabei zugleich großartig verkündet, Österreich stünden 400.000 zusätzliche Impfdosen zu.
Das Bundeskanzleramt weist den Bericht von Politico als Unterstellung zurück. Österreich habe nicht mit einer Blockade gedroht. Österreich habe nur verlangt, dass man sich erst über die Verteilung der 10 Millionen Dosen einigt, bevor es um die Großbestellung für den Herbst gehen könnte. Das Bundeskanzleramt hat also eine etwas andere Formulierung dafür gefunden, dass Österreich genau das tut: es droht mit einer Blockade der Impfungen der gesamten EU. Die Reaktionen der übrigen EU-Staaten auf diesen österreichischen Amoklauf haben nicht auf sich warten lassen.

Rückblick, 2.4.2020: Im Flüchtlingslager Ritsona nördlich von Athen ist ein erster Fall von Corona festgestellt worden. Eine 19jährige wurde nach der Geburt ihres Kindes in einem Krankenhaus positiv getestet. Wenig später werden im Lager 23 Infektionen festgestellt.

Die EU stellt ein Hilfspaket von 240 Millionen für Staaten im Nahen Osten bereit, die syrische Flüchtlinge aufnehmen.

Noch immer sitzen 40.000 Asylsuchende in überfüllten Lagern auf den griechischen Inseln im Osten der Ägäis fest, die von acht Mitgliedstaaten beschlossene Aufnahme von 1600 unbegleiteten Minderjährigen hat noch nicht begonnen. Die Verhältnisse in diesen Flüchtlingslagern sind nach wie vor in jeder Hinsicht dramatisch.

90 deutsche und italienische Politiker, Wissenschaftler und Künstler haben einen Aufruf im Netz gestartet und werben für Europäische Solidarität im Zeichen der Corona-Krise und die Wahrnehmung der gemeinsamen Verantwortung durch die Europäische Zentralbank.

14 EU-Mitgliedsstaaten (Deutschland, Belgien, Dänemark, Finnland, Frankreich, Griechenland, Irland, Italien, Luxemburg, die Niederlande, Portugal, Spanien, Schweden und Lettland) haben eine Erklärung unterzeichnet, in der sie ihre Besorgnis über die mögliche Aushöhlung der Demokratie im Rahmen von Notfallmaßnahmen gegen die Corona-Pandemie zum Ausdruck bringen. Offenkundig ist insbesondere das ungarische Notstandsgesetz gemeint. Die österreichische Regierung beteiligt sich nicht an dieser Erklärung. Die ungarische Regierung spricht von einer „koordinierten Schmierenkampagne“.

EU-Krisen und “kritische Diskussion”

Rückblick, 30.3.2020: Gestern hat Sebastian Kurz in der Kronenzeitung die EU für die Krise verantwortlich gemacht: „Die EU wird sich nach der Krise eine kritische Diskussion und Auseinandersetzung damit gefallen lassen müssen. Es kann nicht sein, dass wir zwei Wochen lang komplett auf uns allein gestellt darum kämpfen müssen, dass ein Lkw der mit bereits von uns bezahlten und dringend benötigten Schutzmasken an der deutschen Grenze hängt, weiterfahren darf, und gleichzeitig unsere Kontrollen zu Italien kritisiert werden.“ Die Austria Presse Agentur verbreitet die Meldung mit der kritischen Nachfrage, ob Kurz mit “der EU” tatsächlich die EU-Kommission gemeint haben könnte, die doch selbst gar keine Entscheidungen in dieser Sache treffen kann. Oder ob er die verantwortlichen Regierungschefs meinte, also unter anderem sich selber.

Im gleichen Interview der Kronenzeitung wird Sebastian Kurz dafür gefeiert, sich schon mit Corona befasst zu haben, „als die EU derweil mit oberster Priorität noch damit beschäftigt (gewesen sei), die Grenzschließungen der Nationalstaaten zu kritisieren und sich um die minderjährigen Flüchtlinge vor der griechischen Außengrenze zu sorgen“. Gemeint sind wohl die minderjährigen Flüchtlinge innerhalb der griechischen Flüchtlingslager.

In der Kontroverse um mögliche Corona-Bonds sehen Italien und Frankreich Europäische Solidarität gefordert. Österreich, Deutschland und die Niederlande lehnen gemeinsame Anleihen ab.

Das ungarische Parlament verhängt heute mit der Zweidrittelmehrheit der Regierungspartei Fidesz zeitlich unbefristet den Ausnahmezustand, der Ministerpräsident Orban weitgehende Vollmachten einräumt, mit Dekreten zu regieren, ohne das Parlament zu beteiligen. Wahlen und Abstimmungen sind ausgesetzt. Der Generalstaatsanwalt erhält weitreichende Vollmachten. Die „Verbreitung von Fake-News“ wird mit bis zu 5 Jahren Gefängnis bestraft. Dabei denkt Orban offenbar weniger an Corona-Leugner und Verschwörungsphantasien sondern an demokratische Kritiker seiner Politik. Die wenigen Presseorgane, die noch nicht in Regierungshand sind, können damit jederzeit mundtot gemacht werden. Zuvor hat Orban schon angeordnet, dass die Presse bei bestimmten Themen vorher bei der Regierung anfragen, ob das Thema erlaubt ist.

Der österreichische Kanzler wird auf die Demontage der Demokratie in Ungarn angesprochen. Er habe wegen Corona „einfach keine Zeit“ sich mit der Lage in Ungarn zu beschäftigen. Kurz darauf postet er einen Tweet zur Lage in Venezuela.

Die EU-Kommission bemüht sich darum, die Freizügigkeit systemrelevanter Arbeitskräfte innerhalb der EU zu sichern, durch die Verbreitung praktischer Hinweise an die Mitgliedsstaaten. Und sie beschließt zusätzliche Soforthilfen für die Staaten des Westbalkans und Osteuropas in Höhe von 180 Millionen.

„Jerusalem Declaration on Antisemitism“: Über den neuen Antisemitismusstreit

Europäisches Tagebuch, 29.3.2021: Mehr als 200 Wissenschaftler*innen aus aller Welt haben die Jerusalem Declaration on Antisemitism unterzeichnet: https://jerusalemdeclaration.org/
Die meisten sind Juden, die ihr Leben der Erforschung jüdischer Geschichte, des Antisemitismus oder des Holocaust gewidmet haben. Und die ein wachsendes Unbehagen miteinander verbindet, das auch mich veranlasst hat, zu unterschreiben.

von Hanno Loewy

Der Kampf gegen Antisemitismus ist gekidnappt worden, von politischen Interessen, die mit der Verteidigung jüdischen Lebens und jüdischer Kultur, mit der Verteidigung jüdischer Selbstbestimmung wenig zu tun haben. Wir leben in einer Welt, in der sich ein autoritärer Nationalist wie Victor Orban, der seine Macht nicht zuletzt einer antisemitischen Kampagne verdankt, als Freund Israels deklarieren kann. Seine Propaganda beruht auf einer wirkungsvollen Strategie: Er verbindet Rassismus gegen muslimische Migranten (von denen es in Ungarn keine gibt) mit antisemitischen Verschwörungstheorien über die angebliche Macht eines „jüdischen Kapitalisten“, der Europa durch die Überschwemmung mit „orientalischen“ Einwanderern seine christliche Identität rauben will. In diesem Sinne hat auch „König Bibis“ Thronfolger Yair Netanjahu letztes Jahr gemeinsam mit der AFD das Ende der „globalistischen EU“ und ein „christliches Europa“ gefordert. Die Welt, in der wir heute gegen Antisemitismus kämpfen, ist komplizierter geworden.

Doch wenn deutsche (und viele andere europäische und amerikanische) Politiker heute von Antisemitismus reden, dann gibt es fast nur ein Thema: BDS, die palästinensische Boykottbewegung und ihre Freunde – oder eben Menschen, denen man das unterstellt, die es aber in Wirklichkeit gar nicht sind. Der Streit darüber hat verschiedene Dimensionen. Es geht darum, ob wir Europa, ob wir Deutschland als offene Gesellschaften begreifen, in denen wir ethnisch, kulturell und religiös verschieden sein mögen, aber unter Einhaltung gemeinsamer Regeln zusammenleben, oder ob wir Identitäten und Territorien homogen definieren, und damit die Katstrophe des Nationalismus fortschreiben. Dazu gehört dann eben auch: die Juden auf „ihr“ Territorium zu verweisen.

Zugleich geht es um einen schmerzlichen innerjüdischen Streit: Können wir nach Auschwitz in der Diaspora noch – oder endlich – selbstbewusst und selbstbestimmt Leben? Oder müssen wir nach dem nationalen Wahn des 20. Jahrhundert uns alle in einem „sicheren Hafen“ verschanzen, der sich womöglich in ein selbstgewähltes Ghetto verwandelt, nur diesmal hinter selbstgebauten Mauern?

Und schließlich tritt immer deutlicher ein innerisraelischer Streit vor Augen, der darüber geführt wird, ob dieses Land eine ethnisch-religiös exklusive Burg sein soll, in die sich Juden zurückziehen können, oder ob das Land von „fremder Besatzung befreit“ werden soll, wie es BDS fordert. Oder ob daraus ein gemeinsamer Staat seiner jüdischen und nichtjüdischen Bürgerinnen und Bürger werden kann, der zu dem finden muss, was diese Menschen miteinander teilen können, aber nicht auf dem basieren kann, was sie voneinander trennt.

Wie sich wer und warum in diesen Konflikten positioniert, das entscheidet auch darüber, welcher Definition von Antisemitismus man zuneigt. Und was und wen man unter diesem Zeichen bekämpft. Deutschlands „Antisemitismusbeauftragter“ Klein hat erst vor wenigen Tagen den seltsamen Satz geäußert, es gäbe keinen falschen und richtigen Antisemitismusbegriff. Konnte er damit etwas anderes meinen als: es braucht keinen Begriff davon, was wir unter Antisemitismus verstehen, weil er das ohnehin allein entscheidet? „Wer Antisemit ist, bestimme ich“

Die „Arbeitsdefinition“ der International Holocaust Remembrance Alliance, die inzwischen von vielen Regierungen zum Maßstab solcher Urteile gemacht wird, ist mit hehren Motiven auf den Weg gebracht worden, und erweist sich als Bumerang. Sie schwankt zwischen nichtssagender Allgemeinheit: „Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann“, und einer zu politischem Missbrauch einladenden Konzentration auf das Thema Israel, ein Missbrauch, den auch einer der ersten Autoren der Definition, Kenneth Stern, mittlerweile nachdrücklich beklagt. Bis heute ist nicht wirklich klar, was die IHRA auf ihrer Bukarester Konferenz von 2016 wirklich beschlossen hat. Nur die dürren vier Zeilen, die auf der Website der Alliance als „Arbeitsdefinition“ veröffentlicht sind? Oder auch die darunter positionierten Beispiele, die, so heißt es dort wörtlich, als „Illustration dienen mögen?

Deren erster Satz wurde von der deutschen Bundesregierung 2017 im Übereifer denn auch fälschlicherweise gleich als angeblich beschlossener Teil der Definition zitiert: „Erscheinungsformen von Antisemitismus“, so heißt es, „können sich auch gegen den Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, richten.“. Mit dieser fortan als Beschluss kolportierten „Illustration“ produziert die IHRA-Definition freilich vor allem ein Missverständnis.

Umgekehrt wird nämlich in Schuh daraus. Es sind nicht in erster Linie Antisemiten, sondern die selbsternannten „Verteidiger“ Israels, die diesen Staat als „jüdischen Staat“, und damit als Kern des „jüdischen Kollektivs“ definieren wollen. Und die damit jede Kritik an diesem Staat, seiner Politik und seiner exklusiven Definition „als jüdischer Staat“ zu einem Fall von „Antisemitismus“ erklären können, wenn das dafür eigens eingerichtete israelische „Ministerium für strategische Angelegenheiten“ entscheidet, diese Kritik sei nicht angemessen.
Nein, es geht beim Streit um BDS in Wirklichkeit überhaupt nicht um BDS, es geht darum, ob man über eine andere Verfasstheit Israels diskutieren darf, und darüber, ob Juden über ihr Leben in der Diaspora selbstbestimmt entscheiden dürfen oder nicht.

Dass die Auseinandersetzung um Israel und Palästina in der Tat zu allerlei Ungerechtigkeit, zu doppelten Maßstäben und zu einer kaum noch überbietbaren Giftigkeit in den Debatten sorgt, hat freilich nicht in erster Linie mit Antisemitismus zu tun. Sondern damit, dass die Anhänger der beiden größten Weltreligionen nun einmal davon ausgehen, dass sich in Jerusalem das Schicksal der Welt entscheidet. Eine oft gar nicht bewusste Haltung, die wenig zur Konfliktlösung beiträgt. Den jeweiligen Gegner zum Antisemiten oder zum Rassisten zu erklären, führt nur weiter in einer ausweglosen Spirale der Gewalt und der Nichtanerkennung des Anderen. Die Jerusalemer Erklärung könnte dazu beitragen die Diskussion um Israel und die Diskussion über Antisemitismus endlich wieder in rationaleres Fahrwasser zu führen, und das heißt vor allem, sie wieder ein Stück voneinander zu trennen. Auch wenn der Sturm der „Empörung“ oder ihr Sekundant, die Häme, wie sie in der FAZ schon ausgegossen wurde, nicht auf sich warten lässt.

Der Beitrag beruht auf einem opinion piece in der Tageszeitung taz vom 29.3.2021. 

Mangelnde Solidarität

Rückblick, 28.3.2020: „Das Klima, das zwischen den Staats- und Regierungschefs zu herrschen scheint, und die mangelnde europäische Solidarität stellen eine tödliche Gefahr für die Europäische Union dar“, erklärt der frühere EU-Kommissionspräsident Jacques Delors.

Die von der Türkei an die Grenze zu Griechenland gebrachten syrischen Flüchtlinge durften ihre Notunterkünfte verlassen und werden nun zurück in die Türkei gebracht.

Niederösterreich lässt 281 Pflegerinnen und Pfleger aus Rumänien und Bulgarien mit Sondermaschinen einfliegen. Die 24-Stunden Betreuung droht sonst zusammenzubrechen. Auch andere österreichische Bundesländer planen ähnliche Maßnahmen. Nachdem osteuropäische Arbeitskräfte jahrelang von der Boulevardpresse wie auch von türkisen und blauen Politikern immer wieder als Sozialschmarotzer beschimpft worden sind, und ihre Sozialleistungen gekürzt wurden, werden sie nun heftig umworben.

Erntehelfer und Arbeitssklaven

Europäisches Tagebuch, 25.3.2021: Vor einigen Wochen hat Portugal im Zuge seiner Ratspräsidentschaft den Versuch unternommen, die soziale Situation, die Arbeitsbedingungen, die Entlohnung und den legalen Status von Erntehelfern in der EU zu verbessern. Zahlreiche EU-Staaten haben sich der Forderung angeschlossen, Agrarförderungen. von der Einhaltung von Standards abhängig zu machen. Auch im EU-Parlament engagieren sich immer mehr Abgeordnete in dieser Frage.

Schließlich arbeiten die häufig illegal oder weit unter Kollektivverträgen oder Mindestlöhnen Beschäftigten unter zum Teil unerträglichen Verhältnissen, bis zu 12, ja manchmal 17 Stunden am Tag, untergebracht in menschenunwürdigen Behausungen. Dies gilt nicht zuletzt für die großen Agrarproduzenten Europas, Spanien und Italien. Aber auch für Länder wie Österreich.
Portugal hat vorgeschlagen, die EU-Agrarförderungen (immerhin ein Drittel des EU-Budgets) davon abhängig zu machen, dass Landwirte und Lebensmittelkonzerne endlich menschenwürdige Arbeitsbedingungen schaffen und soziale Rechte respektieren. Im Europäischen Rat haben 12 Länder jedoch Portugals Vorschläge abgelehnt, nicht zuletzt die österreichische Landwirtschaftsministerin Köstinger, die stattdessen eine „Informationskampagne“ starten will. Nun bringt sie auch eine „Evaluierung“ ins Spiel. Alles soll dazu dienen, offenbar Zeit zu gewinnen. Wofür auch immer. Interessanterweise sind es weder Italien noch Spanien, die den portugiesischen Vorschlag blockieren, sondern neben Österreich auch Belgien, Bulgarien, Kroatien, Zypern, Tschechien, Finnland, Griechenland, Ungarn, Malta, Rumänien, Lettland und die Slowakei. Der österreichische EU-Abgeordnete Thomas Waitz (Grüne) spricht von „sklavenartigen Verhältnisse und erklärt, es könne nicht sein, „dass man weiter öffentliches Geld bekommt, obwohl man Arbeitsrechte untergräbt.“ Waitz geht davon aus, dass eine Verbesserung der Arbeitsverhältnisse auch einen faireren Wettbewerb innerhalb der EU zulassen würde. Eine Einigung ist wohl noch in weiter Ferne. Schließlich gibt es wirtschaftliche Interessen daran, dass EU-Agrarprodukte auch auf dem Weltmarkt „konkurrenzfähig“ bleiben. Aber das geht zusehends auf Kosten derjenigen, die dafür schuften müssen.

Heute Abend spricht der österreichische Migrationsexperte Rainer Münz im Jüdischen Museum Hohenems über Wanderarbeit und Migration in Europa – vor, während und nach der Covid-Krise. Hier die Aufzeichnung des Abends.

Rückblick, 25.3.2020: Ausländische Erntehelfer fehlen in Österreich. Laut dem Branchenverband Obst und Gemüse mangelt es bereits an 2500 Helfern. Im Mai könnten es 5000 sein. Die meisten Erntehelfer kommen aus Rumänien und anderen osteuropäischen Staaten und können derzeit weder aus- noch einreisen. Auch in der Fleischproduktion und -verarbeitung fehlen hunderte von Arbeitskräften.

Verzockt

Europäisches Tagebuch, 23.3.2021: Offenbar hat sich Österreichs Bundeskanzler Kurz nun ganz und gar verrannt. Hier die aktuelle Zusammenfassung einer Woche österreichischer Eigentore. Eines grotesker als das andere.

Vor nicht ganz zwei Wochen hat Kurz einen „europäischen Skandal“ verkündet. Mit dem Blick auf den unterschiedlichen Impffortschritt in verschiedenen EU-Staaten war zu erkennen, dass einige Staaten schneller unterwegs waren als andere. Und das lag tatsächlich, an unterschiedlichen Liefermengen. Kurz brachte das mit einem angeblichen „Basar“ in Verbindung, der manche Länder bevorzugt hätte. Der Vorwurf stand kaum einen halben Tag im Raum, da war er auch schon als Propagandalüge entlarvt. Denn die unterschiedlichen Liefermengen hatten einen einfachen Grund. Manche Staaten wollten mehr vom teureren Biontech, andere mehr vom billigeren Astra Zeneca-Vakzin. Und dann gab es die bekannten Lieferprobleme bei Astra Zeneca. Das Ergebnis kann man sich selbst ausrechnen.
Schnell wurde auch klar, dass es nicht zuletzt Regierungen mit einer – wie soll man es sagen – ausgeprägten „EU-Skepsis“ (z.B. die österreichische) waren, die verhindert hatten, dass die EU-Kommission die Impfstoffe einfach gleichmäßig nach Bevölkerungszahl verteilt. Nein, man wollte selbst bestimmen, wer wieviel von welchen Impfstoff bezog.

Österreich befand sich auf der Gesamtbilanz der Lieferungen übrigens zufällig genau in der Mitte. Im Vergleich mit den anderen Ländern hatte Österreich nicht zu wenig und nicht zu viel erhalten.

Doch dann platzte das nächste Bömbchen. Dem Kanzler kam zu Ohren, dass der österreichische Vertreter im Steuerungsgremium der EU offenbar eine Gelegenheit ausgelassen hatte, sich ein paar Zusatzbestellungen zu sichern. Dass Kurz davon nichts gewusst haben wollte, veranlasste den ansonsten so abgeklärt-ruhigen Politikwissenschaftler Peter Filzmaier im Österreichischen Rundfunk die Frage zu stellen, was „Kanzler Kurz beruflich eigentlich so macht“. Nun saß der „Schuldige, ein altes ÖVP-Urgestein, passenderweise im grünen Gesundheitsministerium, was dem Kanzler Gelegenheit bot, den gerade krankheitshalber verhinderten Gesundheitsminister öffentlich vorzuführen. Und selber damit gar nichts zu tun zu haben. All das, ohne dass jemand aufgefallen wäre, dass zwischen „bestellen“ und „liefern“ inzwischen eine signifikante Lücke klafft. Oder mit anderen Worten: Hätte Clemens Martin Auer seine Zusatzbestellung abgegeben, wären wohl auf absehbare Zeit auch nicht mehr Impfstoffe in Österreich angekommen. Bestellt sind nämlich inzwischen eh schon mehr Vakzine, als Österreich braucht.

Nachdem auch dieser „Skandal“ sich schneller in Luft aufgelöst hat, als man dabei zusehen konnte, schwang sich Kurz zum Fürsprecher der „zu Kurz gekommenen“ auf und verlangte kategorisch einen EU-Gipfel. Der allerdings sowieso vor der Tür stand.

Angesichts der tatsächlich ungleichen Liefermengen, von denen einige osteuropäische Staaten, wie Bulgarien, Kroatien oder Litauen betroffen sind, hat die EU-Kommission nun ihrerseits Taten zeigen wollen. Und verkündete einen Verhandlungserfolg mit Biontech.
10 Millionen Dosen sollen nun aus dem Herbst vorgezogen werden und besonders den schlechter versorgten Ländern zu Gute kommen, auch wenn diese an ihrer Malaise im Grunde selber Schuld sein mögen. Aber was tut man nicht, um die Gemüter zu beruhigen.
Kaum erschien dieser warme Regen an zusätzlichen Dosen am Horizont wechselte der österreichische Kanzler erneut das Hemd und verkündete stolz, dass Österreich (bislang weder benachteiligt noch bevorteilt) aus diesen neuen Lieferungen 400.000 zustehen würden und ließ sich dafür gleich einmal feiern. Doch auch diese Feier währte nur kurz. Schließlich würde sich Österreich damit auf Kosten der bislang Benachteiligten nun seinerseits bereichern. Die Ansage aus Brüssel, aber auch aus anderen EU-Ländern, ließ nicht lange auf sich warten. Österreich soll mal im Moment exakt Null zusätzliche Dosen erwarten. Nun steht der österreichische Kanzler vor dem Scherbenhaufen seines eigenen Skandals. Und droht mit einem Veto.

Immerhin ist es ihm damit gelungen von Dingen abzulenken, die seiner Anti-EU-Rhetorik wirklich in die Quere hätte kommen können. Der Skandal und Hygiene Austria und andere Probleme mit der “Message Control”. Und dann noch die südafrikanische Mutation in Tirol. Ganz und gar nicht bürokratisch hatte die EU auf den Hotspot der südafrikanischen Mutation in Tirol reagiert. Und den Bezirk Schwaz mit einer großzügigen Notversorgung mit Impfstoffen aus der Krise geführt. Das will natürlich nun auch jeder haben. Aber diese tatsächliche Bevorzugung Österreichs hat sich wirklich nicht dazu geeignet, in Österreich mit EU feindlicher Propaganda zu punkten. Dieses Problem hat Kurz jedenfalls kurzfristig aus dem Weg geräumt.

Rückblick, 23.3.2020: Zwei Boeing der Fluggesellschaft AUA fliegen 130 Tonnen medizinisches Schutzmaterial aus China für Tirol und Südtirol ein. Die Luftbrücke wird unter großer Medienaufmerksamkeit als spektakulärer Erfolg von Kanzler Kurz und Südtirols Landeshauptmann Kompatscher gefeiert. Auch der Bergsportausrüster Oberalp Group lässt sich für die Hilfsaktion feiern. Insgesamt sollen 20 Millionen Schutzmasken geliefert werden. Wenig später stellen sich die gelieferten Schutzmasken allerdings als weitgehend unbrauchbar heraus. Zertifikate, ohne die die Ware gar nicht hätte eingeführt werden dürfen, fehlen völlig. Nur 1,7 Millionen Masken von 20 Millionen, die schon bezahlt sind, werden schließlich überhaupt ausgeliefert.

Ebenfalls am 23.3.2020: Die EU-Kommission bittet die Mitgliedstaaten durch die Einrichtung von Green Lanes mit Vorrang für den Frachtverkehr für die Aufrechterhaltung des Warenfluss innerhalb der EU zu sorgen, angesichts drohender weiterer Grenzsperren, die zu Lieferengpässen lebenswichtiger Güter führen könnten.

Impfnationalismus

Europäisches Tagebuch, 20.3.2021: Der Streit um die Verteilung von Impfstoffen in der EU wird vom österreichischen Bundeskanzler weiter angeheizt. Im letzten Jahr noch wurde der Plan der EU-Kommission, die Impfstoffe gerecht auf alle Länder der EU zu verteilen, nicht zuletzt durch Staaten wie Österreich torpediert, die sich – im Rahmen der gemäß Bevölkerungszahl zugeteilten Gesamtmengen die Impfstoffe selbst aussuchen wollten. Das führte dazu, dass Länder die auf den billigen Impfstoff von Astra Zeneca setzten, wie Bulgarien oder Kroatien, angesichts der Produktions- und Lieferschwierigkeiten des Britischen Lieferanten derzeit das Nachsehen haben. Und solche, die auf den teuren Biontech-Impfstoff setzten, wie Malta oder Dänemark, derzeit besser abschneiden.
Österreich erhielt bislang allerdings, gemessen an den zur Verfügung stehenden Mengen, weder zuviel noch zu wenig Imnpfstoff. Das hielt aber den österreichischen Kanzler nicht davon ab, sich zum Wortführer der „zu Kurz gekommenen“ auszurufen. Und das eigene Gesundheitsministerium öffentlich anzugreifen.

Offenbar hat der österreichische Vertreter im EU-Impfgremium Clemens Martin Auer, ein altgedienter ÖVP-Mann, eine Gelegenheit ausgelassen, genau das zu tun, was Kanzler Kurz nun anderen vorwirft, nämlich auf dem „Basar“ noch eine Extra-Bestellung abzugeben. Ob die freilich zu einer schnelleren Lieferung von Impfdosen geführt hätte, mag bezweifelt werden. Österreich und die gesamte EU haben nämlich ohnehin schon weit mehr Impfdosen bestellt, als in diesem Jahr zur Durchimpfung der Bevölkerung gebraucht würden. Die derzeitigen Verzögerungen liegen offenkundig nicht an zögerlichen Bestellungen, sondern an sich dahinschleppenden Lieferungen.

Wenige Tage vor dem nächsten EU-Gipfel fordert Kurz einen EU-Gipfel. Diese Forderung klingt so, als würde er bei Sonnenuntergang mit allem Nachdruck einen baldigen Sonnenaufgang fordern, nur um ein paar Stunden später einen Erfolg zu verkünden.

EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen hat vor wenigen Tagen mitgeteilt, dass die Lieferung weiterer 10 Millionen Dosen von Biontech-Pfizer nun vorgezogen werden könnten, nach dem es noch vor wenigen Wochen auch von diesem Hersteller Lieferschwierigkeiten gab. Mit diesen Dosen könnten nun Länder bevorzugt werden, die bei ihren Bestellungen im letzten Jahr auf die falsche Karte gesetzt haben. Das auch das bislang weder begünstigte noch benachteiligte Österreich nun zusätzliche Forderungen stellt, kommt bei ihr freilich nicht gut an. Ist doch schon der Versuch, die unterschiedlichen Liefermengen durch diese zusätzlichen Biontech-Impfdosen auszugleichen von der Bereitschaft einiger Länder abhängig, freiwillig auf einen Teil der ihnen verabredungsgemäß zustehenden Lieferungen zu verzichten. Der von Österreich geschürte Impfnationalismus ist dabei nicht wirklich hilfreich.

Litauen verkündet indes mit großer Geste, es würde seinen Bürgerinnen und Bürgern nun freizustellen, mit welchem Impfstoff sie sich impfen lassen wollen. Auch das ist offenbar nur ein Propagandacoup. Denn die Auswahl zwischen Astra Zeneca und Biontech besteht offenbar vor allem darin, sich jetzt oder irgendwann später impfen zum lassen. Da von beidem zu wenig da ist, gewinnt die litauische Regierung damit zumindest ein wenig Zeit – und ihre Bürgerinnen und Bürger: nichts.

Rückblick 20.3.2020: Der israelische Historiker Yuval Harari sieht in Israel „die erste Coronavirus-Diktatur“ entstehen. Ministerpräsident Netanyahu nutzt die Corona-Krise und den verhängten Lockdown offenbar, um sich die fünfte Amtszeit zu sichern und den Widerstand gegen seine Neuernennung zu brechen, während der Prozess wegen Betrug, Untreue und Bestechlichkeit auf ihn wartet und wartet.

Boris Johnson verkündet indes die in seinen Augen offenbar bisher härteste Anti-Coronamaßnahme auf der britischen Insel: “We’re taking away the ancient, inalienable right of free-born people of the United Kingdom to go to the pub”.

In einem Interview mit der deutschen Bild-Zeitung erklärt der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz, es wäre ein Anruf des Israelischen Premiers Benjamin Netanjahu gewesen, der ihn wachgerüttelt hätte. Er meint damit wohl die Telefonkonferenz zahlreicher EU-Premiers am 9. März, an dem auch Netanjahu teilgenommen hatte. Netanjahu hätte, so Kurz, gemeint, „ihr unterschätzt das in Europa.“ Die dramatische Situation im Nachbarland Italien seit Anfang März hat offenbar nicht gereicht, um den österreichischen Kanzler aufzuwecken.

Die EU-Kommission reagiert auf die zu erwartenden wirtschaftlichen Probleme im Zuge der Pandemie und ihrer Bekämpfung. Sie erlaubt nun Ausnahmen von den strengen Regeln, die Wettbewerbsverzerrungen durch staatliche Subventionen einschränken sollen. Sie hat einen befristeten Rahmen beschlossen, der es den Mitgliedstaaten erlaubt, Wirtschaftshilfen innerhalb kurzer Zeit zu vergeben.

Heimpflege in Corona-Zeiten

Rückblick, 18.3.2020: Am österreichisch-ungarischen Grenzübergang Nickelsdorf steht eine 45 Kilometer lange Fahrzeugkolonne, nach dem die ungarische Regierung die Grenzen geschlossen hat. Viele im Stau arbeiten als Heimpflegerinnen in Österreich und wollen nach zwei Wochen 24 Stundenpflege turnusmäßig zurück zu ihren Familien in Rumänien. Am Tag zuvor hat schon die Slowakei die Grenzen geschlossen und lässt nur eigene Staatsbürger zurück. Ohne die 60.000 HeimpflegerInnen, vor allem aus Rumänien und der Slowakei, aber auch aus Serbien und Bulgarien, die die 24 Stunden Pflege in Österreich aufrechterhalten, würde das System bald zusammenbrechen, warnen die betroffenen Organisationen und Behörden.
Noch vor wenigen Monaten wurde in Österreich damit Wahlkampf gemacht, diesen Menschen die Sozialleistungen zu kürzen. Nun erwägt Österreich besondere Prämien für die Pflegerinnen um den Kollaps insbesondere der Altenpflege im Land verhindern zu können.

Die EU Kommission veröffentlicht Leitlinien für Fluggastrechte bei Stornierungen.

Die Zahl der Corona-Toten in Italien ist vor drei Tagen schon auf über 1800 gestiegen. Die Regierungen der norditalienischen Regionen warnen vor Engpässen. Es gibt nicht genug Intensivbetten, Beatmungsgeräte, Schutzkleidung. In Kärnten gibt es zur gleichen Zeit 4 Corona-Fälle und 155 Intensivbetten.

Das britische Gesundheitssystem NHS ist auf die Corona-Pandemie noch schlechter vorbereitet: Großbritannien hat nach zahlreichen Sparprogrammen der vergangenen Jahre nur noch 6,6 Intensivbetten pro 100.000 Einwohner (Im Vergleich Österreich: zuletzt etwa 23).

Donald Trump hat in einem Presse-Briefing erklärt: „Ich habe immer gewusst, dass das eine Pandemie ist. Ich hatte das Gefühl, dass es eine Pandemie ist, lange bevor es als Pandemie bezeichnet wurde.“

Österreichische Arithmetik: 5000 = 186

Europäisches Tagebuch, 17.3.2021: Kurz vor Weihnachten 2020 wollten wie uns heute wieder in Erinnerung gerufen wird,  ein paar österreichische Regierungsmitglieder Herbergseltern spielen. Schließlich stand wieder das Fest der Herbergssuche der Flüchtlinge Josef und Maria auf der Tagesordnung. Es sei doch gar nicht so, dass man hartherzig sei und Flüchtlingskindern auf den griechischen Inseln jede Hilfe verweigern würde. Alles nur schlechte Nachred‘.

Nachdem sich herumgesprochen hatte, dass Bundesinnenminister Nehammers großzügige „Hilfe vor Ort“, also die im Oktober gelieferten Zelte,  in einer griechischen Lagerhalle vergammelte, und einmal mehr die verstörenden Bilder der Flüchtlingslager auf Lesbos und Samos die Runde machten, rückten Karl Nehammer und Susanne Raab aus, um herzenswarme Stimmung zu verbreiten.
Österreich habe mehr als 5000 Kindern im Jahr 2020 Schutz gewährt, behauptete der Innenminister. Und „Integrationsministerin“ Susanne Raab sekundierte am 18. Dezember in der Nachrichtensendung ZIB2, Österreich habe in diesem Jahr mehr als „5000 unbegleitete Minderjährige aufgenommen“. Zweifel an dieser Zahl wurden unmittelbar laut. Dann wurde das Thema von der Tagespolitik verdrängt.
Gestern hat Karl Nehammer endlich eine entsprechende parlamentarische Anfrage der Neos im österreichischen Nationalrat beantwortet. Die dabei zu Tage geförderte Realität sieht folgendermaßen aus:

Österreich hat 2020 186 (in Worten einhundertsechsundachtzig) unbegleitete minderjährige Flüchtlinge aufgenommen. Von den übrigen 5544 begleiteten minderjährigen Flüchtlinge, denen 2020 in Österreich ein Schutzstatus zugesprochen wurde, ist die Mehrzahl, nämlich 3220, in Österreich gar nicht „aufgenommen“ worden. Sie wurden in Österreich geboren. In vielen anderen Ländern hätten sie damit keinen „Schutzstatus“ nötig. Sie wären Staatsbürger. Aber dies einmal nur am Rande.
2324 Minderjährige, die 2020 Schutz erhalten haben, sind hingegen tatsächlich als Flüchtlinge nach Österreich gekommen. Gemeinsam mit ihren Eltern oder anderen Angehörigen. Die meisten von ihnen sind schon jahrelang im Land und warteten auf eine Entscheidung.

Kurz zusammengefasst: 5000 in Österreich letztes Jahr „aufgenommene unbegleitete Minderjährige“ sind tatsächlich 186. Die Herbergseltern Nehammer und Raab lügen wie gedruckt. Aber das ist nicht wirklich neu. Und es ist ihnen auch vollkommen egal.

Rückblick, 17.3.2020: In einer Videokonferenz diskutieren Angela Merkel, Emmanuel Macron, Boris Johnson und Recep Tayyip Erdogan über die Lage der Flüchtlinge in der Türkei. Angesichts des von den Medien auch in Österreich angeheizten Propagandakriegs zwischen der EU und dem Erdogan-Regime in der Türkei setzen beide Seiten inzwischen auf Geheimdiplomatie, um nach einer Lösung zu suchen, die beiden Seiten Gesichtswahrung erlaubt.
Die EU hatte mit ihrer Weigerung, den Flüchtlingsdeal zwischen Europa und der Türkei zu verlängern, Erdogan zu einem Propagandacoup provoziert, auf Kosten der Flüchtlinge, die mit falschen Versprechungen an die türkisch-griechische Grenze gekarrt wurden, um Druck auf Griechenland und die EU auszuüben.

Basar?

Europäisches Tagebuch, 12.3.2021: In einer eigens einberufenen Pressekonferenz behauptet Österreichs Bundeskanzler Kurz, einen europäischen Skandal aufgedeckt zu haben. Es sei bei der Verteilung der Impfstoffe wie auf einem „Basar“ zugegangen, und einzelne europäische Länder hätten sich durch heimliche Nebenabsprachen zusätzliche Lieferungen von Impfdosen gesichert. Dadurch seien einzelne europäische Länder bevorzugt und andere benachteiligt worden: „Die Lieferung erfolgte nicht nach Bevölkerungsschlüssel.“ Sondern offenbar wie bei „den Orientalen“. Oder was will Kurz mit seiner Wortwahl wohl sagen?

Der Impffortschritt in Malta und Dänemark sei viel schneller als in Ländern wie Bulgarien, Lettland oder Kroatien. Das könne nicht nur an der Impfgeschwindigkeit liegen. Kurz wittert Geheimverträge über zusätzliche Lieferungen und fordert „Transparenz“.
Doch die mit großartiger Geste vorgetragenen Beschuldigungen sind schon innerhalb von wenigen Stunden in sich zusammengefallen, wie ein Kartenhaus. Und dabei ist viel Porzellan zerschlagen worden.

Vielleicht hätte er vorher einmal den stellvertretenden Vorsitzenden des verantwortlichen „Lenkungsausschusses“ der EU fragen können, wie es zu den unterschiedlichen Liefergeschwindigkeiten in die verschiedenen EU-Staaten kommt, nämlich den österreichischen Vertreter im „Steering Board“: Clemens-Martin Auer?
Die Antworten auf die raunenden Fragen des Kanzlers sind erschütternd einfach. Die EU hat zu einem frühen Zeitpunkt Rahmenverträge mit den meisten Pharma-Konzernen abgeschlossen, die an Impfstoffen arbeiteten, und dies lange bevor klar war, welche davon zuerst zugelassen werden können. Sie haben dabei auf verschiedene Pferde setzen müssen, und sie haben mit ihren Bestellvolumen die Forschung an den Impfstoffen zum Teil erst ermöglicht. Da einige EU-Mitgliedstaaten bei Ausgaben grundsätzlich auf der Bremse standen (wir erinnern uns an die „sparsamen vier“, allen voran Österreich) wurde wohl auch versucht, die Preise zu drücken. Das rächt sich jetzt.
Und dann hat die EU den Mitgliedstaaten die Möglichkeit eröffnet – im Rahmen ihrer jeweiligen, ihnen zustehenden Liefermengen – sich mehr für den einen oder anderen Impfstoff zu entscheiden, zum Beispiel für die teureren Biontech-Pfizer oder die günstigeren AstraZeneca Vakzine. Malta zum Beispiel buchte so viel wie möglich Biontech-Pfizer und Bulgarien so viel wie möglich AstraZeneca, dessen Lieferungen gerade durch massive Probleme bei Produktion und Ausfuhr verlangsamt sind.

Aber was interessieren solche banalen Realitäten einen Kanzler, der gerade damit zu tun hat, dass ihm die „Message Control“ entgleitet. Hans Rauscher spricht im Standard von der „größten Nebelgranate seit Beginn der Corona-Krise“. Das könnte sich als Untertreibung herausstellen. Denn wenn sich das Anheizen von Impfnationalismus verbreitet, dann hätten wir es mit einer noch gefährlicheren Pandemie zu tun.

Bislang aber steht der österreichische Kanzler mit seinen Lügenmärchen allein da. Weder die EU-Kommission, noch das österreichische Gesundheitsministerium, weder Deutschland noch das angeblich benachteiligte Kroatien haben auch nur einen Tag gezögert, sich von diesem Amoklauf zu distanzieren. Und haben sachlich und diplomatisch abgeklärt auf die wenig sensationellen Tatsachen hingewiesen. Immerhin, ein Tag an dem einmal nicht die geheimen Nebenabsprachen, die Ausbeutung illegal Beschäftigter oder die obskuren Lieferketten von „Hygiene Austria“ für Schlagzeilen sorgen. Das ist für den Kanzler ein „guter Tag“. 

Rückblick 12.3.2020: Entgegen der Beschlüsse der Videokonferenz vom 10.3.2020 hat Österreich seine italienischen Nachbarn gestern mit Grenzkontrollen am Brenner überrascht. Offenbar ohne, dies vorher mit der italienischen Regierung abgesprochen zu haben.

Die WHO hat die um sich greifenden Covid-19 Erkrankungen nun zur Pandemie erklärt.
US-Präsident Donald Trump hat alles im Griff. Er kündigte eine Einreise-Verbot für Europäer an: „Weil wir sehr früh reagiert haben, sehen wir deutlich weniger Virus-Fälle in Amerika als in Europa.“

Boris Johnson und der wissenschaftliche Chefberater der britischen Regierung haben heute ihre Strategie der Corona-Bekämpfung öffentlich verkündet: „Es ist jetzt nicht mehr möglich, zu verhindern, dass sich fast jeder mit der Krankheit anstecken wird. (…) Das ist auch gar nicht das, was man will. Schließlich soll die Bevölkerung Immunität gegen das Virus aufbauen.“ Sie erwarten den Höhepunkt der Epidemie im Mai und Juni und wollen erst dann drastische Maßnahmen ergreifen. Um die Welle der Infektion zu verzögern, soll erst mal ab sofort jede Person, die Husten und/oder Fieber bekommt, sieben Tage zu Hause bleiben, nicht zum Arzt gehen und nicht den ohnehin überlasteten Notdienst anrufen.

Telefonkonferenzen

Europäisches Tagebuch, Rückblick 10.3.2020: In Italien wurden gestern 10.000 bestätigte Corona Infizierte und über 400 Tote gezählt. Ministerpräsident Conte hat die schon verhängten Beschränkungen in Norditalien nun ausgeweitet und das gesamte Land zur Schutzzone erklärt, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen: „Unsere Gewohnheiten müssen sich ändern, wir müssen alle etwas Aufgeben zum Wohl Italiens.“ Schulen, Universitäten, Kindergärten werden geschlossen, Veranstaltungen werden verboten.

Gestern hat an einer Telefonkonferenz mehrerer EU-Premiers, darunter Italiens Ministerpräsident Conte und Österreichs Bundeskanzler Kurz, auch Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu teilgenommen. Angeblich hat Netanjahu die Europäer dazu ermahnt, Corona ernst zu nehmen. Dem italienischen Ministerpräsidenten musste er das freilich nicht lange erklären. Aber auf Italien wollen die anderen EU-Länder nur ungern hören.

Heute folgte eine Videokonferenz der EU-Regierungschefs. Es wurde vereinbart keine nationalen Alleingänge zu unternehmen, sondern Maßnahmen miteinander abzustimmen.

Ischgl

Rückblick, 5.3.2020: In der Nacht vom 4. auf den 5. März erhalten die Tiroler Behörden offizielle Informationen der isländischen Regierung über 14 infizierte Urlauber aus Ischgl, die Ende März via München zurückgekehrt sind und in fünf verschiedenen Hotels genächtigt hatten. Schon am 3. März ist eine Meldung einer isländischen Reiseleiterin in einem Hotel in Ischgl eingegangen, die von Infektionen berichtet.

In der Sitzung des Tiroler Krisenstabs beschwichtigt der Leiter der Landessanitätsdirektion Franz Katzgraber: Die Isländer „wären angeblich positiv getestet worden“, heißt es im Protokoll. „Ob sie wirklich positiv getestet wurden, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden.“ Man „wartet noch auf Informationen aus dem Ministerium“. Man entscheidet sich, gegenüber der Öffentlichkeit zu kommunizieren, dass die Ansteckungen der Isländer wahrscheinlich im Flugzeug passiert seien.
Zu diesem Zeitpunkt ist das Land Tirol allerdings bereits darüber informiert, dass die 14 infizierten Isländer an unterschiedlichen Tagen heimgereist sind und schon während ihres Aufenthalts in Ischgl Symptome zeigten. (so werden Profil am 4.5.2020, und der Standard am 29.5.2020 berichten)
Die Behörden reagieren entsprechend zögerlich. In den betroffenen Hotels werden nur wenige Personen getestet, anders als beim ersten Verdachtsfall eine Woche zuvor in Innsbruck.