Europäisches Tagebuch, 19.10.2020: Die Folgen des umstrittenen BDS-Beschlusses des Deutschen Bundestages vom Mai 2019 zeichnen sich einmal mehr deutlich ab. Er wird offenbar als Generalvollmacht für Zensur verstanden – und vielleicht war er auch so gemeint. Und so kommt ein absurdes Spiel in Gang, dass nur denjenigen hilft, die kein Interesse an einer Lösung des Konflikts um Israel und Palästina haben. Und denjenigen, die verhindern wollen, dass man darüber überhaupt gemeinsam nachdenken darf.
Aber kurz zum Verständnis. Die vor Jahren in Israel und Palästina gegründete Bewegung “Boycott-Divestment-Sanctions” versteht sich als nicht-gewaltsamer Widerstand gegen die israelische Besatzung in Palästina. Und ist in ihren Methoden ansonsten freilich nicht zimperlich. Sie ruft weltweit zu Boykottaktionen gegen Israel auf. Sie fordert die Beendigung der Besetzung „arabischen Landes“, was ganz bewusst über den Widerstand gegen die Besetzung der Westbank und des Gazastreifens hinausgeht und das Existenzrecht Israels in seiner jetzigen Form als „jüdisch“ definierter Nationalstaat in Frage stellt. Und zugleich fordert sie gleiches Recht für alle Menschen in Israel, was man auch als ein mögliches Angebot begreifen könnte, über einen binationalen Staat Israel zu diskutieren. Wie auch immer, BDS ist und bleibt wohl eine ziemlich unausgegorene, man könnte auch sagen eine ausgesprochen uneinheitliche Bewegung. Für die im Übrigen auch viele Juden und jüdische Israelis Sympathie oder zumindest ein gewisses Verständnis äußern. Angesichts der festgefahrenen Verhältnisse. Und auch dann, wenn man dabei irgendwie ein ungutes Gefühl hat.
Denn der Erfolg von BDS erschöpft sich leider vor allem darin, die Falschen zu treffen. Mangels Durchsetzungskraft an jenen Stellen, wo es Israel weh tun könnte, konzentrieren sich die Aktivisten (vor allem in den USA) immer wieder darauf, Auftritte von israelischen Wissenschaftlern und Künstlern zu skandalisieren, Kooperationen an Universitäten oder von Kulturveranstaltern zu boykottieren. „Cultural Boycott“ wird zwar keineswegs von allen BDS-Aktivisten gutgeheißen, aber mit solchen Aktionen erreicht man natürlich schnell eine große Öffentlichkeit, und das ist verführerisch.
Und man trifft zugleich genau diejenigen, die eigentlich für einen möglichen Dialog gewonnen werden könnten. Was bleibt ist der fahle Beigeschmack, dass viele in der BDS-Bewegung mit ihren kulturellen Boykottaktionen (von denen sich die Führung der Bewegung eh nicht öffentlich distanziert) eben doch jede Auseinandersetzung um gemeinsame Perspektiven torpedieren wollen. Aus welchen Motiven auch immer.
So weit so schlecht. Noch viel “erfolgreicher” (also destruktiver) aber ist der Boykott, der nun in Europa um sich greift. Und sich als „Maßnahmen gegen BDS“ aufspielt. Zu diesen „Maßnahmen“ gehört insbesondere der Entzug von öffentlichen Förderungen für Projekte, ein weites Feld für Willkür aller Art. Denn was ist eine Förderung? Von der Finanzierung von NGOs, Fördergeldern für Kulturveranstalter und Projekten an Hochschulen reicht das bis zur Vermietung öffentlicher Räume. Und wer trifft die Entscheidung darüber? Und was hat das alles noch mit einer liberalen Demokratie und einem Rechtsstaat zu tun? Diese vom Deutschen Bundestag autorisierten „Maßnahmen“ richten sich nun zumeist nicht gegen die BDS-Bewegung selbst, sondern gegen alle Menschen, die irgendjemand, mit welchem Recht auch immer, öffentlich unter den Verdacht gestellt hat, irgendetwas mit BDS zu tun haben. (Dazu reicht auch, irgendwann vor Jahren mal irgendeinen Aufruf mitunterschrieben zu haben…). Wir sind mitten in einer neuen Form von McCarthyismus gelandet. „Sind oder waren sie Mitglied?“ Oder kennen sie jemand?
Ein interessantes Beispiel dafür, wie weit diese absurde Spirale von Boykott und Gegen-Boykott inzwischen gekommen ist, kann man derzeit in Berlin beobachten. Dort setzt sich an der Kunsthochschule Weißensee eine Gruppe jüdischer Israelis seit einem Jahr mit der zionistischen Geschichtserzählung auseinander. Die Sprecherin der Gruppe (School for Unlearning Zionism), die in der Kunsthalle am Hamburger Platz derzeit eine Ausstellung plant, Vorträge, Filmabende und Workshops auf Englisch und Hebräisch veranstaltet, ist Yehudit Yinhar.
Bevor sie nach Berlin zog, um als Meisterschülerin an der Kunsthochschule Weißensee zu studieren, gehörte sie in Israel zu den AktvistInnen der Israelisch-Palästinensischen Friedensbewegung Combatants für Peace, die jedes Jahr ein Tag vor dem israelischen Staatsfeiertag für die Gefallenen, einen gemeinsamen binationalen Gedenktag für die Opfer beider Seiten veranstaltet. Auch wenn die Bewegung vom israelischen Staat massiv behindert wird, nehmen jedes Jahr mehr Menschen an dieser Zeremonie teil, darunter auch bekannte israelische Musikstars, wie Achinoam Nini (kurz „Noa“). Im Mai 2020 waren es schließlich 200.000 Menschen, die aufgrund des Lockdowns diesmal online die Feier verfolgten. Die Combatants for Peace, die zwischen den Fronten nach Auswegen aus dem Konflikt suchen, muss sich regelmäßig harsche Kritik von BDS genauso wie von der israelischen Regierung gefallen lassen. Und natürlich von allerhand Organisationen und Medien, die sich als Aufpasser gegen „Antisemitismus“ gerieren.
So ergeht es jetzt auch dem Projekt an der Kunsthochschule Weißensee. Die jüdisch-israelische Gruppe ist ins Fadenkreuz geraten. Und so organisieren die Gegner von BDS nun einen Boykott gegen jüdische Israelis.
Zunächst hat die regierungsnahe, rechtspopulistische israelische Zeitung Israel Hayom das Projekt skandalisiert. Das Denunziantentum der Zeitung kann mittlerweile jeden treffen. Und manchmal passiert auch nichts. Doch diesmal sind die israelische Botschaft, eine ehemaliger taz-Journalist und der selbsternannte Vorkämpfer gegen BDS in Deutschland, der ehemalige Bundestagsabgeordnete Volker Beck, sofort auf den Zug gesprungen – und seltsamerweise auch das Berliner Büro des American Jewish Comittee. „Für die Delegitimierung Israels dürfen keine Steuergelder verwendet werden!“ heißt es da. Die NGO Amadeo-Antonio-Stiftung reiht das Projekt der Israelis unter „Antisemitische Vorfälle“. Und Volker Beck fordert sogar den Entzug „indirekter“ Förderung. Das kann ja vielleicht noch dazu führen, dass kritische Juden und Israelis in Berlin nicht mehr mit der (staatlich geförderten) U-Bahn fahren dürfen. Yehudit Yinhar bringt es in der Berliner Zeitung wohl auf den Punkt: „Eine Gruppe jüdischer Israelis will sich kritisch mit der eigenen Geschichte auseinandersetzen, aber dann kommt der weiße Deutsche und sagt: Nein, das dürft ihr nicht! Als wäre die Definitionsmacht über unsere eigene Geschichte deutscher Besitz. Worauf läuft das hinaus? Werden wir wieder in gute und schlechte Jüdinnen aufgeteilt? Wenn deutsche Institutionen ernsthaft behaupten, dass sie jüdisches Leben in Deutschland schützen wollen und uns dann die Gelder entziehen aufgrund von Verdacht auf Antisemitismus, läuft doch irgendwas ziemlich schief.“
Nun stellen wir uns einmal vor, Donald Trump würde fordern, Projekten an deutschen Hochschulen, die sich kritisch mit der amerikanischen Geschichte beschäftigen (zum Beispiel mit den „Indianerkriegen“), das Geld zu entziehen, mit der Begründung, das „delegitimiere“ die USA. Oder Putin würde verlangen, russische Emigranten in Deutschland dürften sich nicht mehr kritisch mit der Oktoberrevolution beschäftigen. Oder Erdogan würde fordern, dass in deutschen Konzerthallen keine kurdischen Künstler mehr auftreten dürften, die die türkische Politik gegenüber den Kurden thematisieren. (Ach ja richtig, das tut er ja, und bekommt doch eher deutliche Antworten…).
Dem Berliner Projekt wurden inzwischen die Gelder gesperrt und die Website abgeschaltet. In einem Akt von Selbstzensur der Kunstschule, die um ihre zukünftigen Mittel und damit ihre Existenz fürchtet. Willkommen in der “illiberalen Demokratie” von Viktor Orban.
19.10.2019: Das Unterhaus in London stimmt in einer Sondersitzung gegen die sofortige Billigung des neuen Brexit-Vertrages. Boris Johnson ist gezwungen, in Brüssel einen Antrag auf Verlängerung der Brexit-Frist zu stellen. Noch wehrt man sich in Großbritannien gegen einen EU-Austritt um jeden Preis.