Europäisches Tagebuch, 29.10.2020: Man kann inzwischen Bunkerführungen buchen. Als Museumsmenschen wollen wir uns das natürlich ansehen. Und als Europäer.
In der Schweiz, in Südtirol… überall öffnen Bunker ihre versteckten Eingänge. Interessiert das die Menschen nur, weil es skurril ist. Oder passen die Bunker schon wieder in unsere Zeit? Herbststimmung herrscht überall. Statt auf die Wintersaison warten alle darauf, wie hoch die zweite Welle wird. Alle bunkern sich ein.
Über dem Schweizer Grenzort St. Margrethen, da wo der Alpenrhein in den Bodensee fließt, versteckt sich die ehemalige Festung Heldsberg hinter ein paar Attrappen von Einfamilienhäusern am Berghang. Statt kleinbürgerlicher Idylle warten dort Kanonen und Maschinengewehre hinter den falschen Gardinen. Und kilometerlange Gänge, zwischen Mannschaftsräumen, Feldspital, Kantine und Turbinen für die autonome Stromversorgung. Für zwei Wochen Belagerung sollte das reichen, erklärt uns der Museumsführer.
Im Südtiroler Vinschgau liegen die Bunker auf den grünen Wiesen herum, als hat man vergessen sie abzuholen. Auch hier haben sie sich dem herrschenden Idyll ein wenig angepasst, sind überwuchert, zugewachsen, der Beton blättert ab, bekommt Risse.
Als man in Berlin noch inbrünstig „von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt“ sang, bereitete sich Mussolini darauf vor, dass die Deutschen ernst machen könnten. Und errichtete seine Wacht am Brenner auch unterhalb des Reschenpasses. Aus dem Krieg zwischen Faschisten und Nazis ist dann doch nichts geworden. 1937 verabschiedeten die italienischen Faschisten stattdessen ihre antisemitischen Judengesetze und erwarteten sich bald mehr davon, gemeinsam mit den Nazis auf Welteroberung auszuziehen.
Heute rauscht die Etsch an den Überbleibseln dieses seltenen Beispiels eines irgendwie verpassten Krieges vorbei, als ob nichts gewesen wäre. Vorbei an den Schlachtfeldern des ersten Weltkriegs, der sich zweitausend Meter höher abspielte und tausende von Menschen hier am Ortler vor allem durch Kälte umbrachte. Und auch vorbei an den Wiesen an der Calven, wo lange zuvor, 1499, ein Graubündner Heer die österreichischen Armeen in die Flucht jagte. Die friedliebenden Eidgenossen umgingen die Habsburger und fielen ihnen geschickt in den Rücken. Nachdem ein paar Tausend Soldaten tot waren und die Habsburger Söldner in Panik davon gelaufen waren, massakrierten die Bündner die lokale Bevölkerung. Mit den Versuchen der verhassten Habsburger, in den Gebieten der späteren Schweiz ihren Einfluss zu behalten, war es damit bald ganz vorbei.
Überall wächst hier Gras, fällt buntes Herbstlaub über den Schlachtfeldern, den blutig ausgefochtenen Metzeleien, genauso wie den faschistischen Muskelspielen. Auch die Kanonen hinter den falschen Gardinen in Heldsberg sind nur noch zum Vergnügen der Besucher da, die mit ihnen Zielübungen veranstalten dürfen. Auf Bregenz, Lustenau und Hohenems, jenseits der Grenze. Eine seltsame Beklemmung bleibt nicht aus, wenn der eigene Lebensort so scharf im Zielfernrohr erscheint. Von dort, aus Hohenems oder Bregenz, erwarteten sich die Schweizer ab 1938 einen möglichen Angriff der Deutschen.
Trotz aller nationalistischer Zündelei, trotz aller lähmenden Eigenbrötelei im Umgang mit der Pandemie, trotz aller Überbietung in der neuen Disziplin politischer Kälte, wenn es um Solidarität mit Schutzsuchenden geht: Beim Spazierengehen an der Etsch, zwischen den faschistischen Bunkern und frühneuzeitlichen Schlachtfeldern mag das alles surreal erscheinen. Sozusagen eine optimistische Herbststimmung.