Rückblick, 22.8.2020: Die Wiener FPÖ möchte wieder aus der EU austreten – oder wenigstens darüber diskutieren. Alles lieber jedenfalls, als über HC Straches Rosenkrieg und seinen gefinkelten Wohnsitz. So sucht man neben der mittlerweile rechtspopulistischen ÖVP im eng gewordenen Raum zum rechtsextremen Rand noch nach Profilierungsmöglichkeiten. Und so fordert man zum Beispiel, Wohnungen im Gemeindebau oder die Mindestsicherung nur noch an österreichische Staatsbürger zu vergeben. Und wenn die Europäische Union das, wie es nun einmal glücklicherweise der Fall ist, rechtlich nicht zulässt, dann muss eben ein Austritt aus der EU als letztes Mittel helfen. Natürlich darf auch Corona dabei als Begründung nicht fehlen:
„Wenn man in so einer schwierigen Situation wie Corona nicht auf die eigenen Staatsbürger schauen darf, muss man über einen Verbleib diskutieren. Es kann nicht sein, dass man gerade in schwierigen Zeiten Staatsbürgern nicht Vorrang geben kann“, so Nepp. Und es könne auch nicht sein, dass über 60 Prozent der Mindestsicherungsbezieher in Wien nicht Staatsbürger seien. „Eine Mindestsicherung ist ein Auffangnetz für unsere Leute. Es geht nicht darum, aus aller Herren Länder Menschen zu uns zu locken, die sich von uns durchfüttern lassen. Auch die Mindestsicherung soll nur mehr Staatsbürgern zur Verfügung stehen“, fordert Nepp. Der „freiheitliche“ EU-Delegationsleiter Vilimsky legt nach und setzt der EU eine „Frist“ bis Ende 2021, eine „andere Richtung einzuschlagen“.
Polen bleibt rechts. Haarscharf
Rückblick, 13.7.2020: Die Stichwahl für das Präsidentenamt in Polen endet mit einem knappen Sieg für den Nationalisten Andrzej Duda. Bis auf 48,97 % der Stimmen ist ihm der liberale Gegenkandidat Rafal Trzsakowski nahe gekommen. Doch es hat nicht gereicht, der nationalkonservativen Regierung der PIS-Partei ein Korrektiv entgegenzusetzen. Das Wahlergebnis verrät auch in Polen eine tiefgreifende Spaltung von Stadt und Land. Trzaskowksi, Stadtpräsident von Warschau, hatte in den großen Städten 65% der Stimmen auf sich vereinigen können, Duda hingegen 65% der Wählerinnen und Wähler auf dem Land gewonnen. Auch zwischen den Generationen verläuft ein tiefer Riss durch die polnische Gesellschaft. Trzaskowski siegte bei allen Wählerguppen unter 50. Die über 60jährigen entschieden sich zu 64% für Duda. Polen leidet so doppelt unter der Überalterung der Gesellschaft. Polens migrationsfeindliche Politik produziert immer mehr Migration: Junge Menschen verlassen in Scharen das Land.
Letztendlich entschied Duda die Wahlen mit radikalen, nationalistischen und homophoben Parolen für sich. Schwule und Lesben haben in Polen inzwischen Angst vor Gewalt auf den Straßen. In den letzten Tagen vor der Wahl richtete sich die von der Regierung geschürte Fremdenfeindlichkeit vor allem gegen Deutsche: gegen deutsche Medien, oder gegen die wenigen regierungsunabhängigen Medien die angeblich im deutschen Interesse das Land unterwandern würden. Aber auch gegen in Polen lebende Deutsche, die offenen Anfeindungen ausgesetzt sind.
Am Ende ging es nur noch um das „Polentum“. In einem Radiointerview meinte Andrzej Zybertowicz, Soziologe und Berater des wiedergewählten Präsidenten, er sei “schockiert” gewesen, dass ungefähr die Hälfte seiner Landsleute für einen Kandidaten gestimmt hätten, „dessen Stab es nicht für angemessen hielt, während des Wahlabends mit einer polnischen Fahne zur erscheinen“. Warum nur, fragt man sich, hätte er das tun sollen.
In der Grenzregion Polens und Deutschland, der sogenannten „Euroregion Spree-Neisse-Bober“ mehren sich nun die Sorgen, ob die dort bislang erfolgreiche Politik der zwischenstaatlichen Kooperation fortgesetzt werden kann.
Vermischtes EU-Bashing
Rückblick, 12.6.2020: Österreichs Kanzler Kurz hat dem Kurier ein „großes Sonntagsinterview“ gegeben. Redakteur Richard Grasl ist der richtige Mann dafür. Er fragt auch dann nicht kritisch nach, wenn der Kanzler für jeden offensichtlich lügt. Thema ist der den beiden Plauderern vollkommen unverständliche Umstand, dass an der Politik des Kanzlers Kritik laut wird. Die kommt von Gastronomen und anderen Kleinbetrieben, bei denen die vollmundig angekündigte Unterstützung („Koste es was es wolle“) partout noch nicht ankommen will. Kanzler Kurz erklärt leutselig wer daran schuld ist. Nämlich die EU. Er scheint sich immer noch, oder schon wieder im Wahlkampfmodus zu befinden. Und buhlt nach wie vor um rechte bis rechtsradikale Wählerstimmen. Glaubt er seine Lügen selbst?
„Die Schweiz ist unter den Top-Staaten – auch weil sie nicht an EU-Regeln gebunden ist.“ Natürlich weiß, wie Stefan Brocza gestern im Standard süffisant anmerkt, auch ein Studienabbrecher der Rechtswissenschaften, erst recht aber ein ehemaliger Außen- und EU-Minister, dass die Schweiz durch zahllose Abkommen am EU-Binnenmarkt teilnimmt und ebenso viele Gesetze längst an EU-Recht angepasst und deren Regelwerk in großen Teilen übernommen hat. Dass Richard Grasl – 2018 von der ÖVP und René Benko als Mitglied der Kurier-Chefredaktion installiert, um das Blatt zusammen mit Martina Salomon auf türkise Linie zu bringen – bei solch munterem EU-Bashing kritisch nachfragen würde, wäre freilich zu viel verlangt. Der Mann trägt seit einer Verurteilung über die höflich geschwiegen wird eine elektronische Fußfessel, und die zwickt in solchen Fällen wohl schmerzhaft.
Die Europäische Union fordert die Stärkung biologischer Landwirtschaft und will mit ihrer Landwirtschafts- und Biodiversitätsstrategie den Wandel der europäischen Landwirtschaft vorantreiben. Österreichs Landwirtschaftsministerin Elisabeth Köstinger steht auf der Bremse und verlangt eine Studie, die die Folgen der Umstellung auf biologische Landwirtschaft untersuchen soll.
Biologische Landwirtschaft würde, so Köstinger, die Produktivität senken und damit Europa stärker von Landwirtschaftsimporten abhängig machen. Nehmen wir Frau Köstinger mal – absurderweise – einen Moment langdieses Argument ernst, dann will sie uns also sagen, dass die österreichische Landwirtschaft also Bio vor allem für die Tourismuswerbung und das „grüne Image“ produziert. Sonst aber weiter herkömmliche Massenproduktion betreiben soll. Soviel Ehrlichkeit sind wir gar nicht mehr gewohnt. Der EU-Rechnungshof warnt hingegen vor dem zunehmenden Rückgang von Bio-Diversität, durch die nach wie vor betriebene konventionelle Landwirtschaft und ihre Monokulturen.
Seit drei Tagen gilt für Menschen, die nach Großbritannien einreisen, eine 14tägige Quarantänepflicht. Wer sich nicht an die Selbstisolation hält, muss mit einem Bußgeld von 1000,- Britischem Pfund rechnen. Die neue Verordnung macht nur Ausnahmen für Reisende aus Irland, der Isle of Man und den Kanalinseln, sowie für Lastwagenfahrer im Fernverkehr und medizinisches Personal. Gesundheitsexperten rätseln öffentlich, warum Großbritannien diese Maßnahme erst jetzt einführt. Die zögerliche Einführung von Corona-Maßnahmen in Großbritannien hat dazu beigetragen, dass das Land die höchste Zahl von Toten aufweist, die an der Pandemie gestorben sind. Offiziell liegt die Zahl der Toten inzwischen bei 41.000. Man geht aber von einer extrem hohen Dunkelziffer aus. Dass nun vor allem der Schutz Großbritanniens vor infizierten Ausländern im Mittelpunkt der Politik steht, halten viele Kritiker für reine Propaganda. Schließlich sei das Risiko sich in Großbritannien anzustecken sehr viel höher, als in den meisten anderen Ländern Europas.
Unsere Europakarte – neue Kommentare unserer Besucher:innen
Europäisches Tagebuch, 20.5.2021: Unsere Europakarte ist inzwischen voller kontroverser Besucherkommentare zur Zukunft Europas: Bald werden wir Platz machen müssen für neue.
Rückblick, 20.5.2020: Deutschland und Frankreich trauen sich, den europäisch-gordischen Knoten zu durchschlagen und endlich über konkrete, gemeinsame europäische Wiederaufbauhilfe zu sprechen. Der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz will gemeinsam mit den Niederlanden, Schweden und Dänemark einen „alternativen Plan“ vorlegen.
Die von der österreichischen Regierung versprochenen Hilfen für die Wirtschaft dauern zu lange? Was fällt der Wirtschaftsministerin dazu ein? Natürlich, die EU ist schuld, ihre vielen Vorschriften. In Wirklichkeit sind die Ministerien und die Wirtschaftskammer angesichts der schieren Zahl von Anträgen und den eigenen, teils widersprüchlichen neuen Vorschriften und Erlassen heillos überfordert.
Innenminister Nehammer bietet „Wien Hilfe an“. Die Polizei solle das Contact-Tracing in Wien und die Kontrolle von Quarantänemaßnahmen „unterstützen“. Aus dem Gesundheitsministerium wird zur gleichen Zeit abgewunken. Die Kooperation mit der Bundeshauptstadt funktioniere hervorragend. Man werde ständig hervorragend informiert. Die neu aufgetretenen Coronainfektionen in Postverteilzentren in Wien und Niederösterreich, sowie in einer Asylunterkunft in Wien nutzt die ÖVP hingegen zum Wahlkampfauftakt. Dabei sind die Zahlen in Wien im Vergleich zu manchen anderen österreichischen Bundesländern, erst recht aber zu anderen europäischen Metropolen nach wie vor eher niedrig. Die neuen Fallzahlen beruhen hingegen auf langsam besser funktionierendem Contact-Tracing und entsprechenden Testungen.
Unsere Europakarte – Unsere Weltkarte. Ein Update
Europäisches Tagebuch, 23.4.2021:
Rückblick, 23.4.2020: Der EU-Gipfel der Regierungschefs billigt das „Paket“ von bis zu 540 Milliarden Euro Kredithilfen aus dem Rettungsschirm ESM für Kurzarbeit, Unternehmen und verschuldete Staaten. Die Entscheidung über einen Wiederaufbaufonds, der gemeinsam von der EU getragen werden soll, wurde hingegen vertagt. Kommissionspräsidentin von der Leyen soll dafür Vorschläge erarbeiten. So wie die von Deutschland, den Niederlanden und Österreich vehement abgelehnten „Coronabonds“ soll freilich auch der Wiederaufbaufonds teilweise durch gemeinsame Kreditaufnahme finanziert werden. Strittig ist nach wie vor, ob aus dem Fonds nur Kredite oder auch Zuschüsse gewährt werden sollen – und wofür. Klar ist, dass all dies nur geht, wenn die Mitgliedsstaaten höhere Beiträge an die EU zahlen. Österreich lässt dazu nach wie vor keine Bereitschaft erkennen.
Der Führer der italienischen Lega Nord, Matteo Salvini, fordert den Austritt Italiens aus der EU. In Meinungsumfragen halten sich Befürworter und Gegner eines EU-Austritts inzwischen die Waage, eine Mehrheit der Italiener glaubt, dass die EU an Corona scheitern wird. Matteo Salvinis Lega regiert in der Lombardei und muss sich inzwischen kritische Frage gefallen lassen, warum in der Region das Gesundheitssystem so schnell kollabierte und so viele Menschen in Altersheimen gestorben sind. Ganz offenbar haben die von der Lega forcierte Privatisierung und die Sparmaßnahmen mit dazu geführt, dass in der Lombardei allein mehr als die Hälfte der 25.000 italienischen Coronatoten zu beklagen sind.
Der österreichische Innenminister Karl Nehammer erklärt in einem Interview mit dem „Falter“, warum Österreich keine unbegleiteten jugendlichen Flüchtlinge aufnimmt. „Der EU-Türkei-Deal sieht vor, dass nur jene Menschen, die auf den Inseln sind und keinen Asylstatus zugesprochen bekommen, auch wieder in die Türkei zurückzustellen sind.“ Im Klartext: da wir die Flüchtlinge, egal ob Erwachsene oder Kinder, nicht mehr loswerden, wenn sie mal auf dem Festland sind, sperren wir sie jahrelang in menschenunwürdige Elendslager ein und nehmen damit alle möglichen Rechtsbrüche in Kauf. Da wir wissen, dass Erdogan sie eh nicht zurücknimmt, machen wir daraus einen Dauerzustand.
Auf die serbisch-chinesisch(-österreichische) Freundschaft
Rückblick, 19.4.2020: Präsident Vučić feiert den chinesischen Präsidenten Xi Jinping für seine Hilfe gegen die Corona-Epidemie, zum Beispiel für die Zurverfügungstellung von Schutzmasken, die allerdings in Wirklichkeit auf Kosten der EU erworben und nach Serbien eingeflogen wurden. Und während die EU für 7,5 Millionen € Labore in Serbien modernisiert und insgesamt 374 Millionen an die Nicht EU-Staaten auf dem Balkan zur Abfederung der sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie, läuft die serbische Propagandamaschine auf Hochtouren: Das Digitale Forensische Zentrum in Montenegro berechnet, dass zwischen dem 9. März und dem 9. April von serbischen Twitter-Konten 30.000 Tweets versendet wurden, bei denen es um China und Serbien ging. Fast 72 Prozent von ihnen stammten von Roboterkonten – sogenannten Bots –, hinter denen also keine realen Personen stehen. Bei den Tweets ging es meistens darum, China und die chinesisch-serbische Freundschaft wie auch Vučić und die serbische Regierung zu preisen und den Mangel an EU-Hilfe zu bemängeln.
Seit dem 15. März herrscht in Serbien der widerrechtlich unbefristete Ausnahmezustand und damit eine Ausgangssperre. Zuwiderhandeln wird mit Gefängnis bis zu drei Jahren bestraft, eine der ersten Personen, die unter diesem Vorwand festgenommen wurden, war die regimekritische Sängerin Jovana Popovic, die zwar überhaupt nicht gegen die Selbstisolation verstoßen hat, dafür aber das korrupte serbische Regime als „Diebesbande“ beschrieben hat.
Offenbar schon vor einem Jahr hat der Innenminister der türkisblauen Regierung Österreichs, Herbert Kickl, einen Geheimvertrag mit Serbien abgeschlossen, der vorsieht, abgelehnte AsylwerberInnen, die nicht in ihre Herkunftsländer abgeschoben werden können stattdessen nach Serbien abzuschieben, um sie dort auf österreichische Kosten in Lagern festzuhalten. Die Existenz dieses Vertrags ist erst unlängst bekannt geworden. Wieviel Österreich Serbien für diesen Dienst zahlen soll, verrät die Bundesregierung aufgrund „vertragsrechtlicher Vereinbarungen“ nicht. Aus der Antwort von Innenminister Nehammer auf eine parlamentarische Anfrage der Neos geht hervor, dass auch die türkis-grüne Bundesregierung an diesem Vertrag festhalten will. Als Bedingung nennt Nehammer einen „ausreichenden Bezug des Fremden zu Serbien“. Dieser sei gegeben, wenn jemand über die Westbalkan-Route gekommen sei und dabei das Staatsgebiet Serbiens berührt habe. Unklar ist, welche Summen Österreich dafür an das serbische Regime bezahlen will. Erst recht aber ist höchst zweifelhaft, ob die rechtlich zwingenden Voraussetzungen für eine Unterbringung in Serbien (z.B. dass ihnen dort kein Freiheitsentzug droht) überhaupt gegeben sind.
Inzwischen hat die EU für die Rückholung von ca. 500.000 Europäern aus Krisengebieten außerhalb der EU gesorgt.
EU-Krisen und “kritische Diskussion”
Rückblick, 30.3.2020: Gestern hat Sebastian Kurz in der Kronenzeitung die EU für die Krise verantwortlich gemacht: „Die EU wird sich nach der Krise eine kritische Diskussion und Auseinandersetzung damit gefallen lassen müssen. Es kann nicht sein, dass wir zwei Wochen lang komplett auf uns allein gestellt darum kämpfen müssen, dass ein Lkw der mit bereits von uns bezahlten und dringend benötigten Schutzmasken an der deutschen Grenze hängt, weiterfahren darf, und gleichzeitig unsere Kontrollen zu Italien kritisiert werden.“ Die Austria Presse Agentur verbreitet die Meldung mit der kritischen Nachfrage, ob Kurz mit “der EU” tatsächlich die EU-Kommission gemeint haben könnte, die doch selbst gar keine Entscheidungen in dieser Sache treffen kann. Oder ob er die verantwortlichen Regierungschefs meinte, also unter anderem sich selber.
Im gleichen Interview der Kronenzeitung wird Sebastian Kurz dafür gefeiert, sich schon mit Corona befasst zu haben, „als die EU derweil mit oberster Priorität noch damit beschäftigt (gewesen sei), die Grenzschließungen der Nationalstaaten zu kritisieren und sich um die minderjährigen Flüchtlinge vor der griechischen Außengrenze zu sorgen“. Gemeint sind wohl die minderjährigen Flüchtlinge innerhalb der griechischen Flüchtlingslager.
In der Kontroverse um mögliche Corona-Bonds sehen Italien und Frankreich Europäische Solidarität gefordert. Österreich, Deutschland und die Niederlande lehnen gemeinsame Anleihen ab.
Das ungarische Parlament verhängt heute mit der Zweidrittelmehrheit der Regierungspartei Fidesz zeitlich unbefristet den Ausnahmezustand, der Ministerpräsident Orban weitgehende Vollmachten einräumt, mit Dekreten zu regieren, ohne das Parlament zu beteiligen. Wahlen und Abstimmungen sind ausgesetzt. Der Generalstaatsanwalt erhält weitreichende Vollmachten. Die „Verbreitung von Fake-News“ wird mit bis zu 5 Jahren Gefängnis bestraft. Dabei denkt Orban offenbar weniger an Corona-Leugner und Verschwörungsphantasien sondern an demokratische Kritiker seiner Politik. Die wenigen Presseorgane, die noch nicht in Regierungshand sind, können damit jederzeit mundtot gemacht werden. Zuvor hat Orban schon angeordnet, dass die Presse bei bestimmten Themen vorher bei der Regierung anfragen, ob das Thema erlaubt ist.
Der österreichische Kanzler wird auf die Demontage der Demokratie in Ungarn angesprochen. Er habe wegen Corona „einfach keine Zeit“ sich mit der Lage in Ungarn zu beschäftigen. Kurz darauf postet er einen Tweet zur Lage in Venezuela.
Die EU-Kommission bemüht sich darum, die Freizügigkeit systemrelevanter Arbeitskräfte innerhalb der EU zu sichern, durch die Verbreitung praktischer Hinweise an die Mitgliedsstaaten. Und sie beschließt zusätzliche Soforthilfen für die Staaten des Westbalkans und Osteuropas in Höhe von 180 Millionen.
Verzockt
Europäisches Tagebuch, 23.3.2021: Offenbar hat sich Österreichs Bundeskanzler Kurz nun ganz und gar verrannt. Hier die aktuelle Zusammenfassung einer Woche österreichischer Eigentore. Eines grotesker als das andere.
Vor nicht ganz zwei Wochen hat Kurz einen „europäischen Skandal“ verkündet. Mit dem Blick auf den unterschiedlichen Impffortschritt in verschiedenen EU-Staaten war zu erkennen, dass einige Staaten schneller unterwegs waren als andere. Und das lag tatsächlich, an unterschiedlichen Liefermengen. Kurz brachte das mit einem angeblichen „Basar“ in Verbindung, der manche Länder bevorzugt hätte. Der Vorwurf stand kaum einen halben Tag im Raum, da war er auch schon als Propagandalüge entlarvt. Denn die unterschiedlichen Liefermengen hatten einen einfachen Grund. Manche Staaten wollten mehr vom teureren Biontech, andere mehr vom billigeren Astra Zeneca-Vakzin. Und dann gab es die bekannten Lieferprobleme bei Astra Zeneca. Das Ergebnis kann man sich selbst ausrechnen.
Schnell wurde auch klar, dass es nicht zuletzt Regierungen mit einer – wie soll man es sagen – ausgeprägten „EU-Skepsis“ (z.B. die österreichische) waren, die verhindert hatten, dass die EU-Kommission die Impfstoffe einfach gleichmäßig nach Bevölkerungszahl verteilt. Nein, man wollte selbst bestimmen, wer wieviel von welchen Impfstoff bezog.
Österreich befand sich auf der Gesamtbilanz der Lieferungen übrigens zufällig genau in der Mitte. Im Vergleich mit den anderen Ländern hatte Österreich nicht zu wenig und nicht zu viel erhalten.
Doch dann platzte das nächste Bömbchen. Dem Kanzler kam zu Ohren, dass der österreichische Vertreter im Steuerungsgremium der EU offenbar eine Gelegenheit ausgelassen hatte, sich ein paar Zusatzbestellungen zu sichern. Dass Kurz davon nichts gewusst haben wollte, veranlasste den ansonsten so abgeklärt-ruhigen Politikwissenschaftler Peter Filzmaier im Österreichischen Rundfunk die Frage zu stellen, was „Kanzler Kurz beruflich eigentlich so macht“. Nun saß der „Schuldige, ein altes ÖVP-Urgestein, passenderweise im grünen Gesundheitsministerium, was dem Kanzler Gelegenheit bot, den gerade krankheitshalber verhinderten Gesundheitsminister öffentlich vorzuführen. Und selber damit gar nichts zu tun zu haben. All das, ohne dass jemand aufgefallen wäre, dass zwischen „bestellen“ und „liefern“ inzwischen eine signifikante Lücke klafft. Oder mit anderen Worten: Hätte Clemens Martin Auer seine Zusatzbestellung abgegeben, wären wohl auf absehbare Zeit auch nicht mehr Impfstoffe in Österreich angekommen. Bestellt sind nämlich inzwischen eh schon mehr Vakzine, als Österreich braucht.
Nachdem auch dieser „Skandal“ sich schneller in Luft aufgelöst hat, als man dabei zusehen konnte, schwang sich Kurz zum Fürsprecher der „zu Kurz gekommenen“ auf und verlangte kategorisch einen EU-Gipfel. Der allerdings sowieso vor der Tür stand.
Angesichts der tatsächlich ungleichen Liefermengen, von denen einige osteuropäische Staaten, wie Bulgarien, Kroatien oder Litauen betroffen sind, hat die EU-Kommission nun ihrerseits Taten zeigen wollen. Und verkündete einen Verhandlungserfolg mit Biontech.
10 Millionen Dosen sollen nun aus dem Herbst vorgezogen werden und besonders den schlechter versorgten Ländern zu Gute kommen, auch wenn diese an ihrer Malaise im Grunde selber Schuld sein mögen. Aber was tut man nicht, um die Gemüter zu beruhigen.
Kaum erschien dieser warme Regen an zusätzlichen Dosen am Horizont wechselte der österreichische Kanzler erneut das Hemd und verkündete stolz, dass Österreich (bislang weder benachteiligt noch bevorteilt) aus diesen neuen Lieferungen 400.000 zustehen würden und ließ sich dafür gleich einmal feiern. Doch auch diese Feier währte nur kurz. Schließlich würde sich Österreich damit auf Kosten der bislang Benachteiligten nun seinerseits bereichern. Die Ansage aus Brüssel, aber auch aus anderen EU-Ländern, ließ nicht lange auf sich warten. Österreich soll mal im Moment exakt Null zusätzliche Dosen erwarten. Nun steht der österreichische Kanzler vor dem Scherbenhaufen seines eigenen Skandals. Und droht mit einem Veto.
Immerhin ist es ihm damit gelungen von Dingen abzulenken, die seiner Anti-EU-Rhetorik wirklich in die Quere hätte kommen können. Der Skandal und Hygiene Austria und andere Probleme mit der “Message Control”. Und dann noch die südafrikanische Mutation in Tirol. Ganz und gar nicht bürokratisch hatte die EU auf den Hotspot der südafrikanischen Mutation in Tirol reagiert. Und den Bezirk Schwaz mit einer großzügigen Notversorgung mit Impfstoffen aus der Krise geführt. Das will natürlich nun auch jeder haben. Aber diese tatsächliche Bevorzugung Österreichs hat sich wirklich nicht dazu geeignet, in Österreich mit EU feindlicher Propaganda zu punkten. Dieses Problem hat Kurz jedenfalls kurzfristig aus dem Weg geräumt.
Rückblick, 23.3.2020: Zwei Boeing der Fluggesellschaft AUA fliegen 130 Tonnen medizinisches Schutzmaterial aus China für Tirol und Südtirol ein. Die Luftbrücke wird unter großer Medienaufmerksamkeit als spektakulärer Erfolg von Kanzler Kurz und Südtirols Landeshauptmann Kompatscher gefeiert. Auch der Bergsportausrüster Oberalp Group lässt sich für die Hilfsaktion feiern. Insgesamt sollen 20 Millionen Schutzmasken geliefert werden. Wenig später stellen sich die gelieferten Schutzmasken allerdings als weitgehend unbrauchbar heraus. Zertifikate, ohne die die Ware gar nicht hätte eingeführt werden dürfen, fehlen völlig. Nur 1,7 Millionen Masken von 20 Millionen, die schon bezahlt sind, werden schließlich überhaupt ausgeliefert.
Ebenfalls am 23.3.2020: Die EU-Kommission bittet die Mitgliedstaaten durch die Einrichtung von Green Lanes mit Vorrang für den Frachtverkehr für die Aufrechterhaltung des Warenfluss innerhalb der EU zu sorgen, angesichts drohender weiterer Grenzsperren, die zu Lieferengpässen lebenswichtiger Güter führen könnten.
Impfnationalismus
Europäisches Tagebuch, 20.3.2021: Der Streit um die Verteilung von Impfstoffen in der EU wird vom österreichischen Bundeskanzler weiter angeheizt. Im letzten Jahr noch wurde der Plan der EU-Kommission, die Impfstoffe gerecht auf alle Länder der EU zu verteilen, nicht zuletzt durch Staaten wie Österreich torpediert, die sich – im Rahmen der gemäß Bevölkerungszahl zugeteilten Gesamtmengen die Impfstoffe selbst aussuchen wollten. Das führte dazu, dass Länder die auf den billigen Impfstoff von Astra Zeneca setzten, wie Bulgarien oder Kroatien, angesichts der Produktions- und Lieferschwierigkeiten des Britischen Lieferanten derzeit das Nachsehen haben. Und solche, die auf den teuren Biontech-Impfstoff setzten, wie Malta oder Dänemark, derzeit besser abschneiden.
Österreich erhielt bislang allerdings, gemessen an den zur Verfügung stehenden Mengen, weder zuviel noch zu wenig Imnpfstoff. Das hielt aber den österreichischen Kanzler nicht davon ab, sich zum Wortführer der „zu Kurz gekommenen“ auszurufen. Und das eigene Gesundheitsministerium öffentlich anzugreifen.
Offenbar hat der österreichische Vertreter im EU-Impfgremium Clemens Martin Auer, ein altgedienter ÖVP-Mann, eine Gelegenheit ausgelassen, genau das zu tun, was Kanzler Kurz nun anderen vorwirft, nämlich auf dem „Basar“ noch eine Extra-Bestellung abzugeben. Ob die freilich zu einer schnelleren Lieferung von Impfdosen geführt hätte, mag bezweifelt werden. Österreich und die gesamte EU haben nämlich ohnehin schon weit mehr Impfdosen bestellt, als in diesem Jahr zur Durchimpfung der Bevölkerung gebraucht würden. Die derzeitigen Verzögerungen liegen offenkundig nicht an zögerlichen Bestellungen, sondern an sich dahinschleppenden Lieferungen.
Wenige Tage vor dem nächsten EU-Gipfel fordert Kurz einen EU-Gipfel. Diese Forderung klingt so, als würde er bei Sonnenuntergang mit allem Nachdruck einen baldigen Sonnenaufgang fordern, nur um ein paar Stunden später einen Erfolg zu verkünden.
EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen hat vor wenigen Tagen mitgeteilt, dass die Lieferung weiterer 10 Millionen Dosen von Biontech-Pfizer nun vorgezogen werden könnten, nach dem es noch vor wenigen Wochen auch von diesem Hersteller Lieferschwierigkeiten gab. Mit diesen Dosen könnten nun Länder bevorzugt werden, die bei ihren Bestellungen im letzten Jahr auf die falsche Karte gesetzt haben. Das auch das bislang weder begünstigte noch benachteiligte Österreich nun zusätzliche Forderungen stellt, kommt bei ihr freilich nicht gut an. Ist doch schon der Versuch, die unterschiedlichen Liefermengen durch diese zusätzlichen Biontech-Impfdosen auszugleichen von der Bereitschaft einiger Länder abhängig, freiwillig auf einen Teil der ihnen verabredungsgemäß zustehenden Lieferungen zu verzichten. Der von Österreich geschürte Impfnationalismus ist dabei nicht wirklich hilfreich.
Litauen verkündet indes mit großer Geste, es würde seinen Bürgerinnen und Bürgern nun freizustellen, mit welchem Impfstoff sie sich impfen lassen wollen. Auch das ist offenbar nur ein Propagandacoup. Denn die Auswahl zwischen Astra Zeneca und Biontech besteht offenbar vor allem darin, sich jetzt oder irgendwann später impfen zum lassen. Da von beidem zu wenig da ist, gewinnt die litauische Regierung damit zumindest ein wenig Zeit – und ihre Bürgerinnen und Bürger: nichts.
Rückblick 20.3.2020: Der israelische Historiker Yuval Harari sieht in Israel „die erste Coronavirus-Diktatur“ entstehen. Ministerpräsident Netanyahu nutzt die Corona-Krise und den verhängten Lockdown offenbar, um sich die fünfte Amtszeit zu sichern und den Widerstand gegen seine Neuernennung zu brechen, während der Prozess wegen Betrug, Untreue und Bestechlichkeit auf ihn wartet und wartet.
Boris Johnson verkündet indes die in seinen Augen offenbar bisher härteste Anti-Coronamaßnahme auf der britischen Insel: “We’re taking away the ancient, inalienable right of free-born people of the United Kingdom to go to the pub”.
In einem Interview mit der deutschen Bild-Zeitung erklärt der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz, es wäre ein Anruf des Israelischen Premiers Benjamin Netanjahu gewesen, der ihn wachgerüttelt hätte. Er meint damit wohl die Telefonkonferenz zahlreicher EU-Premiers am 9. März, an dem auch Netanjahu teilgenommen hatte. Netanjahu hätte, so Kurz, gemeint, „ihr unterschätzt das in Europa.“ Die dramatische Situation im Nachbarland Italien seit Anfang März hat offenbar nicht gereicht, um den österreichischen Kanzler aufzuwecken.
Die EU-Kommission reagiert auf die zu erwartenden wirtschaftlichen Probleme im Zuge der Pandemie und ihrer Bekämpfung. Sie erlaubt nun Ausnahmen von den strengen Regeln, die Wettbewerbsverzerrungen durch staatliche Subventionen einschränken sollen. Sie hat einen befristeten Rahmen beschlossen, der es den Mitgliedstaaten erlaubt, Wirtschaftshilfen innerhalb kurzer Zeit zu vergeben.
Basar?
Europäisches Tagebuch, 12.3.2021: In einer eigens einberufenen Pressekonferenz behauptet Österreichs Bundeskanzler Kurz, einen europäischen Skandal aufgedeckt zu haben. Es sei bei der Verteilung der Impfstoffe wie auf einem „Basar“ zugegangen, und einzelne europäische Länder hätten sich durch heimliche Nebenabsprachen zusätzliche Lieferungen von Impfdosen gesichert. Dadurch seien einzelne europäische Länder bevorzugt und andere benachteiligt worden: „Die Lieferung erfolgte nicht nach Bevölkerungsschlüssel.“ Sondern offenbar wie bei „den Orientalen“. Oder was will Kurz mit seiner Wortwahl wohl sagen?
Der Impffortschritt in Malta und Dänemark sei viel schneller als in Ländern wie Bulgarien, Lettland oder Kroatien. Das könne nicht nur an der Impfgeschwindigkeit liegen. Kurz wittert Geheimverträge über zusätzliche Lieferungen und fordert „Transparenz“.
Doch die mit großartiger Geste vorgetragenen Beschuldigungen sind schon innerhalb von wenigen Stunden in sich zusammengefallen, wie ein Kartenhaus. Und dabei ist viel Porzellan zerschlagen worden.
Vielleicht hätte er vorher einmal den stellvertretenden Vorsitzenden des verantwortlichen „Lenkungsausschusses“ der EU fragen können, wie es zu den unterschiedlichen Liefergeschwindigkeiten in die verschiedenen EU-Staaten kommt, nämlich den österreichischen Vertreter im „Steering Board“: Clemens-Martin Auer?
Die Antworten auf die raunenden Fragen des Kanzlers sind erschütternd einfach. Die EU hat zu einem frühen Zeitpunkt Rahmenverträge mit den meisten Pharma-Konzernen abgeschlossen, die an Impfstoffen arbeiteten, und dies lange bevor klar war, welche davon zuerst zugelassen werden können. Sie haben dabei auf verschiedene Pferde setzen müssen, und sie haben mit ihren Bestellvolumen die Forschung an den Impfstoffen zum Teil erst ermöglicht. Da einige EU-Mitgliedstaaten bei Ausgaben grundsätzlich auf der Bremse standen (wir erinnern uns an die „sparsamen vier“, allen voran Österreich) wurde wohl auch versucht, die Preise zu drücken. Das rächt sich jetzt.
Und dann hat die EU den Mitgliedstaaten die Möglichkeit eröffnet – im Rahmen ihrer jeweiligen, ihnen zustehenden Liefermengen – sich mehr für den einen oder anderen Impfstoff zu entscheiden, zum Beispiel für die teureren Biontech-Pfizer oder die günstigeren AstraZeneca Vakzine. Malta zum Beispiel buchte so viel wie möglich Biontech-Pfizer und Bulgarien so viel wie möglich AstraZeneca, dessen Lieferungen gerade durch massive Probleme bei Produktion und Ausfuhr verlangsamt sind.
Aber was interessieren solche banalen Realitäten einen Kanzler, der gerade damit zu tun hat, dass ihm die „Message Control“ entgleitet. Hans Rauscher spricht im Standard von der „größten Nebelgranate seit Beginn der Corona-Krise“. Das könnte sich als Untertreibung herausstellen. Denn wenn sich das Anheizen von Impfnationalismus verbreitet, dann hätten wir es mit einer noch gefährlicheren Pandemie zu tun.
Bislang aber steht der österreichische Kanzler mit seinen Lügenmärchen allein da. Weder die EU-Kommission, noch das österreichische Gesundheitsministerium, weder Deutschland noch das angeblich benachteiligte Kroatien haben auch nur einen Tag gezögert, sich von diesem Amoklauf zu distanzieren. Und haben sachlich und diplomatisch abgeklärt auf die wenig sensationellen Tatsachen hingewiesen. Immerhin, ein Tag an dem einmal nicht die geheimen Nebenabsprachen, die Ausbeutung illegal Beschäftigter oder die obskuren Lieferketten von „Hygiene Austria“ für Schlagzeilen sorgen. Das ist für den Kanzler ein „guter Tag“.
Rückblick 12.3.2020: Entgegen der Beschlüsse der Videokonferenz vom 10.3.2020 hat Österreich seine italienischen Nachbarn gestern mit Grenzkontrollen am Brenner überrascht. Offenbar ohne, dies vorher mit der italienischen Regierung abgesprochen zu haben.
Die WHO hat die um sich greifenden Covid-19 Erkrankungen nun zur Pandemie erklärt.
US-Präsident Donald Trump hat alles im Griff. Er kündigte eine Einreise-Verbot für Europäer an: „Weil wir sehr früh reagiert haben, sehen wir deutlich weniger Virus-Fälle in Amerika als in Europa.“
Boris Johnson und der wissenschaftliche Chefberater der britischen Regierung haben heute ihre Strategie der Corona-Bekämpfung öffentlich verkündet: „Es ist jetzt nicht mehr möglich, zu verhindern, dass sich fast jeder mit der Krankheit anstecken wird. (…) Das ist auch gar nicht das, was man will. Schließlich soll die Bevölkerung Immunität gegen das Virus aufbauen.“ Sie erwarten den Höhepunkt der Epidemie im Mai und Juni und wollen erst dann drastische Maßnahmen ergreifen. Um die Welle der Infektion zu verzögern, soll erst mal ab sofort jede Person, die Husten und/oder Fieber bekommt, sieben Tage zu Hause bleiben, nicht zum Arzt gehen und nicht den ohnehin überlasteten Notdienst anrufen.
Lieferketten
Europäisches Tagebuch, 3.3.2021: Österreichs Bundeskanzler Kurz sagt, er wolle sich nicht länger von der EU abhängig machen und sich zusammen mit Dänemark und Israel um eine eigene Produktion von Impfstoffen kümmern. Der Wissenschaftsredakteur des ORF, Günter Mayer, kommentiert diesen Vorstoß trocken mit den Worten, hier ginge „es nicht um eine Apfelquetsche“. Eine solche komplexe Produktion ließe sich nicht per Dekret in kurzer Zeit hochfahren, und hier hätte es Österreich mit Pharmakonzernen zu tun, deren Umsätze höher seien, als der Österreichische Staatshaushalt. Um das nicht weiter schmerzhaft auszuwalzen: die großartigen Ankündigungen des Bundeskanzlers sind offenkundig heiße Luft, die von anderen Problemen ablenken soll. Z.B. von folgendem: Am gleichen Tag wurde bekannt, dass in einem österreichischen Vorzeigebetrieb, dem Unternehmen „Hygiene Austria“, das Mund-Nasen-Schutzmasken herstellt, eine Hausdurchsuchung stattgefunden hat. Es ist dies der Betrieb, zu dem Sebastian Kurz im Mai 2020 stolz getwittert hat: „Die Corona-Krise hat gezeigt, dass wir uns bei der Produktion von wichtiger Schutzausrüstung nicht zur Gänze auf internationale Lieferketten verlassen dürfen“.
Die Hausdurchsuchung erfolgte aufgrund des Verdachts, dass aus China gelieferte Masken in Österreich durch in Schwarzarbeit ohne Sozialversicherungsbeiträge beschäftigte Arbeitskräfte um-etikettiert und zu einem höheren Preis als chinesische Masken verkauft worden sein. ‚Hygiene Austria‘ hat dies entschieden zurückgewiesen und natürlich gilt die Unschuldsvermutung. Pikantermaßen gibt es ein Naheverhältnis der Firma zu einer engen Mitarbeiterin des Kanzlers, wie schon am 4. August 2020 die Rechercheplattform Addendum berichtete: der Mann von Sebastian Kurz‘ Büroleiterin ist zu 25% an einer der beiden Firmen beteiligt denen „Hygiene Austria“ gehört, und die nun mit staatlichen Großaufträgen für Österreichs Masken-Autarkie sorgen soll. Und Geschäftsführer von “Hygiene Austria” ist deren Schwager. (https://www.addendum.org/coronavirus/vertragsdetails-geheim/)
An der gepriesenen Autarkie scheint es zu hapern. Aber als Parole zur nationalen Erweckung – und zur Ablenkung von den sich langsam akkumulierenden Ermittlungen und Hausdurchsuchungen im engeren politischen Vertrautenkreis des Kanzlers – taugen wohl auch um-etikettierte chinesische Masken. Oder vielleicht in Zukunft auch um-etikettierte Impfstoffe? Immerhin, die Chinesen haben ihren Impfstoff ja vorsorglich nach einem österreichischen Kanzler benannt: “Sinovac”.
Die Zahlen der Corona-Toten wächst weiter. In den USA sind längst mehr als 500.000 Menschen an der Pandemie verstorben. Neue Meldungen über Unregelmäßigkeiten der Bekanntgabe von Toten in Heimen, wie sie gerade den bisher so heldenhaften Ruf des demokratischen Gouverneurs des Staates New York, Mario Cuomo, erschüttern, lassen eine unbekannte Dunkelziffer von Toten erahnen. Die es auch in anderen Bundesstaaten geben dürfte. Besonders hoch scheinen diese Dunkelziffern in Russland und Mexiko zu sein, wenn die Übersterblichkeit als Faktor mit in Betracht gezogen wird. Selbst die russische Regierung traut den offiziellen Zahlen nicht. Danach seien bis Ende 2020 erst 57.000 Menschen in Russland an Covid-19 verstorben und bis Mitte Februar etwa 81.000. Die Übersterblichkeit in Russland im Jahr 2020 forderte hingegen 323.000 Menschenleben. Kurz vor dem Jahreswechsel erklärte sogar Russlands Vizepremierministerin Tatjana Golikowa, die Übersterblichkeit sei zu 81 Prozent auf Covid-19 zurückzuführen. Das entspräche knapp 261.000 an Covid-19 Verstorbenen bis Ende 2020. Andere Berechnungen gehen von mehr weit mehr als 300.000 Toten aus.
Russland, das stolz darauf ist, mit „Sputnik V“ den ersten Impfstoff zum Einsatz gebracht zu haben, nutzt das offenbar tatsächlich hochwirksame Vakzin indessen vor allem als Exportschlager, so nach Mexiko und Serbien, Paraguay oder Ägypten – während die Impfung der eigenen Bevölkerung hintansteht. Das führt zu dem paradoxen Ergebnis, dass Sputnik V möglicherweise dazu beitragen wird, Covid-19 in ärmeren Ländern zu bekämpfen. Jedenfalls, wenn es gelingt die geplante Produktion in Brasilien und Indien hochzufahren. In Russland selbst, vor allem jenseits der Metropole Moskau, ist offenbar weiterhin vor allem Herdenimmunität durch Infektion das verbreitetste Rezept für den Erwerb von Antikörpern.
Nachtrag am 9. März 2021: Inzwischen haben sich die Vorwürfe gegen “Hygiene Austria” und die beiden Mutterkonzerne Lenzing und Palmers erhärtet. Während “Hygiene Austria”-Geschäftsführer Tino Wieser immer noch davon spricht, wie “stolz” er sei, 200 Arbeitsplätze in Österreich geschaffen zu haben, ist bekannt geworden, dass diese vor allem in Scheinfirmen bestehen. Scheinfirmen, die entweder Arbeitskräfte offiziell “geringfügig” beschäftigen, tatsächlich aber schwarz in Vollzeit arbeiten lassen, oder die sich der Sozialversicherungsbeiträge durch rechtzeitig herbeigeführtem Konkurs entledigen. Auch Zuschüsse für nicht erfolgte Kurzarbeit seien eingestrichen worden. Auch der Verdacht, dass die “heimische” Produktion zum Teil in China stattfand, die Masken dann von Schwarzarbeitern aber in “Hygiene Austria”-Kartons umgepackt worden sind, scheinen sich nun zu bestätigen.
Rückblick, Anfang März, 2020: Die EU kofinanziert die Lieferung von 25 Tonnen Schutzausrüstung für China. Die Europäische Kommission mahnt die nationalen Regierungen in Europa, ihren Bedarf an Schutzmasken, Testkits und Beatmungsgeräten zu melden. Es wird aber noch Wochen dauern, bis die ersten Anforderungen durchgegeben werden.
Erste Fälle von Covid-19 werden in Großbritannien gemeldet. Dominic Cummings, Berater des britischen Premiers Boris Johnson fasst die Strategie der britischen Regierung folgendermaßen zusammen: „herd immunity, protect the economy and if that means some pensioners die, too bad“. Downing Street No. 10 dementiert.
Auch Donald Trump hat sich wieder zu Covid-19 geäußert: „Es ist eine Grippe, wie eine Grippe.“
Impfstrategien und Medienstrategien
Europäisches Tagebuch, 21.1.2021: Während im Land über Impfstrategien gestritten wird und darüber ob man sich als Politiker vordrängeln darf, warum Impfdosen liegen bleiben, die man eigentlich verimpfen könnte, und warum erst jetzt Software verfügbar ist, um sich anzumelden, versucht Kanzler Kurz wieder die Lufthoheit über die Debatte zurückzugewinnen. Gemeinsam mit einigen Staatschefs, die ebenfalls gerade so manche Probleme haben (Tschechien, Griechenland, Dänemark), fordert er mit einigem Applomb, dass die EU „endlich“ den Impfstoff von Astra-Zeneca zulassen soll. „Jeder Tag zählt, um Leben zu retten.“„Unbürokratische Entscheidungen“ fordert er, dass passt ja gegenüber der EU immer. Und ohne die Wortmeldung aus Wien würde die Behörde und die EU-Kommission vermutlich schlafen. So jedenfalls soll es rüberkommen. Da schaut man doch, im richtigen Augenblick seine eigene Pressemeldung platzieren zu können, so dass man seine Muskeln ins Rampenlicht bekommt, wenn gerade niemand anderes dort steht.
Nun ja, es geht um einen Impfstoff, für den der Hersteller in der EU erst vor wenigen Tagen überhaupt die Zulassung beantragt hat, und dessen Wirksamkeit noch nicht so klar belegt ist, wie bei den schon zugelassenen Konkurrenzprodukten. Ein Wirkstoff, der – so der Hersteller Astra Zeneca – gerade nochmal überarbeitet werden soll, damit er gegen die neuen Virus-Mutationen auch hilft. Und von dem noch nicht so ganz klar ist, wieviele Monate man für die zweite Dosis warten soll, damit die optimale Wirkung erzielt wird. Da hilft es ungemein, wenn der österreichische Kanzler zur Eile mahnt. Auch wenn es in der Tat allen Grund dazu gibt.
Unterdessen zählt Großbritannien derzeit weltweit die höchste Todesrate in Relation zur Bevölkerung. In wenigen Tagen wird Großbritannien das erste Land Europas sein, das mehr als 100.000 Tote zu beklagen hat. In den USA wurde vor wenigen Tagen die Schwelle von 400.000 überschritten. Auch in Deutschland nehmen die Todesfälle nun dramatisch zu. Und in Österreich wollen sie seit dem Jahresbeginn nicht nennenswert heruntergehen. Weltweit sind inzwischen mehr als 2 Millionen Menschen an Covid 19 verstorben.
In Israel, dem Land das wieder einmal als Vorzeigeobjekt dient, nun für eine schnelle Impfkampagne, sind gestern die meisten Menschen seit dem Beginn der Pandemie vor einem Jahr verstorben. Dass Israel von Biontech-Pfizer am großzügigsten mit Impfstoff versorgt wird, hat einen einfachen Grund. Das kleine Land öffnet seine Gesundheitsdaten dem Hersteller für den bislang größten Massentest eines Impfstoffes. Die besetzten Gebiete warten hingegen auf russischen Sputnik V. Wohl vergeblich. Hinter den Kulissen laufen jetzt aber offenbar doch Verhandlungen darüber, ob Israel seine rechtlichen Verpflichtungen gegenüber Menschen in besetzten Gebieten nun wahrnimmt oder nicht. Die Palästinensische Verwaltung, ohnehin nur für die Gebiete der Zone A verantwortlich, will auch nicht öffentlich darum betteln, das würde ja die eigenen Ansprüche auf Autonomie (und Förderungen) in Frage stellen. Die Leidtragenden sind in jedem Fall die Palästinenser, egal ob sie in den Gebieten mit hilflos agierender palästinensischer Verwaltung leben, oder in jenen, die eh vom israelischen Militär kontrolliert werden.
Europäisches Tagebuch, 21.1.2020: Vor einer Woche hat die WHO noch mitgeteilt mit, dass „vorläufige Untersuchungen der chinesischen Behörden (…) keinen klaren Beweis dafür ergeben, dass sich das neue Coronavirus durch Mensch-zu-Mensch-Übertragung verbreitet.“ Dabei besteht schon seit Wochen genau dieser Verdacht. Die chinesischen Behörden haben nun gestern erstmals öffentlich bestätigt, dass sich Sars-CoV 2 tatsächlich durch Übertragung von Mensch zu Mensch ausbreitet. Die Abriegelung von Wuhan beginnt. Bei seinem China-Besuch lobt WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus das Land, es setze „einen neuen Standard für die Reaktion auf einen Krankheitsausbruch“.
Ischgl 2.0 ?
Europäisches Tagebuch, 29.11.2020: Österreich hat es geschafft wieder an die Spitze zu kommen, diesmal nicht als Musterschüler der Anti-Corona Maßnahmen, sondern als Corona-Hotspot zusammen mit Frankreich und Italien. Die Zahl der Corona-Opfer in allen drei Ländern übersteigt inzwischen in Relation die Rekordzahlen der Toten in den USA.
Worüber diskutiert man in Italien und Frankreich, in Belgien und in Deutschland? Wie man verhindern kann, dass die Weihnachtstage und der Skitourismus die zögerlichen Erfolge des zweiten lockdowns wieder zunichte machen. Schließlich war Österreich ja schon mal Spitze, in der Produktion von Ansteckungen und in der Unverschämtheit, mit der man sie erst vertuschen, dann herunterspielen und dann vergessen wollte. Bis heute hat sich Österreich, haben sich Ischgl und Tirol, haben sich die Verantwortlichen für das Desaster bei niemand entschuldigt, obwohl der kleine Ort im Paznauntal in der ersten Corona-Welle des Jahres der infektiöseste Platz Europas gewesen ist. Und dies aus Gründen an denen sich bis auf den heutigen Tag nichts und rein gar nichts geändert hat: die Kumpelei von ein paar „richtigen Mannsbildern“ im Seilbahngeschäft und in der Politik, die noch nicht begriffen haben, dass wirtschaftlicher Erfolg auch mit wachsender Verantwortung einhergeht. Und vermutlich noch mit ein paar anderen Dingen.
So machen sich jetzt eben die Bayern und die Italiener und die Franzosen Gedanken darüber, wie man die Skifahrerei und alles was damit zusammen hängt in diesem Winter einbremsen und verschieben kann. Und sie erinnern sich noch gut daran, dass Österreich schon im Sommer zu den ersten Staaten gehört hat, die wieder mit Reisewarnungen und Quarantänedrohungen manche Grenzen dichter machten. Wie sagte Kanzler Kurz am 16. August so schön: „Das Virus kommt mit dem Auto nach Österreich.“
Worüber wird in Österreich diskutiert? Ob man die Skigebiete möglichst schon nächste Woche wieder aufsperren darf. Und Finanzminister Blümel weiß auch schon, wer bezahlen soll, wenn die Touristen aus Deutschland und Italien, aus Frankreich und der Schweiz einfach nicht kommen. Die EU natürlich. Warum „die EU“ das tun soll, hat er noch nicht verraten. Weder kann die EU in Österreich Skigebiete schließen, noch die Deutschen dazu zwingen, in Ischgl Ski zu fahren. Aber zahlen soll sie.
Kommunikationsprobleme?
Europäisches Tagebuch, 4.11.2020: Nur kurz währte der Anflug von staatsmännischer Haltung und „inklusiver“ Besonnenheit beim österreichischen Bundeskanzler. Nur zwei Tage nach dem mörderischen Anschlag eines Djihadisten in der Wiener Innenstadt hat Sebastian Kurz wieder begonnen, den EU-feindlichen Rechtspopulismus zu bedienen. Und zeigt sich unbeeindruckt von jeder Kenntnis rechtsstaatlicher Prinzipien. Das geht wie? So: Statt konkret zu werden, von wem derzeit eine Bedrohung in Österreich ausgeht, muss erst einmal wieder die Allzweckwaffe der Rede vom „politischen Islam“ in Stellung gebracht werden. Diese immer wieder bemühte Worthülse hat den Vorteil, dass sie im Zweifelsfall alles und jeden meinen kann, was irgendwie mit dem Islam in Verbindung gebracht werden kann. Islamische Politiker aus mehrheitlich von Muslimen bewohnten Staaten lassen sich damit genauso etikettieren, wie fanatische Djihadisten, die Terroranschläge verüben. Frauen, die Kopftücher tragen, weil sie ihre muslimische Identität betonen wollen genauso, wie Menschen, die manche ethischen Grundsätze des Islams (ja, die gibt es, wie zum Beispiel die des Spendens für Bedürftige – hier heißt das Caritas…) auch in der Welt der Politik umgesetzt sehen wollen, genauso wie Menschen, die ein bestimmtes Verständnis von Islam zur Rechtfertigung ihrer männlichen, politischen, ethnischen oder sozialen Machtansprüche benutzen, und dafür zu allen Schandtaten bereit sind. Gibt es eigentlich kein politisches Christentum? Gibt es keine CDU und keine christlich-soziale ÖVP, keine menschenrechts-aktive Caritas und keine evangelikalen, gewaltbereiten Trump-Anhänger? Um einmal das breite, widersprüchliche Spektrum nur ein wenig anzudeuten.
Doch wer von „politischem Islam“ spricht, wie Sebastian Kurz und so viele andere, möchte genau diese Differenzierung einebnen und stattdessen die Kultur eines Generalverdachts pflegen. Jene „Kultur“, die mit daran schuld ist, Menschen wie den Attentäter von Wien, in seinem djihadistischen Wahn zu bestärken, der genau diese Weltsicht des „wir“ und „die anderen“ teilt – und radikalisiert.
Doch dann beglückte Sebastian Kurz die Öffentlichkeit mit der überraschenden Einsicht, dass das Attentat nicht stattgefunden hätte, wenn der Täter, der nach zwei-Dritteln seiner Haftzeit entlassen wurde, noch immer in Haft sitzen würde. Darauf wären wir sonst nie gekommen.
Allerdings könnte auch der Bundeskanzler wissen, dass dies grundsätzlich nicht nur üblich ist, sondern auch sinnvoll, denn nur so hat die Justiz eine Handhabe, dem Verurteilten Auflagen zu erteilen, zum Beispiel die Teilnahme am Deradikalisierungsprogramm und die regelmäßige Betreuung durch Bewährungshilfe, auch über einen längeren Zeitraum, als die eigentliche Haft dauern würde. Aber die diffuse Botschaft des Bundeskanzlers war klar: die (grüne) Justizministerin und die Justiz, ja die rechtstaatlichen Verfahren überhaupt sind irgendwie schuld an dem Debakel. Umso „nötiger“ schien diese Schuldzuweisung aus Sicht des türkisblauen Kanzlers freilich, nachdem klar wurde, dass vor allem das Innenministerium seines Parteikollegen Nehammer und der Verfassungsschutz im Besonderen einen echten Erklärungsbedarf haben. Nachdem bekannt geworden ist, dass der Attentäter versucht hatte in der Slowakei Munition für ein Kalaschnikow Gewehr zu besorgen, worüber der slowakische Geheimdienst seine österreichischen Kollegen informierte. Nur die Justiz und die Bewährungshilfe wusste von solchen Dingen nichts.
Karl Nehammer musste in seiner Pressekonferenz, die erst mit einer Stunde Verspätung (und offenbar einigem Klärungsbedarf hinter den Kulissen) begann, kleinlaut zugeben, dass es hier offenbar „Kommunikationsprobleme“ gegeben hat, „Fehler“, die nach einer unabhängigen Untersuchung rufen. Justizministerin Zadic wiederum unterließ es höflich, nun ihrerseits Retourkutschen anzubringen.
Stattdessen sucht Sebastian Kurz nun öffentlich die Schuld bei – na ja, natürlich, wen wundert es – also, so unglaublich das eigentlich ist, tatsächlich bei der Europäischen Union und ihrer „falschen Toleranz“. Gegenüber in Wien geborenen österreichischen Staatsbürgern, wie dem Attentäter vom Montag? Nach Logik von Argumenten sollte hier niemand fragen. Die Tendenz ist die übliche. Der Kurz‘sche Anflug von Vernunft hat nur einen kurzen Tag lang gedauert.
Dazu auch ein treffender Kommentar von Johannes Huber auf „Die Substanz“:
Die Stunde des Parlamentes
Europäisches Tagebuch, 6.10.2020: Gestern debattierte das Europäische Parlament den vorliegenden Bericht über die Demontage rechtsstaatlicher Prinzipien in einigen Mitgliedsländern. Eine turbulente Diskussion.
Seit Monaten ringen das Europäische Parlament und die Kommission um eine klare Linie gegenüber jenen Europäischen Staaten, die sich von rechtstaatlichen Standards verabschieden , auf dem Weg zur „illiberalen Demokratie“, also Staaten ohne freie Presse, ohne unabhängige Justiz, ohne Schutz von Minderheiten vor Willkür, Diskriminierung oder Verhetzung, ohne das politische Korrektiv einer wachen Zivilgesellschaft – Staaten also in denen das Volk nur noch an die Urne gerufen wird, um seine Führer im Amt zu bestätigen, die ohnehin schon vor der Wahl verkünden, dass sie auch bei einer Wahlniederlage nicht abtreten werden.
Ende September hat die Europäische Kommission erstmals einen EU-weiten Bericht über die Situation der Rechtstaatlichkeit in den einzelnen Mitgliedstaaten veröffentlicht, der wie erwartet besorgniserregend ausfällt. Dabei weist der Bericht nicht nur auf die wachsende staatliche „Kontrolle“ von Presse und Justiz in Ländern wie Ungarn und Polen hin, sondern auch auf erhebliche Defizite in Bereichen wie Korruptionsbekämpfung oder Gewaltenteilung, auch in anderen Staaten wie Bulgarien, Malta, Tschechien, Kroatien, der Slowakei oder Rumänien. Kommissionspräsidentin von der Leyen war bemüht, diplomatisch zu bleiben. „Wenngleich wir in der EU sehr hohe Standards in Bezug auf die Rechtsstaatlichkeit haben, besteht an verschiedenen Stellen Handlungsbedarf.“ Man werde „weiterhin mit den Mitgliedstaaten an Lösungen arbeiten“. Vizepräsidentin Véra Jourová wurde in einem Spiegel-Interview zuvor schon deutlicher, und bezeichnete Ungarn als „kranke Demokratie“, was ihr prompt Rücktrittsforderungen aus Budapest eintrug.
Im Zuge des 1,8 Milliarden Euro Deals der EU Kommission, mit dem die europäische Wirtschaft und insbesondere die am schwersten betroffenen Staaten nach dem Corona-Einbruch wieder in Schwung gebracht werden soll, hatten Kommission und Parlament auch einen wirksamen Mechanismus versprochen, um die Einhaltung rechtstaatlicher Regeln einzufordern. Polen und Ungarn haben von Anfang an deutlich gemacht, was sie davon halten – und im Rat eine Blockade der Wirtschaftshilfen angedroht. Hilfen von denen sie freilich selbst ebenfalls stark profitieren würden. Die deutsche Ratspräsidentschaft hat vor einer Woche einen Kompromissvorschlag vorgelegt, der eher den Eindruck eines zahnlosen Tigers macht. Kürzungen von EU-Finanzhilfen wären damit nur nach der Feststellung möglich, dass Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit auch direkte Auswirkungen auf den Umgang mit Geld der EU haben. Die EU-Kommission wollte einen durchaus härteren Weg gehen und den Zugang zu Finanzmitteln generell von der Einhaltung der Rechtstaatlichkeit abhängig machen. Doch auch der deutsche Kompromissvorschlag, der im Zweifelsfall wohl völlig wirkungslos bleiben würde, scheitert natürlich am Veto aus Budapest und Warschau.
Doch auch die Niederlande, Belgien, Schweden, Dänemark und Finnland stimmen gegen die deutsche Vermittlung. Ihnen geht der Vorschlag verständlicherweise nicht weit genug.
Und so rüstet sich nun das EU-Parlament in dieser Frage endlich auch ins Spiel zu kommen.
Katarina Barley, die deutsche stellvertretende Präsidentin des EU-Parlaments erklärt dem Deutschlandfunk, dass man sich von Ungarn und Polen und ihrer Drohung, das ganze Budget platzen zu lassen keineswegs erpressen lassen will. „Wenn wir jetzt die Rechtsstaatlichkeit aufgeben, dann haben wir für die weiteren sieben Jahre Verhältnisse in der EU, wie sie unsere Bürgerinnen und Bürger auch nicht wollen, denn unsere Steuergelder gehen dann an Regime wie das von Orbán und Kaczynski, die sich vor allen Dingen Geld in die eigene Tasche schaufeln, aber ihre Länder zu Demokratien umbauen, die mit den Werten der EU nichts mehr zu tun haben.“ Schließlich wäre Ungarn auf die EU finanziell angewiesen.
In der Parlamentsdebatte gestern hielt der slowakische Abgeordnete und Berichterstatter des Parlaments zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, Michal Simecka, eine bewegende Rede. Ungarn sei keine Demokratie mehr, und Polen auf dem Wege dazu. Auch Bulgarien sei auf einem gefährlichen Weg, dort würden Menschen seit drei Monate erfolglos gegen die grassierende Korruption der Regierung protestieren. Er selbst hätte vor 1989 schon erlebt, was es heißt, wenn Menschen willkürlich verhaftet werden oder ihre Arbeit verlieren, weil sie ihre Meinung sagen. Das Bild der EU als „Garant für Demokratie“ sei stark beschädigt. Nur ein „besseres Monitoring“ wie es die EU-Kommission fordere reiche nicht. Die „Herrschaft des Rechts“ müsse auch durchgesetzt werden können. Die im Bericht kritisierten Regierungen reagierten unterschiedlich, während Bulgarien und Rumänien weitere Reformen im Sinne der EU-Empfehlungen ankündigten, griffen Polen und Ungarn die EU frontal an und wiesen jede Kritik zurück. Morgen wird über den Bericht im Parlament abgestimmt. Eine breite Zustimmung wird erwartet. Dann wird sich zeigen, ob das Parlament gegenüber dem Europäischen Rat, in dem Länder wie Polen oder Ungarn mit ihrem Veto-Recht gegen das Hilfs-Budget drohen, auch standhaft bleibt.
Im Internet rücken derweilen die treuesten Freunde von Orbans“ neuer Demokratie“ schon zum Entsatz aus, allen voran Henryk Broder, der sich im rechten Bloggerparadies „Achse des Guten“ über die „Domina“ Barley lustig machen darf. Sexismus darf bei diesem Männerbund ja nicht fehlen.