Prolog: Europäische Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts

Foto: Daniel Schvarcz

Foto: Eva Jünger

125 300 000 Menschen zählt unsere Auflistung der Toten europäischer Gewalt des 20. Jahrhunderts. Vollständig ist sie nicht.

Bis zum Ende der Ausstellung „Die letzten Europäer“ am 21. Mai 2023 werden sie von der Anzeige verschwunden sein.

1888–1908: Den von der belgischen Kolonialmacht begangenen Kongo-Gräueln fallen ca. zehn Millionen Kongolesen zum Opfer.

1900: Im Zweiten Burenkrieg kommen 22 000 Briten und 32  500 Buren um.

1900: Der Russisch-Chinesische Krieg fordert 112 000 Menschenleben.

1903/04:  Während des Britischen Tibet-Feldzugs werden über 600 Tibeter getötet.

1903–1906: In verschiedenen russischen Städten werden während Pogromen 4 245 Juden von Russen, Ruthenen, Griechen oder Kosaken umgebracht.

1904/05:  Der Russisch-Japanische Krieg endet mit 90 000 Toten auf russischer und 75 000 Toten auf japanischer Seite.

1904–1908: Dem Völkermord der „deutschen Schutztruppe“ in Deutsch-Südwestafrika fallen etwa 70  000 Angehörige der Herero und Nama zum Opfer. 

1906: Niederländer töten 1 000 Balinesen im heute indonesischen Badung.

1906–1911: Während des Wadai Kriegs im heutigen Tschad und Westsudan kommen 4 000 Franzosen und 8 000 Wadai um.

1908: Auf Bali töten Niederländer 194 Balinesen.

1909: Der zweite Rifkrieg in Marokko fordert 2 517 spanische und eine unbekannte Zahl kabylische Opfer.

1911/12: Während des Italienisch–Türkischen Krieges kommen 1 432 Italiener und 14 000 Araber und Berber auf dem Gebiet des heutigen Libyen um. 

1911/12: Im Osttimur-Krieg werden 289 Portugiesen und 3 424 Timuresen getötet.

1912/13: Die Balkankriege fordern 71 000 serbische, 11 200 montenegrinische, 156  000 bulgarische, 48  000 griechische und 100 000 türkische Leben.

1914–1918: Während des Ersten Weltkriegs kommen ca. 20 Millionen Menschen aller kriegführenden Nationalitäten in Europa um. 

1914–1921/23: Während des Zayyan-Kriegs sterben 782 Franzosen und 3 600 Marokkaner.

1915: Dem Völkermord der Türken an den Armeniern fallen mehr als eine Million Menschen zum Opfer. 

1917–1923: Der russische Bürgerkrieg endet mit sieben Millionen Toten.

1918–1920: Der lettische Unabhängigkeitskrieg fordert 17 000 Opfer.

1919: Kosaken ermorden 1 700 Juden in Proskurov in der heutigen Ukraine.

1919: Im Dritten Anglo-Afghanischen Krieg kommen 236 Engländer und 1 000 Afghanen um.

1919: Im indischen Amritsar erschießen britische Soldaten mindestens 379 Sikhs, Muslime und Hindus.

1919/20: Im Ungarisch-Rumänischen Krieg fallen 3 670 Ungarn und 3 000 Rumänen.

1919–1921: Der Irische Unabhängigkeitskrieg fordert 714 Menschenleben.

1920: Im Polnisch-Litauischen Krieg sterben 454 Litauer.

1920: Während des Türkisch-Armenischen Krieges kommen
198  000 Armeniern eine unbekannte Zahl Türken ums Leben.

1920/21: Der Polnisch-Russische Krieg fordert das Leben von 431 000 Russen, 202  000 Polen und 6 0 000 jüdischen Zivilisten.

1921–23: Im Griechisch-Türkischen Krieg fallen 9 167 Türken und 19 362 Griechen.

1921–1926: Der Zweite Marokkanische Krieg endet mit 63  000 spanischen, 18  500 französischen und 3 0 000 Opfern unter den Rifkabylen. 

1922/23: Der Irische Bürgerkrieg fordert ca. 2 000 Opfer.

1932-33: Als Mittel der Repression verschärfte Hungersnöte in der Ukraine und anderen Gebieten der Sowjetunion fordern mehr als 3.000.000 Menschenleben.
 

Februar 1934: Im Österreichischen Bürgerkrieg sterben 357 Menschen.

1935–1941: Der italienische Krieg gegen das heutige Äthiopien fordert zwischen 350 000 und 760 000 abessinische Opfer.

1936–1939: Im Spanischen Bürgerkrieg sterben Tausende Interbrigadisten und mehr als 400  000 Spanier. 

1936–49: Dem Aufstand gegen die britische Mandatsmacht, dem arabisch-jüdischen Bürgerkrieg in Palästina bis Mai 1948 und dem darauffolgenden arabisch-israelischen Krieg bis 1949 fallen 165 Briten, 6 000 jüdische Palästinenser und Israelis, 9 000 arabische Palästinenser und 5 000 arabische alliierte Soldaten zum Opfer. 

1939: Im Slowakisch-Ungarischen Krieg kommen 22 Slowaken und 8 Ungarn um.

1939–1945: Auf den europäischen Kriegsschauplätzen finden während des Zweiten Weltkriegs ca. 50 Millionen Menschen aller kriegführenden Nationen den Tod.

1939–1945: Im Rahmen der systematischen Vernichtung der europäischen Juden durch die NS-Herrschaft des Deutschen Reiches werden ca. sechs Millionen Juden ermordet.

1939–1945: Im Rahmen der systematischen Vernichtung der Roma durch das Deutsche Reich werden ca. 200 000 Menschen dieser Gruppen ermordet.

1941–1945: Die kroatischen Ustascha ermorden 500  000 Juden, Serben und Roma. 

1945: Der Surabaya-Krieg auf Java fordert 1 000 britische und 12 000 indonesische Leben.

1945–1949: Im Indonesischen Unabhängigkeitskrieg kommen1 200 britische, 6 125 niederländische und ca. 60 000 indonesische Soldaten um.

1945-1950: Im Zusammenhang mit den Vertreibungen aus Mittel- und Osteuropa kommen mehr als 500 000 Deutsche ums Leben.

1946: Einwohner der polnischen Stadt Kielce töten 40 Juden.

1946–1949: Im Griechischen Bürgerkrieg sterben 50  000 Menschen einen gewaltsamen Tod.

1946–1954: Während des Französischen Indochina-Kriegs kommen 130 000 Franzosen und eine Million Vietnamesen, Kambodschaner und Laoten um.

1948–1960: Während der Malayan Emergency töten Briten mehr als
10  000 Malaien. 

1952–1956: Im Tunesischen Unabhängigkeitskrieg kommen 17 459 französische Soldaten und mindestens 300  000 Tunesier um.

1952–1960: Während des Mau-Mau-Kriegs in Kenia kommen 200 britische Soldaten und 20 000 Guerillakämpfer um.

1954–1962: Im Algerischen Unabhängigkeitskrieg kommen ca. 24 000 französische Soldaten und ca. 300 000 Algerier ums Leben.

1961: Die französische Polizei richtet ein Massaker an 200 Algeriern in Paris an.

1963–1964: Der Zypriotische Bürgerkrieg fordert 174 griechische und 364 türkische Leben.

1968–1998: 3 500 Menschen werden Opfer des Nordirlandkonflikts.

1974: Die Invasion der Türkei auf Zypern kostet 3 000 Türken und 5 000 griechischen sowie türkischen Zyprioten das Leben.

1979–1989: Im Sowjetisch-Afghanischen Krieg sterben 14 453 sowjetische Soldaten und ca. eine Million Afghanen.

1982: Im Falklandkrieg sterben 258 britische Soldaten und 649 argentinische.  

1991–1995: Die Jugoslawienkriege fordern 52  800 bosnische, 1 8 530 kroatische, 30 000 serbische, 4 000 kosovarische und 800 albanische Leben.

1995: Serben begehen in Srebrenica in Bosnien und Herzegowina ein Massaker an 8 000 muslimischen Bosniaken. 

1992–93: Im Georgischen Bürgerkrieg kommen 10  000 Menschen um.

1998/99: Der Kosovokrieg kostet 2 170 Serben und 10  527 Albanern das Leben.

Foto: Daniel Schvarcz

Foto: Daniel Schvarcz

Niemals Vergessen!

Ausstellungsinstallation “Niemals Vergessen!”. Foto: Dietmar Walser

Unter dem Imperativ „Niemals vergessen!“ wird versucht, die Erinnerung an die Verbrechen des NS-Regimes und an die Schoa warnend wachzuhalten. Bereits im September 1946 veranstaltete der kommunistische Wiener Kulturstadtrat Viktor Matejka unter diesem Titel im Wiener Künstlerhaus eine große Ausstellung. Organisiert wurde sie vom „Österreichischen Bundesverband ehemals politisch verfolgter Antifaschisten“, der bis 1948 bestehenden Dachorganisation österreichischer NS-Opfer, der sich der „Verband der Abstammungsverfolgten“ angeschlossen hatte. Doch erst im letzten Augenblick wurde der jüdische Auschwitz-Überlebende Heinrich Sussmann (1904–1986) mit einem Plakatentwurf und der Gestaltung des Ausstellungsraumes VI „Judenverfolgung“ beauftragt. Hauptwerbeträger wurde jedoch nicht Sussmanns das KZ-Leid thematisierendes Plakat, sondern Victor Slamas Widerstandskämpfer, der das Hakenkreuz kraftvoll zerstört. Auch darüber hinaus war die Ausstellungsvorbereitung konfliktreich. Die Österreichische Volkspartei wollte die unmittelbare Vorgeschichte der NS-Zeit, die ständestaatliche Diktatur, zu deren Beginn Österreicher auf Österreicher geschossen hatten, nicht thematisiert sehen und beide Großparteien wollten die österreichische Opferthese unterstrichen wissen. Eine Bearbeitung des aktiven Anteils der Österreicher am Judenpogrom und am Judenmord wollte keine Partei.

^ Grabmal der Familie Sussmann am Wiener Zentralfriedhof, Wien 2020, © Oskar Prasser

< Heinrich Sussmann, Plakat zur Ausstellung „Niemals vergessen“, Wien 1946, © ÖNB-Bildarchiv

> Antisemitisches „Spiel“, das Simon Wiesenthal anonym per Post erhielt, o. J., © Archiv des Wiener Wiesenthal Instituts (VWI)

v Simon Wiesenthal, Wien 1988, © Archiv des Wiener Wiesenthal Instituts (VWI)


Zeit seines Lebens forderte der Holocaust-Überlebende Simon Wiesenthal (1908–2005) dazu auf, niemals zu vergessen, dass die Schoa eine der Folgen der Demontage von Demokratie und Menschenrechten war. Über das von ihm gegründete „Dokumentationszentrum des Bundes Jüdischer Verfolgter des Naziregimes“ sammelte und dokumentierte er Nazi-Verbrechen und suchte weltweit nach entkommenen Tätern. Politisch stand Wiesenthal der ÖVP nahe. Sein Protest gegen ehemalige Nazis als Minister in der von der FPÖ unterstützten SPÖ-Minderheitsregierung unter Bruno Kreisky – der sich 1966 selbst von einem ÖVP-Abgeordneten als „Saujud“ hatte beschimpfen lassen müssen – veranlasste den Bundeskanzler zur der bösartigen Unterstellung, Wiesenthal sei ein Nazi-Kollaborateur gewesen. Zwei Österreicher jüdischer Herkunft attackierten einander nun öffentlich, und die Republik schaute zu. Trotz aller Aufklärungsarbeit und aller von Politikern reflexartig vorgebrachten Beteuerungen antifaschistischer Gesinnung war Wiesenthal immer wieder derbem Antisemitismus ausgesetzt. Als ein FPÖ-Bürgermeisterkandidat 1990 in einem Interview wissen ließ: „Dem Simon Wiesenthal hab ich gesagt: Wir bauen schon wieder Öfen, aber nicht für Sie, Herr Wiesenthal – Sie haben im Jörgl seiner Pfeife Platz“, war dies nur die Spitze des Eisbergs.

Aleida Assmann (Konstanz) über Erinnerungskultur in einer Einwanderungsgesellschaft:

Carlo Alberto Brunner

Löschwiege von Carlo Alberto Brunners Schreibtisch. Jüdisches Museum Hohenems, Nachlass Carlo Alberto Brunner

Das Jüdische Museum Hohenems verdankt den Bestand Carlo Alberto Brunner (1933-2014) seinen Kindern, die sich nach seinem Tod entschlossen, einen Teil des Nachlasses dem Museum als Dauerleihgabe zu überlassen. Carlo Alberto Brunner wuchs in Triest auf, als erster Sohn von Leone Brunner und Maria Teresa Brunner (geb. Clerici). Die NS-Zeit überlebte er mit seiner Familie im toskanischen Forcoli, wo die Familie ein Anwesen besaß. In der Zeit vom Einmarsch der Deutschen bis Ende der 1960er- Jahre war die Familie mit schweren wirtschaftlichen Verlusten konfrontiert. Nach dem Verkauf des Anwesens in Forcoli zog Carlo Alberto nach Israel und re-konvertierte zum Judentum. Er lebte zuerst in einem religiösen, dann in einem sozialistischen Kibbuz. 1974 heiratete er Nurit Feuer und lebte mit seiner Familie in einer Wohnung in Giv’atayim, einem Vorort von Tel Aviv, inmitten der Memorabilia seiner Hohenemser und Triester Familie, Ölgemälden aus dem frühen 19. Jahrhundert und aus Triest, Erbstücken und Erinnerungen. Carlo Alberto Brunner hinterließ auch das Manuskript eines Buches „Il Fondo del Ghetto“, in dem er die Stationen seines Lebens und seine Familiengeschichte im Spiegel der großen politischen Ideen, historischen Ereignisse und nationalistischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts reflektiert.

Carlo Alberto Brunner: „Il Fondo del Ghetto“ (Am Grunde des Ghetto), Manuskript. Jüdisches Museum Hohenems
Carlo Alberto Brunner, „Il Fondo del Ghetto” (Am Grunde des Ghettos): Kindheit unter Deutscher Besatzung
Carlo Alberto Brunner, „Il Fondo del Ghetto” (Am Grunde des Ghettos): Über Israel und ethnische Nationalstaaten

Alfred Otto Munk

Alfred Otto Munk: Brief an seinen Vater Hans Munk, nach dem 10. April 1938. Jüdisches Museum Hohenems

Am Tag der pseudodemokratischen Volksabstimmung über den „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich am 10. April 1938 gelang Alfred Otto Munk (1925 – 2002) und seiner 23-jährigen Schwester Gertrud die Flucht bei Lustenau in die Schweiz. Ihre Mutter Rega Brunner, Tochter von Lucian Brunner, hatte einen Schlepper und gefälschte Papiere organisiert und ließ die Kinder in Wien von einem Auto abholen. Sie selbst war bereits rund um die „Anschluss“-Tage aus Österreich geflohen und befand sich in Zürich. Mit zwei weiteren Helfern erreichten ihre Kinder Schweizer Boden. Die Familie verließ Zürich im Oktober und emigrierte in die USA, wo Alfred Otto Munk zunächst in die US-Armee eintrat. Nach Kriegsende studierte er in Stanford und arbeitete jahrzehntelang als Manager in amerikanischen Ölkonzernen. Den Brief über seine Flucht aus Österreich schrieb Alfred Otto Munk an seinen Vater Hans Munk, der – von Rega Brunner seit 1926 geschieden – schon 1937 in die USA emigriert war und in Kalifornien lebte. In der Aufregung vergaß Alfred Otto Munk wohl zu erwähnen, dass der Tag der Flucht aus Österreich auch sein 13. Geburtstag war.

Alfred Otto Munk, Brief an seinen Vater. Auf der Flucht, April 1938.

Verhütung und Bestrafung des Völkermordes

Ausstellungsinstallation Verhütung und Bestrafung des Völkermords. Foto: Dietmar Walser

Alle EU-Staaten sind Mitglieder der Vereinten Nationen, der United Nations. Als globale Organisation, sieht die UN ihre Aufgabe hauptsächlich in der Friedenssicherung, der Welternährung und der Menschenrechtspolitik. Seit 1951 gilt die Völkermordkonvention der UN, die „Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide“, die eng mit den europäischen Katastrophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verbunden ist.
Der Begriff „Genozid“ wurde 1944 von Raphael Lemkin (1900-1959) geprägt. Schon in den 1920er Jahren ließ ihn der Völkermord an den Armeniern nicht los. Als er erfuhr, dass der ehemalige türkische Innenminister Talaat Pascha wegen seiner Verantwortung für die Verbrechen an den Armeniern im Exil in Deutschland nicht von Armeniern angeklagt werden konnte, begann Lemkin, sich mit dem Völkerrecht zu beschäftigen. Bereits 1933 versuchte er erfolglos, Vertreter des Völkerbunds von einer internationalen Konvention gegen Genozid zu überzeugen. Der aus der Region um Wilna stammende Lemkin floh nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs von Warschau über Schweden in die USA. Die meisten seiner Familienmitglieder wurden als Juden ermordet.
Unermüdlich bemühte er sich um die Aufmerksamkeit der Alliierten für den Völkermord an den europäischen Juden. Nach Kriegsende kämpfte er für die Einführung des Rechtsbegriffs „Genozid“, der entsprechende Verbrechen als völkerrechtswidrigen Tatbestand erfasst. 1948 wurde Genozid nach der von Lemkin übernommenen Definition in das Völkerstrafrecht aufgenommen. Genozid ist demnach „durch die Absicht gekennzeichnet“, „auf direkte oder indirekte Weise eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“.

^ ID-Karte Raphael Lemkin für das Kriegsministerium © American Jewish Historical Society

< Armenische Bevölkerung flieht vor türkischen Massakern in Anatolien, 1915, © epd-bild/akg-images/Pictures From History

> Die verzweifelte Nedžiba Salihović aus Srebrenica und UN-Soldaten in einem Flüchtlingslager in Tuzla, Bosnien, 17. Juli 1995, © Ron Haviv/VII/Redux/aif

Im Rahmen der Jugoslawienkriege kam es zwischen April 1992 und Dezember 1995 aufgrund der Unabhängigkeitsbestrebungen der jugoslawischen Teilrepublik Bosnien-Herzegowina zum sogenannten Bosnienkrieg. Es bekämpften einander die Armee der Republik Bosnien-Herzegowina, die Streitkräfte der Republik Kroatien und die Jugoslawische Volksarmee im Verbund mit der Armee der neu ausgerufenen Republika Srpska. Aus Furcht vor ethnischen Säuberungen richtete der Sicherheitsrat der UN eine Schutzzone um das ostbosnische Srebrenica in der heutigen Republika Srpska ein und entsendete UN-Friedenstruppen in die Region. Die holländischen Blauhelme Dutchbat griffen – nach eigener Aussage wegen Unterbesetzung und mangelnder Ausrüstung – nicht ein, als im Juli 1995 serbische Milizionäre in der Gegend um Srebrenica rund 8.000 muslimische Bosniaken ermordeten. Ein Genozid vor den Augen der UN.

Aleida Assmann (Konstanz) über Raphael Lemkin, Hersch Lauterpacht, Rene Cassin und die Ächtung des Völkermords:

„Die Förderung der Menschenrechte ist der Europäischen Union ein stetes Anliegen“

Ausstellungsinstallation Menschenrechte. Foto: Dietmar Walser

Die 1950 formulierte Europäische Menschenrechtskonvention soll individuelle Menschenrechte vor staatlicher Willkür schützen. Über ihre Umsetzung wacht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Eine der Schlüsselfiguren bei der Einrichtung des Gerichtshofes war Hersch Zwi Lauterpacht (1897–1960) aus dem galizischen Żółkiew. Nach seinem Studium bei Hans Kelsen, dem Staatsrechtler, Rechtsphilosophen und Mitgestalter der österreichischen Bundesverfassung von 1920, übersiedelte Lauterpacht nach London. Dort entwickelte er sein Konzept der Menschenrechte. 

Lauterpacht hatte fast seine ganze Familie in der Schoa verloren. Er definierte die „Aufgabe humanen Regierens“ als Gewährleistung der „natürlichen und unveräußerlichen Menschenrechte“. Als Berater der britischen Ankläger im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher 1945–46 entwickelte Lauterpacht den Rechtsbegriff des „Verbrechens gegen die Menschheit“ als Verletzung des Völkerrechts. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UN hingegen war vor allem das Werk des französisch-jüdischen Juristen René Cassin (1887-1976), des späteren Präsidenten des Europäischen Menschengerichtshofes. Für sein Engagement erhielt er 1968 den Nobelpreis.

^ Hersch Lauterpacht, Trinity College, Cambridge, UK, 1958, © The Lauterpacht Centre for International Law, Cambridge, UK

< Straßenbahn-Station „Droits de l’Homme“ vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, Straßburg 2016, © Rainer Unkel/picturedesk.com

> Griechische Polizei bewacht die türkisch-griechische Grenze, 29. Februar 2020, © Emrah Gurel/APA/picturedesk.com

2012 stellte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in einer Grundsatzentscheidung fest, dass im Falle von Abschiebungen/Rückführungen von Flüchtenden 

  • „gemäß Art. 3 der europäischen Menschenrechtskonvention der rückführende Staat eine Misshandlung im Zielland verhindern muss 
  • die Inkaufnahme einer Weiterschiebung in das folternde Herkunftsland gegen Art. 3 der europäischen Menschenrechtskonvention verstößt 
  • Kollektivausweisungen auch auf hoher See und von Bootsflüchtlingen gegen Art. 4 des Protokolls 4 der Europäischen Menschenrechtskonvention verstoßen 
  • Bootsflüchtlingen gegen ihre Rückschiebung Rechtsmittel gemäß Art. 13 der europäischen Menschenrechtskonvention zustehen“.

Die Verwirklichung der 2007 im Vertrag von Lissabon formulierten Verpflichtung der Europäischen Union, selbst der Europäischen Menschenrechtskonvention beizutreten, wird – trotz wiederholter Bekenntnisse dazu – bis heute blockiert. Liegt dies daran, dass dann auch ein unabhängiges Kontrollorgan das Handeln und die Glaubwürdigkeit der Mitgliedstaaten hinterfragen müsste?

Gerald Knaus (Berlin) über die Flüchtlingspolitik Europäischer Staaten:

Gerald Reitlinger

Gerald Reitlinger: Endlösung. Hitlers Versuch der Ausrottung der Juden Europas 1939-1945, Berlin 1956 (im Original: The Final Solution. The Attempt to Exterminate the Jews of Europe 1939-1945, 1953) / Die S.S. – Tragödie einer deutschen Epoche, München 1957 (Im Original: The SS – Alibi of a Nation, 1956) / Auf Sand gebaut. Hitlers Gewaltpolitik in Russland 1941-1944. Hamburg 1962 (im Original: The House build on Sand. the Conflicts of German Policy in Russia, 1960). Jüdisches Museum Hohenems

Nach ihrem gewaltigen sozialen Aufstieg in Triest verheirateten Carlo Brunner und seine Frau Caroline, geb. Rosenthal, ihre drei Töchter an drei Brüder Reitlinger, Bankiers in Wien, London und Paris. Gerald Reitlinger (1900-1978) wurde als jüngster Sohn von Albert Reitlinger und Emma Reitlinger, geb. Brunner, geboren und studierte Kulturwissenschaften und Kunst. 1930 bis 1931 nahm er an einer Ausgrabung im Irak teil und unternahm in Folge mehrere Forschungsreisen in den Iran, die Türkei und nach China. Nach dem Zweiten Weltkrieg veröffentlichte Gerald Reitlinger die erste Gesamtdarstellung über den nationalsozialistischen Massenmord an den europäischen Juden: The Final Solution. The Attempt to Exterminate the Jews of Europe 1939–1945 erschien 1953 in London (deutsch 1956). 1956 folgte The SS. Alibi of a Nation 1922 – 1945(deutsch 1957). Gerald Reitlinger war ein begeisterter Sammler von asiatischen und islamischen Keramiken. Seine große Sammlung, die kurz vor seinem Tod durch ein Feuer beschädigt wurde, vermachte er dem Ashmolean Museum in Oxford, wo sie heute die Gerald Reitlinger Gallery bildet.

Gerald Reitlinger, Endlösung, 1956: Schuldfragen