Gestrandet und missbraucht

Rückblick, 1.3.2020: In der Türkei leben zur Zeit 4.000.000 syrische Flüchtlinge, mehr als in jedem anderen Land der Welt. Die Türkei kann diese Lasten nicht allein tragen und ist angesichts der nach wie vor steigenden Zahl der Bürgerkriegsflüchtlinge auch weiterhin auf Hilfe angewiesen. Der „Deal“ zwischen der EU und der Türkei von 2016 hat drei Jahre lang den Migrationsdruck auf Griechenland radikal vermindert, auch wenn sich beide Seiten nicht an alle Vereinbarungen hielten. Doch die EU will öffentlich nicht über eine Verlängerung des informellen Abkommens reden. Erdogan hat nun, die Grenze zu Griechenland als „offen“ erklärt – und schickt offenbar Flüchtlinge mit Bussen an die griechische Grenze um Druck auf die EU auszuüben. Die griechische Grenzpolizei spricht von ca. 5000 Menschen, die nun im Niemandsland campieren. Erdogan von mehr als 18.000 Menschen. Europäische Boulevardzeitungen wiederum sprechen in den nächsten Tagen von immer höheren Phantasiezahlen, die noch die türkische Propaganda übertreffen. Das einzige, was der österreichischen Regierung dazu einfällt, ist das Angebot an die griechische Regierung die Grenzsicherung durch Polizei zu unterstützen.

40.000 Asylsuchende sitzen derweil in überfüllten Lagern auf den griechischen Inseln im Osten der Ägäis fest, alleine 20.000 von ihnen im Lager Moria auf Lesbos. Dort herrschen dramatische Zustände. 1300 Bewohner teilen sich dort einen funktionierenden Wasserhahn. Es wird darüber spekuliert, was geschehen würde, wenn sich Corona in diesen Lagern ausbreiten würde. Acht Mitgliedstaaten der EU haben sich bereit erklärt, insgesamt 1600 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge aufzunehmen. Österreich ist nicht darunter.

Front-Ex Ungarn

Europäisches Tagebuch, 5.1.2021: Ende Januar hat die Europäische “Grenzschutzagentur” Frontex seine Tätigkeit in Ungarn eingestellt. Ungarn schiebt nach wie vor gewaltsam und gesetzeswidrig Flüchtlinge an der Grenze zu Serbien ab, ohne ihnen die Möglichkeit zu geben, Asyl zu beantragen. Diese Pushbacks widersprechen eindeutig europäischem Recht. Der Europäische Gerichtshof hat schon im Dezember eine klare Entscheidung gefällt: Ungarn verletzt laufend europäisches Asylrecht. Dazu gehört auch die „rechtswidrige Inhaftierung“ von Flüchtlingen an der Grenze zu Serbien. Frontex hat jetzt die Zusammenarbeit mit Ungarn eingestellt, um nicht selbst an diesen illegalen Aktionen beteiligt zu sein.

Aufgrund der möglichen Beteiligung der europäischen Grenzschutzagentur Frontex an illegalen Pushbacks an der europäischen Außengrenze in Griechenland, Kroatien oder Ungarn, ermittelt die EU-Betrugsbekämpfungsbehörde Olaf gegen Frontex. Zahlreiche dokumentiert Fälle belasten Frontex schwer. Aufgrund dieser zum Teil gewaltsamen Pushbacks eskaliert auch die Flüchtlingssituation in Bosnien.

Die Ermittlungen von Olaf haben nun offenbar Wirkung auf Frontex.

“Alles unter Kontrolle”

Europäisches Tagebuch, 31.1.2021: Der österreichische Bundesinnenminister hat sich auf den absoluten Nullpunkt hinab begeben, zum Kältepol. Minus 274 Grad Celsius, oder 0 Grad Kelvin. Im Österreichischen Fernsehen erklärt er einer fassungslosen Lou Lorenz-Dittlbacher, was er unter Betroffenheit versteht. Auf ihre Frage, wie er als Vater zu den jüngsten gewaltsamen Abschiebungen von in Österreich geborenen und aufgewachsenen, bestens integrierten Kindern nach Georgien und Albanien steht, bringt er es fertig zu sagen, er sei auch betroffen, wie Eltern ihren Kindern das antun können.
Wie Eltern es also ihren Kindern antun können, alles zu versuchen, damit sie einmal ein besseres Leben haben? Wie Eltern es ihren Kindern antun können, sie ausgerechnet in Österreich groß zu ziehen? Wie Eltern es ihren Kindern antun können,  sie Deutsch zu lehren und darauf zu hoffen, dass sie hier ihren Weg finden können?

Er meint natürlich folgendes: Diese Eltern drohen ihm, dem starken Mann, mit Kontrollverlust. Sie drohen ihm damit, dass ihre Kinder ihnen wichtiger sind, als ein österreichisches Asylrecht, dass schon seit vielen Jahren scheibchenweise demontiert wurde. Und wichtiger als ein österreichisches Fremdenrecht, dass nur noch Abwehr kennt und kaum noch Chancen auf legale Einwanderung. Dagegen muss jedes Mittel Recht sein. Auch der Rechtsbruch.

Denn welche Logik – außer einer totalitären – erlaubt es einem Staat, ein Kind dafür zu bestrafen, dass dessen Eltern Vorschriften verletzt, bzw. umgangen haben? Oder genauer: Kinder zu quälen, um deren Eltern zu bestrafen? Welche Logik erlaubt es einem Staat, das Leben eines Kindes zu ruinieren, mit dem Argument, dessen Eltern hätten diesem Kind widerrechtlich ein besseres Leben bereiten wollen?

Innenminister Nehammer hat – auch auf mehrmaliges Nachfragen hin – darauf verzichtet, Lou Lorenz-Dittlbacher seine Logik zu erklären. Er hat nur immer wieder seinen widersinnigen Satz wiederholt. Die Mutter von Tina sei schuld.
Schuld daran, dass man das zwölfjährige Mädchen in ein Land verschleppt, dass sie nicht kennt und dessen Sprache sie nicht schreiben oder lesen kann. Und ihre Mutter ist wohl auch schuld daran, dass man Tinas Mitschülerinnen und Mitschüler gewaltsam mit der für Terrorismusbekämpfung zuständigen Polizeibrigade vom Schauplatz des Geschehen fortschleifen musste. Den jungen Leuten musste man einmal eine Lektion erteilen, in was für einem Land sie gerade leben. In Corona-Zeiten ganz besonders.

Europäisches Tagebuch, 31.1.2020: Die Weltgesundheitsorganisation WHO erklärt Corona zu einer gesundheitlichen Notlage von internationaler Tragweite. Mit Kritik an der intransparenten Informationspolitik Chinas hält sich die WHO zurück.
Donald Trump hat sich inzwischen mehrmals zu der neuen Epidemie in China geäußert. Heute verhängt die USA einen Einreisestopp gegen Reisende aus China. US-Präsident Trump erklärt: „Wir haben das, was aus China kommt, so ziemlich ausgeschaltet.“ Vor wenigen Tagen hat Trump getwittert: „China hat sehr hart daran gearbeitet das Virus zu kontrollieren. Die Vereinigten Staaten begrüßen ihre Bemühungen und ihre Transparenz sehr. Es wird alles gut ausgehen.”

Vor vier Tagen hat die Münchner Ärztin Camilla Rothe den ersten deutschen Covid-19 Fall entdeckt. Das Testergebnis ihres Patienten, eines Geschäftsmanns, Mitarbeiter eines Autoteilezulieferers, ist unzweifelhaft positiv. Ein Tag später waren schon drei weitere Mitarbeiter positiv auf Civod-19 getestet. Die einzig denkbare Möglichkeit sich angesteckt zu haben scheint der Kontakt zu einer chinesischen Kollegin, die zwei Tage zu Meetings zu Besuch war, aber keinerlei Symptome gezeigt hatte. Heute, nach ihrer Rückkehr nach China, fühlt sie sich krank und wird ebenfalls positiv getestet. Dr. Rothe und ihr Kollege Michael Hölscher schlagen Alarm und veröffentlichen einen kurzen Bericht im New England Journal of Medicine. Offenkundig verhält sich der neue Virus nicht so, wie sein naher Verwandter SARS. Er ist schon vor dem Auftreten erster Symptome hochgradig ansteckend. Rothe warnt Fachkollegen vor dem dadurch deutlich höheren Ansteckungsrisiko. Auch Kollegen vom Robert Koch Institut und den bayerischen Gesundheitsbehörden reichen einen Artikel bei The Lancet ein, einer weiteren medizinischen Fachzeitschrift, in dem sie zu ähnlichen Schlüssen gelangen. Die Ansteckungsgefahr bestünde ihnen zufolge schon dann, wenn die Symptome noch so mild seien, dass sie nicht bemerkt würden.

Die EU aktiviert indessen das Katastrophenschutzverfahren für die Rückholung von EU-Bürgern aus China. Weniger erfolgreich ist die EU damit, die Mitgliedsländer vom Ernst der Berdrohung auch in Europa zu überzeugen.

Die EU-Kommission bietet den Mitgliedstaaten an, sie bei der Beschaffung von Schutzmasken, Testkits und Beatmungsgeräten zu unterstützen. Die Vertreter der europäischen Regierungen lehnen dies als Einmischung in die nationale Gesundheitspolitik ab. „Alles unter Kontrolle”, notiert ein Beamter die Aussagen der nationalen Delegierten in einer vertraulichen Sitzung in den Protokollen, die später von der Nachrichtenagentur Reuters ausgewertet wurden, “die Mitgliedsstaaten seien auf hohem Niveau vorbereitet, die meisten hätten Maßnahmen gesetzt”. (Quelle: Der Standard, 3.4.2020)

Das österreichische Weihnachtswunder

Europäisches Tagebuch, 20.1.2021: Pünktlich zu Weihnachten hat Österreichs Minister für Heimatschutz das Weihnachtswunder verkündet. „Hilfe für Ort“ zumindest für Kinder soll es im neuen Flüchtlingslager Kara Tepe auf Lesbos geben: eine Tagesbetreuung, organisiert vom SOS-Kinderdorf. Abends sollen die Kinder dann wieder zurück in ihre unbeheizten Zelte, wo sie auf dem gefrorenen Boden zwischen den Ratten schlafen dürfen.
Aber so ein Weihnachtswunder braucht Zeit. Zwar wurde an „Heilig Abend“ von den griechischen Behörden grundsätzlich die Genehmigung erteilt. Aber bislang dürfen die Mitarbeiter von SOS-Kinderdorf noch nicht einmal zu einer Vorbesichtigung des Lagers kommen. Entweder ist das Wetter zu schlecht, oder auf Lesbos gerade Corona ausgebrochen, oder der Flughafen gesperrt. Irgendwie passt es immer gerade nicht. Wahrscheinlich sieht es im Lager auch im Moment nicht so schön aus. Für die werten Gäste aus Österreich will man doch vorher aufräumen. Aber wie soll das gerade gehen?

Und überhaupt, ist nicht in elf Monaten schon wieder Weihnachten?

Elisabeth Hauser, Geschäftsführerin von SOS-Kinderdorf versucht noch immer die Fassung zu bewahren. Das generöse Angebot der österreichischen Bundesregierung verlangt ihr einen schmerzhaften Spagat ab. Und inzwischen spricht sie doch Klartext. Lieber würde man die Kinder in Österreich betreuen. Denn was in Griechenland mit ihnen passiert widerspräche allen Kinderrechten. Die Zustände seien verheerend.

Diese Zustände sind kein Naturereignis, sondern Verbrechen. Von Menschen gemacht, deren Namen wir kennen.

Irgendwann ist Corona vorbei. Und spätestens dann wird darüber zu reden sein.

Olaf gegen Frontex

Europäisches Tagebuch, 13.1.2021: Die Nachricht ist eingeschlagen. Die EU-Behörde für Betrugsbekämpfung (Olaf) ermittelt gegen die EU-Grenzschutzagentur Frontex.

Seit vielen Monaten treten kroatische Grenzbeamte EU-Recht mit Füßen und treiben Flüchtlinge an der EU-Außengrenze gewaltsam zurück nach Bosnien. Sie tun dies mit dem Beifall einiger Regierungen in Europa. Ungarn und Österreich sind ganz vorne dabei, wenn es darum geht, diesen offenen Rechtsbruch zu vertuschen oder gut zu heißen, wenn es mit dem Vertuschen angesichts der vielen Bewiese nicht mehr funktioniert. Schließlich sind auch österreichische Grenzbeamte nicht zimperlich, wenn es darum geht an der slowenischen Grenze einfach mal die Ohren zu zuhalten, wenn Flüchtlinge um Asyl bitten – und sie stattdessen gewaltsam nach Slowenien zurückzustoßen, von wo sie an die Kroaten abgeschoben werden, die sie dann wiederum an der bosnischen Grenze abladen. Dafür zahlt die EU dann Bosnien Geld dafür, sich um diese illegal abgeschobenen Flüchtlinge zu kümmern. In Bosnien landet dieses Geld in unsichtbaren Kanälen – aber ganz offenkundig nicht in der Flüchtlingsbetreuung. So durften hunderte von Flüchtlingen das Ende des Jahres bei klirrender Kälte im Freien verbringen, weil das improvisierte Zeltlager Lipa noch immer kein Strom, kein Wasser und keine Heizung hatte und darum von der Internationalen Organisation für Migration aufgelöst wurde. Seitdem ist nicht viel passiert. Außer das, was jetzt „Hilfe vor Ort“ heißt: ein paar neue, unbeheizte Zelte, ohne Wasser und ohne Strom. 2000 Flüchtlinge hausen nun zum großen Teil unter Plastikplanen im Wald. Bei Minustemperaturen. Viele der Fälle sind gut dokumentiert.
Bis heute traut sich der Europäische Menschenrechtsgerichtshof an diesen andauernden Rechtsbruch von EU-Mitgliedsstaaten und Anwärtern nicht heran. Doch immerhin ist nun die von der EU selbst betriebene Grenzschutzagentur Frontex Gegenstand von Untersuchungen. Lange Zeit setzten Länder wie Ungarn, Polen und Österreich große Hoffnungen in Frontex. Dann realisierten Orban und Kurz, dass sich auch Frontex an Gesetze halten muss. Und Frontex fiel in Ungnade.
Doch Frontex Direktor Fabrice Leggeri wollte 2020 offenbar seinen Ruf in Budapest, Warschau und Wien retten. So ist Frontex inzwischen, wie seit Monaten bekannt, im östlichen Mittelmeer an illegalen Zurückweisungen vor der griechischen Küste beteiligt. Und in der Behörde scheint auch sonst so einiges unrund zu laufen, von Einschüchterungen von Mitarbeitern die Bedenken haben, bis zu Unregelmäßigkeiten bei Ausschreibungen. Ob die nun laufenden Ermittlungen Konsequenzen haben werden, bleibt abzuwarten.

https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/ermittlungen-gegen-eu-grenzschutzbehoerde-frontex-17142763.html

https://www.tagesschau.de/ausland/lipa-lager-bosnien-101.html

https://www.derstandard.at/story/2000121752241/berichte-ueber-illegale-pushbacks-von-migranten-an-oesterreichischer-grenze

Bosnische Sylvester im Freien

Europäisches Tagebuch, 2.1.2021: Die europäischen Verbrechen an Flüchtlingen sind um eine Facette reicher. Seit vielen Monaten schützt insbesondere Kroatien „unsere“ Außengrenzen auf illegale, aber effektive Weise. Flüchtlingen, denen es zum Beispiel über Bosnien gelingt, an – und über – die kroatische Grenze zu kommen, werden gewaltsam wieder zurückgestoßen, bevor sie von ihrem Recht, einen Asylantrag zu stellen, Gebrauch machen können. Das verstößt zwar gegen europäisches und internationales Recht, aber selbst der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte schaut inzwischen resigniert (oder zynisch?) unter den Tisch, wenn es um den europäischen „Grenzschutz“ geht. Viele der Flüchtlinge waren zunächst im Lager Bira in der Stadt Bihac untergebracht, dann wurden sie nach „Protesten aus der Bevölkerung“, die inzwischen in Bosnien billiger zu haben sind, als Semmeln, im September in ein von der Armee provisorisch errichtetes Zeltlager in „the middle of nowhere“ verfrachtet, nach Lipa. Dort durften sich internationale Hilfsorganisationen um die Gestrandeten kümmern. Die bosnischen Behörden versprachen, das improvisierte Lager an die Strom- und Wasserversorgung anzuschließen, um es „winterfest“ zu machen. Doch nichts dergleichen geschah. Aus den Augen aus dem Sinn.
Ende Dezember kam der Frost. Aber noch immer keine Möglichkeit, das Lager zu heizen, noch immer kein Strom, kein Wasser. Gar nichts. Die Internationale Organisation für Migration (IOM) entschied, das Lager, in dem die Menschen sonst im beginnenden Winter erfroren wären, zu schließen. Und während der Räumung zündeten einige Flüchtlinge die maroden Zelte an, die sie endgültig hinter sich zu lassen glaubten.
Mit den bosnischen Behörden wurde ausgehandelt, die Flüchtlinge wieder ins Lager Bira nach Bihac oder in Kasernen in andere Landesteile zu bringen. Aber Lokalpolitiker verkündeten, es gäbe „Proteste aus der Bevölkerung“. So verbrachten 900 Menschen die Weihnachtstage im Freien. Dann stand doch die Evakuierung der obdachlos campierenden Flüchtlinge auf dem Programm. 500 von ihnen wurden zum Jahresende in Busse verladen. Und steckten dort fest. Denn die Busse fuhren nicht. Lokal- und Regionalpolitiker beugen sich den „Protesten aus der Bevölkerung“, die sie selbst nach Kräften geschürt haben. Und die Republika Srpska nimmt ohnehin niemand auf. Schließlich seien es die bosniakischen Muslime, die die „Migranten“ ins Land geholt hätten. Was auch immer damit gemeint sei, die Parole kommt immer an. Jeder Versuch der Zentralregierung in Sarajewo, Recht und Ordnung durchzusetzen (und das heißt in diesem Fall eine menschenwürdige Unterbringung der Flüchtlinge) ist so zum Scheitern verurteilt.

So verbrachten 500 Menschen die letzten beiden Tage des Jahres in ungeheizten Bussen. 24 Stunden lang. Dann ließ man sie wieder aussteigen. Sylvester erlebten sie unter freiem Himmel. Am Neujahrstag versorgte sie das Rote Kreuz. Österreich verspricht „Hilfe vor Ort“. Die bosnische Armee stellt wieder Zelte auf. Zelte gibt es genug. Unbeheizbar, wie die davor. Das zynische Spiel geht weiter. Der Winter auch.

Weihnachten auf Lesbos

Europäisches Tagebuch, 22.12.2020: In zwei Tagen ist Weihnachten. Das „provisorische“ Lager Kara Tepe auf Lesbos, in das die Insassen des abgebrannten Lagers Moria zwangsumgesiedelt wurden, versinkt im Schlamm. Dann wird das Wasser abgepumpt. Dann versinkt es wieder im Schlamm. Es wird kalt. Statt in selbstgebastelten Holzhütten, die sie sich in Moria noch bauen konnten, leben 7500 Menschen, davon 2500 Kinder, nun in Zelten ohne Heizung. Die Bewohner versuchen mit ihren Camping-Gaskochern ein wenig Wärme zu produzieren. Immer öfter werden sie mit Brandwunden behandelt. In den Zelten ist es dunkel. Nach drei Monaten gibt es noch immer kein warmes Wasser. Sanitäranlagen gibt es auch nicht. Ab 17.00 Uhr ist es im Lager stockfinster, da es keine funktionierenden Straßenlaternen gibt. Schulen oder Kinderbetreuung gibt es auch nicht. Das Camp verlassen dürfen die Insassen einmal in der Woche, für vier Stunden zum Einkaufen.
Das Lager liegt auf einem ehemaligen Truppenübungsplatz am Meer. Der Schlamm ist voller bleihaltiger Übungsmunition. Viele Kinder trinken abends nichts, weil sie Angst haben, nachts aufs Klo zu müssen. Klos, die es nicht gibt. Viele haben massive Schlafstörungen, Panikattacken und Alpträumen. Ein dreijähriges Mädchen ist im Lager vergewaltigt worden. Manche Kinder begehen Selbstmordversuche. Die ausländischen Helfer, die im Lager Flüchtlinge betreuen, wissen nicht mehr, mit welchen Argumenten sie den Kindern den Selbstmord ausreden sollen. Manche der Helfer arbeiten für SOS-Kinderdorf. Die Organisation betreibt auf Lesbos in der Nähe des neuen Lagers seit Jahren ein kleines Kinderschutzzentrum, das eigentlich Ende des Jahres aufgelöst werden soll. Sie fordern seit Monaten stattdessen auch in Kara Tepe wenigstens eine Tagesbetreuung für einen Teil der Kinder einrichten zu dürfen.
Einige Zeit lang gingen die Insassen von Kara Tepe ins Meer zum Baden, bis es dafür zu kalt wurde. Da sich die Menschen nicht mehr Waschen können, breitet sich Krätze im Lager aus. Auch Erkältungskrankheiten und Lungenentzündungen grassieren. Und immer mehr Kinder, nicht zuletzt die Babys, leiden unter Rattenbissen, berichten die Ärzte ohne Grenzen. In den anderen Lagern auf den Inseln sieht es nicht viel besser aus. Im Lager Vathy auf Samos leben 3700 Menschen in einem Lager, das für 600 Menschen eingerichtet wurde. Hier mussten kürzlich die Bewohner gegen Tetanus geimpft werden, wegen der zunehmenden Gefährdung durch Rattenbisse.

Die österreichische Regierung verhindert nach wie vor, dass Länder und Gemeinden in Österreich Flüchtlinge von den griechischen Inseln aufnehmen können. Auch in der ÖVP wächst der Druck auf den Kanzler, endlich die populistische Blockade aufzugeben. Doch Kurz hat schon vor Jahren angekündigt, dass es „hässliche Bilder“ geben würde. Seine Politik setzt auf Abschreckung, Kindesmisshandlung, Folter, Körperverletzung und Freiheitsberaubung. Warum soll er auf der Höhe seines Erfolgs davon abrücken?

Geiseln dieser Politik sind auch die Grünen, die sich im Parlament am Montag aufs Neue in Koalitionsdisziplin übten und gemeinsam mit türkisblau-blau einen SPÖ-Antrag für die Aufnahme von Flüchtlingen ablehnten. Und doch scheint es jetzt eine türkisblaue Doppelstrategie zu geben. Es sind ja nur noch wenige Tage bis Weihnachten. Das Fest der Flüchtlinge und Notunterkünfte. Der unschuldigen Kinder. Der Herzenswärme.

Ein PR-Berater des Kanzlers, Wolfgang Rosam, hatte schon länger die Idee zu einem genialen PR-Gag gegen Erfrierungserscheinungen am Herzen. Jetzt hat man sich an das SOS-Kinderdorf erinnert, das seit Monaten darum bettelt, etwas für die Kinder auf Lesbos tun zu dürfen. Nach dem missglückten  Auftritt von Türsteher Nehammer, der sich nach dem Brand von Moria breitbeinig vor einem dicken russischen Flieger filmen ließ, dessen Ladung inzwischen in irgendeiner griechischen Lagerhalle vor sich hin gammelt („Hilfe vor Ort“) – muss nun der Chefdiplomat des Reiches ausrücken.

Vor ein paar Tagen wurde SOS-Kinderdorf von der freudigen Nachricht aus dem Außenministerium überrascht. Zu Weihnachten soll es nun doch ein paar weniger hässliche Bilder geben. Und eine Tagesbetreuung für Kinder in Kara Tepe. Eine Genehmigung der griechischen Behörden gibt es allerdings noch nicht, auch sonst ist nicht wirklich klar, ob und wann es den „sicheren Ort“ für Kinder – wenigstens ein paar Stunden am Tag – geben wird. Aber Außenminister Schallenberg ließ sich dafür am Wochenende schon einmal in der Nachrichtensendung Zeit im Bildfeiern. Ein schönes Bild, das Bild eines selbstzufriedenen Mannes, der Gutes tut. Zumindest sich und seinem Kanzler.
Ob das Ablenkungsmanöver den Kindern auf Lesbos wenigstens eine kleine Flucht aus dem Elend ermöglichen wird, bleibt abzuwarten. Auch der Geschäftsführerin von SOS-Kinderdorf wäre es lieber, sie gleich nach Österreich zu bringen. Aber die Herbergssuche in diesem Land ist wohl wieder mal vergeblich.
Fröhliche Weihnachten.

Omri Boehm: Israel neu denken

Europäisches Tagebuch, 3.12.2020: Gestern hatten wir den israelischen Philosophen und politischen Denker Omri Boehm zu Gast, gemeinsam mit der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Bodensee-Region.
Sein Buch “Israel – eine Utopie” sorgt für lebendige Diskussionen und reiht sich ein in eine wachsende Zahl kritischer Stimmen, die nicht länger dem gescheiterten Phantom einer “Zweistaatenlösung” nachhängen, sondern neue Vorstellungen eines binationalen Staats eröffnen.
An unserem Zoom-webinar mit ihm nahmen 150 Gäste  von Wien bis New York und Berlin bis Zürich teil. Hier der Mitschnitt der Veranstaltung, die weitgehend in Englisch stattfand.

 Zwischen einem jüdischen Staat und einer liberalen Demokratie besteht ein eklatanter Widerspruch. Denn Jude (und damit vollwertiger israelischer Staatsbürger) ist nur, wer “jüdischer Abstammung“ ist – oder religiös konvertiert. In seinem großen Essay entwirft Boehm die Vision eines ethnisch neutralen Staates, der seinen nationalistischen Gründungsmythos überwindet und so endlich eine Zukunft hat.
In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich Israel dramatisch verändert: Während der religiöse Zionismus immer mehr Zuspruch erfährt, fehlt es Linken wie Liberalen an überzeugenden Ideen und Konzepten. Die Zwei-Staaten-Lösung gilt weithin als gescheitert. Angesichts dieses Desasters plädiert Omri Boehm dafür, Israels Staatlichkeit neu zu denken: Nur die Gleichberechtigung aller Bürger kann den Konflikt zwischen Juden und Arabern beenden. Aus dem jüdischen Staat und seinen besetzten Gebieten muss eine föderale, binationale Republik werden. Eine solche Politik ist nicht antizionistisch, sondern im Gegenteil: Sie legt den Grundstein für einen modernen und liberalen Zionismus.

Omri Boehm, geboren 1979 in Haifa, studierte in Tel Aviv und diente beim israelischen Geheimdienst Shin Bet. In Yale promovierte er über “Kants Kritik an Spinoza”, heute lehrt er als Professor für Philosophie an der New School for Social Research in New York. Er ist israelischer und deutscher Staatsbürger, hat u.a. in München und Berlin geforscht und schreibt über israelische Politik in Haaretz, Die Zeit und The New York Times.

Das Buch
Omri Boehm: Israel – eine Utopie
Propyläen Verlag, Berlin 2020, Gebunden, 256 Seiten,
€ 20,60, ISBN 978-3-549-10007-3

 

 

Gerald Knaus: “Welche Grenzen brauchen wir? Zwischen Empathie und Angst – Flucht, Migration und die Zukunft von Asyl”

Europäisches Tagebuch, 25.11.2020: Gestern war Gerald Knaus, einer der wichtigsten europäischen Migrationsexperten, bei uns zu Gast. Und sprach über die Mythen und Realitäten der aufgeheizten Kontroverse über Flüchtlinge und Migranten, die versuchen in Europa ein neues Leben zu beginnen. Sein Vortrag und die angeregte Diskussion, die ihm folgte, ist hier nun als Aufzeichnung zu sehen. Wir würden uns freuen, wenn sein Beitrag Gehör finden würde. Argumentationshilfen für humane Grenzen, an denen Menschenrechte und das Bedürfnis nach Sicherheit nicht gegeneinander ausgespielt werden.
Sein Buch Welche Grenzen brauchen wir? ist gerade im Piper Verlag erschienen und höchst lesenswert!

 

Griechenland, Moria und die Flüchtlinge. Ein Interview mit Gerald Knaus

Europäisches Tagebuch, 16.11.2020: Nichts tut sich. Die Blockade Österreichs und anderer EU-Staaten, die dafür sorgt, dass tausende von Flüchtlingen im europäischen Niemandsland als Geisel einer gescheiterten europäischen Menschenrechtspolitik feststecken, ist “Corona sei Dank” wieder fast vergessen. Die österreichischen Zelte verschimmeln in irgendeinem griechischen Lagerhaus und die Flüchtlinge warten auf die Winterkälte, gegen die auch diese Zelte nicht helfen würden. Die evangelischen Bischöfe in Deutschland fordern, die Flüchtlinge bis Weihnachten von den Inseln zu evakuieren. Aber dieses Jahr fällt Weihnachten wohl aus. Immerhin: Deutschland hat seit April 1192 Flüchtlinge aus Griechenland aufgenommen…
Am 24. November um 19.30 ist einer der bekanntesten europäischen Migrationsexperten, Gerald Knaus,  im Jüdischen Museum Hohenems zu Gast, angesichts des lockdowns nun im Rahmen eines Zoom webinars.

Gerald Knaus ist Gründungsdirektor der Denkfabrik European Stability Initiative (ESI). Und tritt immer wieder als kenntnisreicher Kritiker von Korruption, Menschenrechtsverletzungen und der Demontage rechtsstaatlicher Prinzipien auf. Regierungen und Institutionen in Europa hören, so heißt es, auf ihn, wenn es um Fragen von Flucht, Migration und Menschenrechten geht. Leider tun sie keineswegs immer, was er rät. Auch wenn die ungarische Regierung Knaus inzwischen, wegen seines angeblichen Einflusses auf die EU zum “Staatsfeind” erklärt hat, ganz in der Folge ihrer antisemitischen Hetzkampagnen gegen George Soros.

Immerhin, dass es 2015 zu einem modus vivendi mit der Türkei gekommen ist, der den Migrationsdruck im östlichen Mittelmeer verminderte und dafür Mittel zur Unterstützung von Flüchtlingen in der Türkei bereitstellte, geht auch auf seine Expertise zurück. Dass Europa diese Unterstützung 2020 einseitig beendete, führte schließlich zur erneuten Krise. Doch davon wollte die europäische Politik, unter dem Druck rechtspopulistischer Stimmungen, natürlich nichts wissen.

Gerald Knaus, gebürtiger Österreicher mit Verbindungen nach Vorarlberg, studierte Philosophie, Politik und internationale Beziehungen in Oxford, Brüssel und Bologna, ist Gründungsmitglied des European Council on Foreign Relations und war für fünf Jahre Associate Fellow am Carr Center for Human Rights Policy der Harvard University Kennedy School of Governance in den USA. Heute lebt er in Berlin.

Für die Ausstellung “Die letzten Europäer” haben wir mit Gerald Knaus schon am 10. September über sein neues Buch Welche Grenzen brauchen wir? Zwischen Empathie und Angst – Flucht, Migration und die Zukunft von Asyl (erschienen bei Piper, 2020) und den weitgehenden Stillstand in der europäischen Flüchtlingspolitik in Bregenz gesprochen. Hier das ganze Interview.

 

 

 

 

“Nawid ist weg”. Ein Gespräch mit Ernst Schmiederer über einen umherirrenden Freund

Europäisches Tagebuch, 6.11.2020: Gestern, am 5. November sprach ich mit Ernst Schmiederer über seine Begegnung mit jungen Flüchtlingen. In Österreich und Frankreich, in Schubhaft und in einer möglichen anderen Welt. Und sein Buch über Nawid.
Österreich schmückt sich damit, ob türkisblau oder türkisblau-grün, die Zahl der Flüchtlinge im Lande zu verringern. Über den Preis den Menschen dafür bezahlen, die seitdem innerhalb Europas auf der Flucht sind, wird wenig geredet. Ernst Schmiederer tut es. Seine Bücher kann man auch bestellen.
https://shop.gegenwart.org

Lesbos: Nach dem Feuer kommt das Wasser

Europäisches Tagebuch, 16.10.2020: War da was? Österreich hat „Hilfe vor Ort“ geleistet und 55 Tonnen Zeug irgendwo auf dem griechischen Festland abgeladen. Damit ist das Thema für die Bundesregierung erstmal erledigt.

Die griechische Regierung hat einen kleineren Teil der Flüchtlinge von Lesbos ebenfalls irgendwo auf dem Festland abgeladen, offenbar vor allem jene, die dazu als anerkannte Flüchtlinge ohnehin das Recht hatten, ein Recht, das man ihnen bislang ohne jede Rechtfertigung verweigert hat.
Die übrigen, laut Caritas ca. 7800 Menschen (davon 40% Kinder), sind in einem provisorischen Camp untergebracht, unter Bedingungen, die noch schlimmer sind, als zuvor. Das neue Camp am Meer ist nicht an die lokale Wasserleitung angeschlossen. So gibt es nur Chemie-Klos, die wohl bald den Geist aufgeben. Duschen gibt es nicht, die Bewohner waschen sich im Meer. Und sie leben in Zelten, die weder wind-, wasser- noch winterfest sind, zum Teil ohne Böden. Zelte die, wie der Kurier heute berichtet, in den massiven Regenfällen der letzten Tage, wie Kartenhäuser umgefallen sind. Das Lager ertrinkt inzwischen im Wasser und damit im Matsch.

Nun beginnt der Winter auf Lesbos, und der ist auch dort ziemlich kalt, und nass, und windig. Und genau das soll er ja auch offenkundig sein. Klaus Schwertner von der Caritas in Wien hat sich die Lage vor Ort angeschaut und hat den Eindruck, dass weiter „am Modell Abschreckung gearbeitet“ werde.
Und das wird im Winter wohl Opfer fordern. Bis dahin überlässt man es Organisationen, wie der Caritas, das Schlimmste zu verhüten. Immerhin: die Straßen, auf denen die obdachlosen Flüchtlinge in den Wochen nach dem Brand dahinvegetierten, sind jetzt für den Verkehr wieder geöffnet.

Die Verbrecher, die daran schuld sind, werden sich wohl so bald nicht für Freiheitsberaubung, Körperverletzung und Nötigung verantworten müssen. Wer wird sich trauen, sie vor Gericht zu stellen.

Hannah Arendt: Jüdischer Kosmopolitismus und gebrochener Universalismus

Europäisches Tagebuch, 14.10.2020: Sie war eine der schillerndsten jüdischen Denkerinnen des 20. Jahrhunderts. Heute vor 114 Jahren wurde sie in Hannover geboren: Hannah Arendt.

Als Philosophin wollte sie nicht bezeichnet werden. Sie sah sich als politische Theoretikerin. Und in ihren schonungslosen Analysen politischer Herrschaftssysteme und Ideologien, ihren Beiträge zur Demokratietheorie und zur Pluralität begriff sie sich als Historikerin.
Ihr Studium führte sie durch die deutsche intellektuelle Provinz, nach Marburg, Freiburg und Heidelberg, zu Heidegger (mit dem sie eine später vieldiskutierte Liebesbeziehung hatte), Husserl und Jaspers, mit dem sie vor und nach dem Nationalsozialismus einen bewegenden, freundschaftlichen und widersprüchlichen  Disput über das Verhältnis von Deutschen und Juden austrug. „Für mich ist Deutschland die Muttersprache, die Philosophie und die Dichtung“, schrieb sie Jaspers vor 1933, und betonte zugleich die Notwendigkeit auf Distanz zu bleiben. Mit einem „Deutschen Wesen“ von dem Jaspers so gerne sprach, wollte sie nichts zu tun haben.

So universalistisch sie in politischen Fragen dachte, so sehr verstand sie sich immer selbstbewusst als Jüdin und setzte sich offensiv mit der jüdischen Rolle als Paria der Gesellschaft auseinander.

1933 wurde sie kurzzeitig von der Gestapo inhaftiert. Und fortan galt für sie „Wenn man als Jude angegriffen wird, muss man sich als Jude verteidigen“, wie sie in einem legendären Fernsehinterview durch Günter Gaus im Jahre 1964 trocken bemerkte. Kaum etwas hat sie so sehr belastet wie der Umstand, dass ihr eigenes intellektuelles Umfeld in Deutschland sich mit dem Nationalsozialismus nicht nur arrangierte, sondern wie Heidegger und viele andere sogar offenkundig von der neuen Macht fasziniert war. Niemals zweifelte sie daran, dass solche Entscheidungen in der Verantwortung der Subjekte lagen. Für das tragische Selbstbild vieler Deutscher, die sich nach 1945 in Kategorien von Verstrickung und Untergang eine allenfalls „schuldlose Schuld“ andichteten, hatte sie nur beißenden Spott übrig. Aber auch alle Versuche der Opfer, den Massenverbrechen einen Sinn zu verleihen, waren ihr suspekt. „Auschwitz hätte nie geschehen dürfen“, war ihr bitteres Resumee, das auch hinter ihrem Buch über den Eichmann-Prozess stand, mit dem sie sich heftige Kritik in der jüdischen Öffentlichkeit zuzog.

Doch zuvor hatte sie Flucht, Internierung und Staatenlosigkeit erlebt. 1933 flieht sie nach Frankreich. In Paris gehört sie zum Freundeskreis um Walter Benjamin und den Rechtsanwalt Erich Cohn-Bendit (dem späteren Vater von Dany Cohn-Bendit). 1940 wird sie, mittlerweile staatenlos, in Frankreich als „feindliche Ausländerin“ in Gurs interniert, eine Erfahrung, die sie in ihrem Essay Wir Flüchtlinge verarbeitet. Nach wenigen Wochen gelingt ihr die Flucht aus dem Lager, 1941 kann sie in die USA emigrieren. In ihrem Gepäck hat sie Walter Benjamins letztes Manuskript, seine Thesen über den Begriff der Geschichte, seine Auseinandersetzung mit dem Mythos des Fortschritts und dem wachsenden Trümmerhaufen, auf den der Engel der Geschichte schauen muss, den der Sturm rückwärts in die Zukunft treibt.
Immer eigenständiger argumentiert sie nun als Jüdin für jüdische Selbstverteidigung und nach 1945 engagiert sie sich für die Rettung jüdischer Kulturgüter, deren eigentlicher Ort, die jüdischen Gemeinden Europas vernichtet sind – und die eine neue Verwendung, vor allem in den USA und in Israel finden müssen.
Dem zionistischen Projekt einer territorialen jüdischen Souveränität auf Kosten der ansässigen arabischen Bevölkerung gegenüber behielt sie kritische Distanz – und gemischte Gefühle zwischen Sympathie, Solidarität und politischer Ernüchterung. Als unter der Führung von Menachem Begin jüdische Milizen 1948 die arabische Bevölkerung von Deir Yasin massakrierten, veröffentlichte sie, u.a. gemeinsam mit Albert Einstein, einen flammenden Aufruf für einen Ausgleich mit den Palästinensern. Ihren eigenen Ort sah sie in den USA, einer Gesellschaft, der sie zutraute, universelle bürgerliche Gleichheit und kollektive Rechte auf Zugehörigkeit zu partikularen Identitäten miteinander zu versöhnen. Später äußerte sie in privaten Briefen auch ihre Verbundenheit mit Israel als jüdischem Rückzugsort, in einer Zeit als ihre Enttäuschung über den Fortbestand antisemitischer Ressentiments zunahm.

In den immer intensiveren Auseinandersetzungen um jüdische „Identität“ und Selbstbewusstsein nahm sie öffentlich eine ganz eigene, jüdisch-kosmopolitische Position ein, mit der sie zwischen alle Stühle geriet, wie Natan Sznaider in seinem Buch über den Gedächtnisraum Europa. Die Visionen des europäischen Kosmopolitismus betont. Natan Sznaider wird im Juni 2021 die Europäische Sommeruniversität für Jüdische Studien in Hohenems mit einem Vortrag darüber eröffnen.

Hans Kelsen: Von der Eleganz und der Widerborstigkeit der Verfassung

Europäisches Tagebuch, 11.10.2020: Nein, Hans Kelsen, der heute vor 139 Jahren in Prag geboren wurde, war nicht der alleinige „Autor“ der österreichischen Verfassung, deren „Eleganz“ in letzter Zeit so oft bemüht worden ist. Aber der aus einer jüdischen Familie stammende Jurist hatte tatsächlich entscheidenden Einfluss auf ihre Ausformulierung. Kelsen studierte in Wien, und konvertierte 1905 erst zum katholischen Glauben, 1912 dann zum Protestantismus. Mit seinem Hauptwerk, der Reinen Rechtslehre gehört er zu den Begründern des Rechtspositivismus, die sich von der sogenannten Naturrechtslehre abzusetzen versuchte. Ein Streit der Laien kaum verständlich war. Schließlich ging auch Kelsen von einer – jenseits der positiven Rechtssetzungen vorhandenen – „Grundnorm“ aus, die er zunächst als “Hypothese”, dann als “Fiktion” bezeichnete. Und die ihn gleichwohl zum erklärten Anhänger von unveräußerlichen Menschenrechten machte.

Hans Kelsen: Büste am Sitz des Wiener Verfassungsgerichtshof

1917 wurde Kelsen Professor in Wien. Zu seinen Schülern gehörte unter anderem Hersch Lauterpacht, der sich vom Rechtspositivismus abwandte und als Anhänger der Naturrechtslehre zu einem der maßgeblichen Völkerrechtsexperten des 20. Jahrhunderts werden sollte – und der maßgeblichen Einfluss auf die Schaffung internationaler Menschenrechtsgerichtsbarkeit nach dem 2. Weltkrieg und dem Holocaust hatte.

Kelsen vertrat schon nach dem 1. Weltkrieg in seinen Arbeiten zum Verfassungsrecht eine Demokratietheorie, die auf dem Respekt und dem Schutz von Minderheitenrechten basierte: „Die für die Demokratie so charakteristische Herrschaft der Majorität unterscheidet sich von jeder anderen Herrschaft dadurch, daß sie eine Opposition — die Minorität — ihrem innersten Wesen nach nicht nur begrifflich voraussetzt, sondern auch politisch anerkennt und in den Grund- und Freiheitsrechten, im Prinzipe der Proportionalität schützt.“ Legendär ist sein Streit mit Carl Schmitt über die Frage ob der Macht des Souveräns oder dem Recht und dem Schutz von Minderheiten der Vorrang in einer demokratischen Gesellschaft gebührt.

Nach seiner entscheidenden Mitwirkung am Bundes-Verfassungsgesetz, dessen 100. Geburtstag vor wenigen Tagen am 1. Oktober 2020 gefeiert wurde, blieb Kelsen Verfassungsrichter der jungen Republik. Und geriet bald ins Visier der nun folgenden konservativen Regierungen. Um die Aufführung von Arthur Schnitzlers Theaterstück „Der Reigen“ sollte es im Februar 1921 in Wien zu einer antisemitisch aufgeladenen Kampagne kommen. Wiens sozialdemokratischer Bürgermeister Reumann weigerte sich das Stück, wie von der christlichsozialen Regierung gefordert, zu verbieten. Auch der Verfassungsgerichtshof entschied unter Kelsen gegen ein Verbot, was wütende Drohungen gegen Kelsen provozierte.
1929 schließlich kam es erneut zum Konflikt, der Kelsens Laufbahn in Österreich beendete. Das Verfassungsgericht hatte die bis dahin im katholischen Österreich verbotene Ehescheidung ermöglicht, indem sie die vom sozialdemokratischen Landeshauptmann Niederösterreichs eingeführte staatliche „Dispens-Ehe“ als rechtens anerkannte. Die christlichsoziale Bundesregierung setzte daraufhin das gesamt Verfassungsreicht per Gesetz ab und ernannte neue Richter.
Kelsen nahm Konrad Adenauers Angebot an, als Professor nach Köln zu wechseln. Doch schon 1933 machte die nationalsozialistische Machtübernahme in Deutschland seinem Wirken in Köln ein Ende. Als einziger seiner Kölner Fachkollegen beteiligte sich Carl Schmitt nicht an einer Petition zu seinen Gunsten.

Kelsen ging nach Genf, und 1936 nach Prag, wo seine Berufung einen Sturm völkisch-antisemitischer Studenten auslöste. 1940 emigrierte er in die USA, und ließ sich in Kalifornien nieder. 1945 ehrte ihn die Österreichische Akademie der Wissenschaften, doch eine Einladung, nach Österreich zurückzukehren ist nie erfolgt. An die Eleganz „seiner“ Verfassung wird gerne erinnert. Doch an den mühsamen Kampf um Minderheitenrechte weniger. Kelsen starb am 19. April 1976 in Orinda, Kalifornien.

René Samuel Cassin und die Menschenrechte

Europäisches Tagebuch, 5.10.2020: Heute vor 133 Jahren wurde in Bayonne René Samuel Cassin geboren, einer der engagiertesten Vorkämpfer der Menschenrechte im 20. Jahrhundert. 1968 wurde ihm für seine Verdienste der Friedensnobelpreis verliehen.

René Samuel Cassin

Cassins Vater Azarie Henri Cassin entstammte einer sefardischen, portugiesisch-marranischen Familie und war als Weinhändler in Nizza tätig. Seine Mutter Gabrielle Dreyfus stammte aus einer elsässisch-jüdischen Familie. Cassin zog als promovierter Jurist in den 1. Weltkrieg und kehrte schon im Oktober 1914 schwer verwundet zurück. Noch während des Krieges gründete er mit anderen Kriegsteilnehmern die Union fédérale, den französischen Verband der Kriegsopfer, dem er von 1922 als Präsident vorstehen sollte. 1921 und 1924 organisierte er Konferenzen von Kriegsversehrten und Veteranen, die für Verständigung und Friedensabkommen zwischen den verfeindeten Nationen eintraten. Er tat dies durchaus als französischer Patriot, der von einer universellen französischen Mission überzeugt war:

„Wir verkörpern seit Jahrhunderten ein Ideal der Freiheit, der Unabhängigkeit, der Menschlichkeit“, deshalb seien die Mitglieder der Union fédérale die „Vertreter der französischen Moral in der Welt“.

Als Professor ab 1920 in Lille, dann ab 1929 an der Sorbonne in Paris, lehrte er Völkerrecht. Vor allem aber war Cassin in unzähligen Nichtregierungsorganisationen und politischen Ämtern aktiv. Von 1924 bis 1938 vertrat er Frankreich beim Völkerbund. 1940 emigrierte er nach London und gründete mit Charles de Gaulle France Libre, die französische Exilarmee in den britischen Streitkräften. Von 1941 bis 1943 wurde er Nationalkommissar der Freien Französischen Regierung in London und 1944 gehörte er zu den Initiatoren des Französischen Komitees für die Nationale Befreiung in Algier und bereitete als Präsident deren juristischer Kommission die französische Gesetzgebung nach 1945 vor. 1944 wurde er Vizepräsident des französischen Staatsrates (bis 1960) und 1946 auch Präsident der französischen Elite-Hochschule École nationale d’Administration.

Von 1946 bis 1958 vertrat er Frankreich bei den Vereinten Nationen und gehörte zu den Begründern der UNESCO. Vor allem aber gehörte zum engsten Kreis der Verfasser der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen, zusammen u.a. mit Karim Azkoul, dem libanesischen Diplomaten und Philosophen.
Von 1959 bis 1968 schließlich war er Vizepräsident, dann Präsident des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes.

Eine Palästinareise in den 1930er Jahren, vielleicht auch sein sefardisches Familienerbe, hatte ihn dazu motiviert sich für die Förderung der arabisch-jüdischen Bevölkerung Palästinas einzusetzen. Nach 1945 wurde er neben seinen vielen anderen Ämtern auch Präsident der Alliance Israelite Universelle (die im 19. Jahrhundert die Ideale der französischen Revolution vertrat und europäische Bildung unter orientalischen Juden verbreiten sollte, nicht ohne eine gewisse Portion europäisch-kolonialen Hochmut).

„Hitlers Hauptziel war die Auslöschung der Juden“, schrieb Cassin, „aber ihre Vernichtung war auch Teil einer Attacke auf Alles, wofür die Französische Revolution stand: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und Menschenrechte. Hitlers Rassismus war im Kern ein Versuch, die Prinzipien der Französischen Revolution auszulöschen.“ Das hinderte Cassin zwar nicht, nach der Vernichtung des europäischen Judentums das jüdisch-nationale, zionistische Projekt zu unterstützen. Doch forderte er nach 1945 auch klare Einschränkungen nationaler Souveränität in allen Fragen der Menschenrechte, die vor jeder nationalen Gesetzgebung Vorrang haben müssten und auch mit Zwangsmaßnahmen durchgesetzt werden müssten.
Sein Eintreten für soziale Rechte weckte in den USA Misstrauen gegen ihn. Ein Beamter des State Department stand nicht an, ihn als „Kryptokommunisten“ zu bezeichnen. Doch neben seinem Engagement für die Menschenrechte und für die Ideale der Gleichheit, blieb Cassin in vielen gesellschaftspolitischen Fragen ein klassisch konservativer Liberaler. So hatte er gegenüber der rechtlichen Gleichstellung von Frauen eine eher zögerliche Haltung, ja er stimmte im französischen Exilparlament in Algier sogar gegen eine sofortige Einführung des aktiven und passiven Frauenwahlrechts.

Cassin starb am 20. Februar 1976 in Paris.