Die Eröffnung

Europäisches Tagebuch, 4.10.2020:
Unsere Ausstellung Die letzten Europäer. Jüdische Perspektiven auf die Krisen einer Idee | Die Familie Brunner. Ein Nachlass hat begonnen. Unter Corona-Bedingungen eine ungewohnte Eröffnung vor kleinem Publikum – mit gebührendem Abstand und Platzbeschränkung, wie es die Situation erfordert. Alles ist eben etwas anders im Moment.
Dafür nahmen viele Gäste am Livestream teil und nun sind die Eröffnungsreden von Bürgermeister Dieter Egger, Landesstatthalterin Barbara Schöbi-Fink, Aleida Assmann, Ariel Brunner, Hannes Sulzenbacher und Felicitas Heimann-Jelinek – wie auch der Film von Ronny Kokert über Moria im Februar 2020 – auf unserem youtube-Kanal zu sehen. Hineinschauen und Hineinhören lohnt sich, viel überraschendes ist da zu entdecken. Wir freuen uns auf anregende Diskussionen in unserem Haus.

 

Hier einige Impressionen vom ersten Tag, eingefangen von Dietmar Walser.

Foto: Dietmar Walser

Foto: Dietmar Walser

“wie ein Schiff, das die Pest nach Europa bringt”?

Europäisches Tagebuch, 3.10.2020: In Catania beginnt heute der Prozess gegen den italienischen Ex-Innenminister Matteo Salvini, wegen Freiheitsberaubung mit der Anhörung des mittlerweile aus der Opposition agierenden rechtsradikalen Führers. Salvini hatte im Juli 2019 einem Schiff der italienischen Küstenwache die Einfahrt in den Hafen Augusta auf Sizilien verweigert. Auf dem Schiff befanden sich 131 aus Seenot gerettete Bootsflüchtlinge. Das zuständige Gericht in Catania sah damit den Straftatbestand der Freiheitsberaubung gegeben, auf den eine Höchststrafe von 15 Jahre Haft steht. Im Februar stimmte der römische Senat mehrheitlich für die Aufhebung von Salvinis Immunität – als die Koalition zwischen Salvinis rechter Lega Nord und der Fünf-Sterne-Bewegung schon Geschichte war. Salvini, der im Zeichen der Corona-Krise in den Umfragen abgestürzt ist, nutzt den Prozess jedenfalls für seinen Dauerwahlkampf. Seit Tagen mobilisiert er auf Sizilien mit flammenden Reden und Verdi-Arien vom Band. „Vincerò“ – „Ich werde siegen“. Er habe nur die Grenzen und die Ehre Italiens verteidigt, in dem er 130 Menschen als Geiseln seiner rechtsradikalen Politik nahm. Eine Verurteilung Salvinis gilt dennoch als unwahrscheinlich – und so wird ihm der Prozess vermutlich auch noch helfen an seinem Comeback zu arbeiten.

Europäisches Tagebuch, 3.10.2019: Die Kapitänin des Seenotrettungsschiffes Sea-Watch 3, Carola Rackete, hielt heute eine Rede vor dem Europäischen Parlament in Brüssel, im Rahmen einer Anhörung des Innenausschusses – und erhielt von einem Teil der Abgeordneten stehende Ovationen. Der ORF berichtete ausführlich über diesen ungewöhnlichen Anlass:

„Ich wurde empfangen wie ein Schiff, das die Pest nach Europa bringt“, sagte Rackete am Donnerstag im Innenausschuss des Parlaments. „Es war schwer, eine EU-Bürgerin zu sein in diesen Tagen. Ich habe mich geschämt.“ Die Anhörung von Rackete fand am sechsten Jahrestag der Flüchtlingstragödie von Lampedusa statt, bei der 366 Menschen ums Leben gekommen waren. Während die Abgeordneten der Tragödie mit einer Schweigeminute gedachten, betonte Rackete, dass sich seitdem nicht viel geändert habe.
Die deutsche Aktivistin schilderte in eindringlichen Worten ihre Erfahrungen als Seenotretterin, etwa als ihr Schiff auf ein Wrack traf, um das herum Leichen trieben. Einige hätten einander in den Armen gehalten, als sie starben, „die Körper untrennbar verbunden“. Sie habe auch drei Kinder gesehen, „die die Leiche eines Babys im Arm hielten. Dann sangen einige für dieses Baby und schaukelten es, als wäre es noch am Leben.“
Keine dieser Erfahrungen sei aber so schlimm gewesen wie die „Frustration“, 70 Tage lang mit geretteten Menschen auf der „Sea-Watch 3“ im Mittelmeer unterwegs zu sein „und den Menschen zu erklären, dass Europa sie nicht wollte, Europa, das Symbol der Menschenrechte“. Rackete verteidigte in diesem Zusammenhang neuerlich ihre Entscheidung, den Hafen von Lampedusa anzusteuern. „Das war keine Provokation“, so Rackete. „Das hätte ich viel früher tun sollen”, sagte Rackete und verwies auf den Schutz von Menschenleben. „Ja, ich würde es jederzeit wieder tun. Menschen sterben jeden Tag, natürlich würde ich es wieder tun“, antwortete sie später auf eine entsprechende Frage.

Bei ihrer Landung gegen den Willen der italienischen Regierung in Lampedusa habe sie „viel ungewollte Aufmerksamkeit“ bekommen, so Rackete vor den Abgeordneten. „Aber wo waren Sie, als wir nach Hilfe gerufen haben, über alle möglichen Kanäle, wo waren Sie, als wir nach einem sicheren Ort gefragt haben? Man hat mir Tripolis genannt, die Hauptstadt eines Landes, in dem Bürgerkrieg herrscht“, kritisierte sie. „Wenn wir wirklich besorgt sind über Folter in Libyen, muss Europa die Kooperation mit der libyschen Küstenwache einstellen“, forderte Rackete unter dem Applaus der Abgeordneten.
In ihrer Rede erinnerte Rackete an die Flüchtlingstragödie mit Hunderten Toten vor Lampedusa. „Sechs Jahre sind vergangen, und statt dass ähnliche Tragödien vermieden werden, hat die EU ihre Verantwortung externalisiert und an Libyen delegiert, wobei Völkerrecht gebrochen wird.“ Es gebe aber „Hoffnung“, nämlich die Aktionen der zivilgesellschaftlichen Organisationen.

Rackete forderte einen radikalen Systemwandel im Umgang mit Migration. Eine Reform von Dublin sei „längst überfällig“, es brauche humanitäre Korridore und sichere und legale Routen nach Europa. „Eine Anlandung von geretteten Personen muss sich an das Recht halten und darf nicht Ad-hoc-Verhandlungen anheimgestellt werden.“

„Nach meiner Verhaftung gab es großes Interesse an der Seenotrettung. Ich hoffe, dass sich das in den Taten widerspiegeln wird. Ich hoffe auf echten Fortschritt und nicht, dass es für mich und viele Organisationen noch schwieriger wird”, so Rackete. „Wir müssen vorsichtig sein, was in den nächsten Wochen verhandelt wird, und sichergehen, dass unsere Forderungen durchgesetzt werden”, forderte sie die Abgeordneten auf.
In der Anhörung machten Vertreter von Frontex, EU-Kommission, EU-Grundrechteagentur sowie der italienische Küstenwache-Kapitän Andrea Tassara klar, dass die Rettung von Flüchtlingen im Mittelmeer nicht kriminalisiert werden dürfe. In der Debatte zeigten sich aber Differenzen. So pochten konservative Abgeordnete darauf, den Schleppern das Handwerk zu legen. Frontex-Direktor Fabrice Leggeri wich mehrmals der Frage aus, ob er Libyen als sicheren Drittstaat ansieht.
Der Direktor für Migration der EU-Kommission, Michael Shotter, wies darauf hin, dass seit Juni im Rahmen von Ad-hoc-Aktionen bereits über 1.000 Menschen an Land gehen konnten und an andere Mitgliedsstaaten sowie Norwegen verteilt wurden. „Wir brauchen jetzt einen zuverlässigen und ständigen Such- und Rettungseinsatz anstelle von Ad-hoc-Aktionen“, sagte Shotter. Daher sei es „wichtig“, dass sich nach der Einigung von Malta weitere Mitgliedsstaaten daran beteiligen und „Solidarität“ zeigen.
Der Vorsitzende des Innenausschusses, der spanische Sozialist Juan Fernando Lopez Aguilar, pochte ebenfalls auf klare Regeln, die eine Kriminalisierung von Seenotrettung verhindern. Der Ausschuss werde diesbezüglich eine Entschließung ausarbeiten, die dann bei der kommenden Plenartagung des Europaparlaments angenommen werden soll.

Einen Kontrapunkt setzten Abgeordnete von rechtspopulistischen Parteien wie der Slowake Milan Uhrik, der Rackete selbst die Ausreise nach Afrika nahelegte. „Ich kann mich mit (dem früheren italienischen Innenminister Matteo, Anm.) Salvini nur identifizieren, der sagt, Sie sollten im Gefängnis sitzen“, sagte der Abgeordnete der Partei „Volkspartei – Unsere Slowakei“. Der deutsche Rechtspopulist Nicolas Fest legte nach, indem er Rackete fragte, ob sie es als Teil ihrer Aufgabe sehe, das Leben der Europäer „durch das Einschleusen von Folterern und Terroristen zu gefährden“. ÖVP-Delegationsleiterin Karoline Edtstadler übte in der Debatte wenig verhüllte Kritik an den Aktivitäten der Seenotretter. Man müsse das „Schleppergeschäft beenden“, sagte sie. „Ich frage mich einfach, wie wir dieses Geschäft beenden wollen, wenn die Rettung immer noch das Ticket nach Europa ist“, so die Ex-Staatssekretärin über die Frage nach dem „Pull-Faktor“ durch Rettungsaktionen. Die EU solle sich nicht in gute und schlechte Staaten „auseinanderdividieren lassen“, Edtstadler forderte die Etablierung eines Systems, „das nicht den Falschen in die Hände spielt“.

SPÖ-Europaabgeordnete Bettina Vollath forderte ein Ende der Kriminalisierung von Seenotrettern. „Es kann niemals und unter keinen Umständen kriminell sein, Menschen in Not zu helfen, sondern es ist eine moralische und rechtliche Verpflichtung“, betonte sie in einer Aussendung unter Verweis auf aktuelle Zahlen der Vereinten Nationen, wonach heuer bereits über 1.000 Menschen im Mittelmeer ertrunken seien und seit Anfang 2014 über 15.000 Menschen. „Es braucht legale Einreisewege, schnelle und rechtssichere Verfahren und Hilfe vor Ort, um die Fluchtursachen zu bekämpfen“, betonte sie.
Monika Vana, Österreichs Delegationsleiterin der Grünen, will ein EU-Seenotrettungsprogramm auf den Weg bringen. „Das Mittelmeer ist ein Massengrab für Schutzbedürftige, das ist eine Schande für die gesamte EU“, so Vana zu ORF.at. Sie sei für legale und sichere Einreisemöglichkeiten in die EU. Schleppern müsse das Handwerk gelegt und sichere Fluchtmöglichkeiten geschaffen werden. Der EU-Rat müsse unbedingt dem Frontex-Fonds „Search and Rescue zustimmen, der vorgestern vom Budgetausschuss des Europaparlaments vorgeschlagen wurde“, forderte Vana.
Laut dem EU-Abgeordneten Erik Marquardt von den deutschen Grünen wurde die „humanitäre Hilfe Teil eines politischen Spiels”: „Die EU sollte Schiffe ins Mittelmeer schicken, um Menschen zu retten. Das ist nicht nur eine Verantwortung der Kommission, sondern von jedem Mitgliedsstaat. Es sind nicht nur die Menschen, die im Mittelmeer ertrinken, sondern auch unsere europäischen Werte“, so Marquardt. (Quelle: https://orf.at/stories/3139594/)

“Hilfe vor Ort”

Europäisches Tagebuch, 25.9.2020: Ein ORF-Bericht über Lesbos. Späte Stunde. Danach kann man nicht gut schlafen.
Der bestbezahlte Türsteher der Nation, Österreichs Innenminister Nehammer landet mit dem dicksten Flugzeug, das er von den Russen mieten konnte, in Griechenland. Er bringt 55 Tonnen „Hilfsgüter“ und Polizisten. Er steht breitbeinig vor der Kamera und spricht von „Hilfe vor Ort“. Wir kennen das schon. Und er macht nun auch ganz deutlich, was er damit meint.
Es geht nicht um Hilfe für die Menschen, die seit Monaten, zum Teil seit Jahren auf der Insel gefangen gehalten werden. Es geht darum, den Griechen dabei zu helfen, sie weiter schlecht zu behandeln, zur Abschreckung. Mit den österreichischen Zelten soll ein neues Lager errichtet werden, sieben Kilometer entfernt, weit weg von jeder anderen Siedlung, noch besser kontrollierbar, noch abschreckender als es Moria schon war. Aber zumindest für den Anfang mal ein bissel ordentlicher und sauberer. Bis die Presse wieder abgezogen ist und man die Menschen wieder im Dreck allein lassen kann, der sich im Herbst von selber einstellt.
Die Menschen, die nun mit „sanftem Druck“ wie es heißt, in das neue Lager gezwungen werden, müssen ihre wenige Habe, auf Paletten, Kisten oder Brettern geschnallt, selber auf der Straße den kilometerlangen Weg ins neue Lager ziehen. Auch diese Bilder wird man so schnell nicht vergessen. Zumindest weiß man jetzt, wie sich Österreich „Hilfe vor Ort“ vorstellt.
Der Provinzgouverneur der Inseln erklärt dem ORF indessen, wie man das auf Lesbos so sieht: man danke Österreich für seine Bemühungen, aber Zelte hätte man schon selber gehabt, diese Hilfe hätte man gar nicht gebraucht. Worauf man auf den Inseln wartet ist, dass Europa die Flüchtlinge endlich unter den Mitgliedsstaaten verteilt. Nun ja, die griechische Regierung könnte sie natürlich auch aufs Festland nehmen, aber in dieser Frage ist sich die griechische Regierung und die europäische Koalition der Unwilligen einig.
Bundeskanzler Kurz hat solche Lager auf griechischen Inseln schon vor Jahren gefordert. Und Österreichs sprachschöpferisch so begabter Ex-Innenminister Kickl hatte auch einen originellen Namen dafür: „Konzentrierungslager“. Sage da nur einer, Österreich und manche anderen EU-Staaten hätten aus der Geschichte nichts gelernt.

Postcriptum am 30. September 2020: Heute berichten die Nachrichten davon, dass die “55 Tonnen Hilfsgüter” niemals auf Lesbos angekommen sind. Sie sind irgendwo auf dem griechischen Festland verräumt. Die griechische Regierung weiß nicht, was sie mit den 400 Zelten anfangen soll. Wie schon gesagt: “Zelte haben wir…”

“Aura des Gespenstischen”

Europäisches Tagebuch, 11.9.2020: Tausende Flüchtlinge aus dem Lager Moria campieren nun auf der Straße im Dreck. Deutschland und Frankreich, und einige weitere europäische Länder wollen 400 Kinder und Jugendliche aufnehmen. Österreich ist bereit, ein paar Decken und Zelte zu schicken. Außenminister Schallenberg hat vorgestern dem österreichischen Konzert der Schande seinen ganz eigenen Ton hinzugefügt. Jovial wie immer, in gewählten Worten, bestätigt er Interviewer Armin Wolff in der Nachrichtensendung ZIB 2, dass das Elend auf den griechischen Inseln seinen Zweck hat: Abschreckung. Und daran wolle man auch in Zukunft nichts ändern. „Genau diese Ruhe und Sachlichkeit“ verleiht seinem Auftritt, wie Irene Brickner im Standard schreibt, eine „Aura des Gespenstischen und Unsagbaren“. Er redet wie ein gut gelaunter, netter, freundlicher Herr, der ganz und gar mit sich im Reinen ist. Nur redet er über Geiselnahme, Kindesmisshandlung, Nötigung und Körperverletzung mit Todesfolge. Halt über die Dinge mit denen er und seine Kollegen sich derzeit in die Gewaltgeschichte Europas einschreiben. Armin Wolff hatte keine Chance, diesen „Panzer aus Beamtenmentalität und Flüchtlingsabschreckung“ aufzubrechen, so Brickner. Anderen europäischen Politikern platzt derweil langsam der Kragen. Deutschlands konservativer Innenminister Seehofer “wundert sich”. Jan Asselborn, Luxemburgs Außenminister redet Klartext: „Ganz Europa ging Kurz‘ Gerede auf den Leim, man müsse nur die Grenzen schließen, damit sich das Flüchtlingsproblem erledige.“ Selbst der Kronen-Zeitung geht das alles inzwischen zu weit. Und sie zitiert geradezu angewidert den österreichischen Kanzler: „Wieso sind uns die Kinder auf den griechischen Inseln näher als die in Venezuela?“ Ja warum wohl?

Wenn sich die Hölle auftut

Europäisches Tagebuch, 9.9.2020: Heute ganz ohne Contenance und Diplomatie. Nackt und fassungslos. Das Lager Moria existiert nicht mehr. Ein Großbrand hat das Flüchtlingslager auf Lesbos vernichtet, wo seit Jahren tausende von Menschen als Geiseln europäischer Politik eingesperrt sind. Set Monaten leben dort 13.000 Menschen in Unterkünften, dass für einen Bruchteil von ihnen Platz hat. Unter unmenschlichen Bedingungen, heillos überfüllt, ohne sanitäre Versorgung, notdürftig am Leben gehalten von NGOs und den Vereinten Nationen, die sich dafür von den Verbrechern, die uns heute regieren auch noch beschimpfen lassen müssen. Österreich zahlt immerhin auch etwas, für die Bewachung dieser Menschen durch griechische Polizei. 13.000 Menschen, darunter Kinder, Kranke, alles was dazu gehört, wurden dort wie Vieh gehalten, als Abschreckung gegen alle, die womöglich noch an Europas „Werte“ (sei es moralische, sei es materielle) glaubten.

Seit Monaten warnen NGOs davor, dass irgendwann Corona im Lager ausbrechen wird. Weitgehend abgeschlossen vom Rest der Welt, war Moria eine Zeitlang von Corona verschont. Doch vor einer Woche gab es den ersten schweren Fall und zahlreiche Ansteckungen. Angst breitete sich aus, vor Infektionen und erst Recht vor der „Quarantäne“, denn niemand darf mehr das Lager verlassen. Einigen gelang es dennoch in die umliegenden Hügel zu fliehen. Erst Recht fürchten die Flüchtlinge, in neu geplante, hermetische Gefängnislager irgendwo auf Lesbos oder Chios verfrachtet zu werden, den Rest von Selbstbestimmung und Würde zu verlieren.

In der Folge kam es zu Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Flüchtlingsgruppen. Irgendwann ist die aufgestaute Verzweiflung von vielen Monaten Hoffnungslosigkeit und Quälerei in nackte Panik umgeschlagen.
Die Populisten Europas haben es geschafft, die Lage zur Explosion zu bringen. Das Lager ist abgebrannt.
In den mit Menschen vollgestopften Unterkünften gibt es unzählige potentielle Gefahren. Aber es ist von Brandstiftung ist die Rede, und es würde niemand wundern. Wer keine andere Wahl mehr hat, der zündet sich als letztes Mittel eben selber das Dach über dem Kopf an.

Österreichs Innenminister nutzt die Katastrophe für weitere Hetze: „Gewaltbereite Migranten haben kein Recht auf Asyl in Europa.“ Das lässt das schlimmste befürchten. Auf den Zynismus der letzten Monate und Jahre folgt wohl noch ärgerer Zynismus. Aus ihm spricht die nackte Menschenverachtung. Wie kann sich so ein Mensch morgens noch in den Spiegel schauen? Aber vielleicht haben die Nehammers und Kurz und wie sie alle heißen ihre Spiegel inzwischen abgehängt.

“Symbolpolitik”

Europäisches Tagebuch, 12.9.2020: Der österreichische Kanzler postet eine Videobotschaft. Das hat für ihn den unbestreitbaren Vorteil, sich keine unbequemen Fragen von aufsässigen Journalisten mehr gefallen lassen zu müssen. Das Lügen fällt noch leichter so.
Es können ja nicht jedes Jahr mehr hier ankommen, sagt er. Doch es werden seit Jahren immer weniger. 2019 wurden so wenige Asylanträge gestellt, wie kaum zuvor seit dem Jahr 2000.

Einmal mehr bekräftigt er seine Weigerung, unbegleitete Kinder oder irgendjemand anderes aus dem zerstörten Lager Moria aufzunehmen. Und demonstriert dabei eine eigensinnige Version von „Moral“. „Dieses menschenunwürdige System aus 2015, das kann ich mit meinem Gewissen nicht vereinbaren.“ Von welchem „System“ spricht er? Von welchem Gewissen?
Man werde stattdessen „vor Ort helfen, damit eine menschenwürdige Versorgung sichergestellt ist.“ Dazu hatte man inzwischen jahrelang die Möglichkeit. Und Österreich hat keinen Finger gerührt. Denn die Verhältnisse in Moria sollten ja als Abschreckung dienen, und konnten deswegen gar nicht menschenunwürdig genug sein. Die Forderung nach mehr humanitärem Engagement Österreichs „vor Ort“ hat Sebastian Kurz schon als Außenminister und erst recht als Bundeskanzler bislang nur rhetorisch interessiert. Geschehen ist so gut wie nichts. Nun fordert er ein „einen ganzheitlichen Ansatz“. Was meint er damit? „Symbolpolitik“ lehnt er ab, womit er offenkundig die bescheidenen (beschämenden?) Versuche Deutschlands, Frankreichs und einiger anderer europäischer Staaten (incl. der Schweiz) meint, wenigstens ein paar hundert Kinder aus dem Inferno auf Moria zu befreien.

Das ist der gleiche Mann, der bei Gedenkfeiern für die Opfer der Shoah pflichtschuldig ernst dreinschaut, wenn der Talmud zitiert wird: „Wer ein Menschenleben rettet, rettet die ganze Welt.“ Ob das wirklich stimmt weiß ich auch nicht. Aber jedes aus dem Dreck von Lesbos gerettete Kind wird es zumindest so empfinden.

Tausende von Flüchtlingen campieren dort nach wie vor im Freien. Aber auch für Salzburgs Landeshauptmann Haslauer sind die 13.000 Flüchtlinge nur ein kollektiver Brandstifter und Erpresser, der sein Haus angezündet hat, „damit (sein) Nachbar (ihn) aufnehmen muss“. Und dem man deswegen auch nicht helfen soll. Diese kranke Logik ist derzeit nicht nur in Österreichs Regierung, sondern vor allem in sozialen Netzwerken verbreitet. Hat es Sinn dagegen noch irgendwie zu argumentieren? Mit so hilflosen Sätzen wie:
Die meisten Menschen dort haben überhaupt nichts angezündet, sondern nur ein paar von ihnen. Und war es In Österreich nicht bislang üblich, Kinder aus einem Haus zu retten, auch wenn einer der Hausbewohner vielleicht ein Brandstifter war? Die Menschen in Moria haben aber gar nicht in einem „Haus“ gewohnt, sondern waren gegen ihren Willen in ein Lager gesperrt. Und sie wurden dort unter Bedingungen „gehalten“, von denen jeder und jede wusste, dass sie irgendwann zu einer Explosion der Verzweiflung führen musste. Am Ende kam Corona ins Lager und die nackte Panik.
Wie will man überhaupt miteinander reden, wenn solche einfachen Wahrheiten keine Rolle mehr spielen? Aber genau darum geht es ja. Hier soll nicht miteinander geredet werden. Deswegen ja auch eine Videobotschaft.

„Die Förderung der Menschenrechte ist der Europäischen Union ein stetes Anliegen“

Ausstellungsinstallation Menschenrechte. Foto: Dietmar Walser

Die 1950 formulierte Europäische Menschenrechtskonvention soll individuelle Menschenrechte vor staatlicher Willkür schützen. Über ihre Umsetzung wacht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Eine der Schlüsselfiguren bei der Einrichtung des Gerichtshofes war Hersch Zwi Lauterpacht (1897–1960) aus dem galizischen Żółkiew. Nach seinem Studium bei Hans Kelsen, dem Staatsrechtler, Rechtsphilosophen und Mitgestalter der österreichischen Bundesverfassung von 1920, übersiedelte Lauterpacht nach London. Dort entwickelte er sein Konzept der Menschenrechte. 

Lauterpacht hatte fast seine ganze Familie in der Schoa verloren. Er definierte die „Aufgabe humanen Regierens“ als Gewährleistung der „natürlichen und unveräußerlichen Menschenrechte“. Als Berater der britischen Ankläger im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher 1945–46 entwickelte Lauterpacht den Rechtsbegriff des „Verbrechens gegen die Menschheit“ als Verletzung des Völkerrechts. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UN hingegen war vor allem das Werk des französisch-jüdischen Juristen René Cassin (1887-1976), des späteren Präsidenten des Europäischen Menschengerichtshofes. Für sein Engagement erhielt er 1968 den Nobelpreis.

^ Hersch Lauterpacht, Trinity College, Cambridge, UK, 1958, © The Lauterpacht Centre for International Law, Cambridge, UK

< Straßenbahn-Station „Droits de l’Homme“ vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, Straßburg 2016, © Rainer Unkel/picturedesk.com

> Griechische Polizei bewacht die türkisch-griechische Grenze, 29. Februar 2020, © Emrah Gurel/APA/picturedesk.com

2012 stellte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in einer Grundsatzentscheidung fest, dass im Falle von Abschiebungen/Rückführungen von Flüchtenden 

  • „gemäß Art. 3 der europäischen Menschenrechtskonvention der rückführende Staat eine Misshandlung im Zielland verhindern muss 
  • die Inkaufnahme einer Weiterschiebung in das folternde Herkunftsland gegen Art. 3 der europäischen Menschenrechtskonvention verstößt 
  • Kollektivausweisungen auch auf hoher See und von Bootsflüchtlingen gegen Art. 4 des Protokolls 4 der Europäischen Menschenrechtskonvention verstoßen 
  • Bootsflüchtlingen gegen ihre Rückschiebung Rechtsmittel gemäß Art. 13 der europäischen Menschenrechtskonvention zustehen“.

Die Verwirklichung der 2007 im Vertrag von Lissabon formulierten Verpflichtung der Europäischen Union, selbst der Europäischen Menschenrechtskonvention beizutreten, wird – trotz wiederholter Bekenntnisse dazu – bis heute blockiert. Liegt dies daran, dass dann auch ein unabhängiges Kontrollorgan das Handeln und die Glaubwürdigkeit der Mitgliedstaaten hinterfragen müsste?

Gerald Knaus (Berlin) über die Flüchtlingspolitik Europäischer Staaten:

Europas Grenzen

Ausstellungsinstallation Europas Grenzen. Foto: Dietmar Walser

„Wir konnten reisen ohne Pass und Erlaubnisschein, wohin es uns beliebte, niemand examinierte uns auf Gesinnung, auf Herkunft, Rasse und Religion.“ Als Stefan Zweig 1941 im brasilianischen Exil seine etwas idealisierten „Erinnerungen eines Europäers“ fertigstellte, hatte er eine radikal veränderte Realität in Europa vor Augen. 
Schon 1938 hatte die Schweiz ihre Grenzen vor den immer zahlreicheren jüdischen Flüchtlingen aus Deutschland geschlossen und verweigerte ihnen politisches Asyl. Der St. Galler Polizeihauptmann Paul Grüninger rettete in der Zeit von 1938 bis 1939 hunderten von ihnen das Leben, auch durch die gefälschte Datierung von Grenzübertritten. 1939 wurde er vom Dienst suspendiert und verurteilt und erst 1995 von der Schweiz rehabilitiert. Während Grüninger als Flüchtlingshelfer geehrt wird, werden heute viele Helfer erneut kriminalisiert.

Eine der großen Errungenschaften der Europäischen Union ist das Schengener Abkommen von 1985, das die Abschaffung der Grenzkontrollen innerhalb der EU ermöglicht. 

Auch nicht-EU-Länder wie die Schweiz, Liechtenstein, Island und Norwegen nehmen inzwischen am Abkommen teil. An der österreichisch-schweizerischen Grenze bei Hohenems gehört der kleine Grenzverkehr in beide Richtungen längst zum Alltag. 
Auch Rumänien, Bulgarien und Kroatien sollen dem Schengen-Raum beitreten. Manche Branchen, wie die Landwirtschaft, die Baubranche oder die Pflegedienste sind auf „Wanderarbeiter“ aus Süd-Osteuropa inzwischen existentiell angewiesen.

< Die Paul Grüninger Brücke, von der Schweiz aus Richtung Grenzübergang Hohenems, 2020, © Dietmar Walser, Jüdisches Museum Hohenems

> Im Sommer 2015 von Ungarn errichtete Grenzzäune zwischen Ungarn und Serbien, © Attila Kisbendedek/AFP

Anlässlich der Beitrittsverhandlungen zur EU wurde auch Serbien 2009 der kontrollfreie Zugang zum Schengenraum gewährt. Das sollte sich nach der Flüchtlingsbewegung Richtung EU ändern. Zahlreiche Länder u. a. auch Österreich und Deutschland führten die Grenzkontrollen wieder ein. Und Ungarn, in das im Sommer 2015 ca. 160.000 Flüchtlinge gelangten, errichtete an seiner „EU-Außengrenze“ zu Serbien einen 300 km langen und bis zu 4 Meter hohen Stacheldrahtzaun.

Inzwischen hat sich der Fokus der EU auf die Außengrenze zwischen Griechenland und der Türkei verlegt. Mehr als 4 Millionen Kriegsflüchtlinge leben in der Türkei. Im Rahmen des „EU-Türkei Abkommens“ erhielt diese von der EU finanzielle Unterstützung, um die Flüchtlingsbewegung in die EU einzudämmen. Nach Ablauf des Abkommens brachte die Türkei Ende Februar 2020 Flüchtlinge an die Grenze, um Druck auf die EU auszuüben. Griechenland setzte daraufhin das Recht auf Asyl zunächst für ein Jahr aus, was offen gegen die EU-Menschenrechts- und die Genfer Flüchtlingskonvention verstieß. 

Die „Wanderarbeit“ in Europa hingegen offenbart ihre Schattenseiten: schlechte Bezahlung, schwierige Arbeitsbedingungen und menschenunwürdige Unterbringung wurden im Zeichen von Corona unverhofft als Problem der ganzen Gesellschaft erkannt.

Rainer Münz (Wien) über Wanderarbeit in Europa: