Die Lümmel von der ersten Bank

Europäisches Tagebuch, 16.9.2020: Meine ersten Kinoerlebnisse waren „Hurra, hurra die Schule brennt“ und „Die Lümmel von der ersten Bank“. Verzogene Bengel aus wohlhabenden Familien, die man trotzdem irgendwie mochte. Wirkliche Rebellen waren das allerdings nicht. Wenn die Streiche nichts halfen, dann musste Pepe Nietnagels Vater halt den Direktor der Schule bestechen.
Nicht lustig hingegen ist das, was die Schulbuben in der österreichischen Regierung treiben. Nicht einmal einen halbwegs plausiblen Antrag an die EU-Kommission können sie schicken, wenn sie von den möglichen Ausnahmeregelungen in Sachen Wettbewerbsgerechtigkeit in der EU profitieren wollen. Eigentlich wichtig genug, um sich ein bissel Mühe zu geben.
Schon vor einigen Tagen hat Finanzminister Gernot Blümel mal wieder auf die EU geschimpft, weil sie die Verlängerung und Ausweitung der großzügigen Wirtschaftshilfen an notleidende Betriebe (Fixkostenzuschüsse) blockieren würden. Nun traf man sich gestern in Wien, interessanter Weise vor eingeladenen Pressevertretern, um die Unstimmigkeiten mit dem EU-Vertreter in Wien, Martin Selmayr, zu besprechen. Der Austria Presseagentur und dem Standard verdanken wir nähere Einblicke in eine, aus österreichischer Sicht wohl ziemlich missglückte Übung in Message Control. Martin Selmayr nämlich war sichtlich not amused, auch darum, weil er statt zunächst einmal die Einwände der EU erläutern zu dürfen, als letzter drankam. Die Lümmel von der ersten Bank mussten erst einmal der Presse ihre eigene Interpretation der finsteren EU-Machenschaften zum Besten geben. Martin Selmayr, selbst ein durchaus konservativer Politiker, musste sichtlich an sich halten, damit ihm nicht der Kragen platzte. Und wies die Schulbuben darauf hin, dass sie einfach nur einen rechtlich sauberen Antrag stellen müssten. 

Und das im Übrigen eigentlich heute, also gestern, der letzte Tag dafür sei. Zeit genug die Hausaufgaben zu machen, sei seit Anfang August gewesen, als die Bedenken der EU-Kommission dem österreichischen Finanzminister übermittelt wurden. „Wenn heute die Notifizierung so erfolgt, wie von Frau Vestager (der Wirtschaftskommissarin) vergangenen Freitag angeregt, dann ist das morgen erledigt“, sagte Selmayr. Ein entsprechender Antrag sei, „wenn sich drei intelligente Leute zusammensetzen, innerhalb einer halben Stunde“ gemacht. Er wünsche sich, dass Finanzministerium und Kommission, „das heute Nachmittag noch hinbekommen“. Und bietet wirksame Nachhilfe an: Es gebe drei Lösungsmöglichkeiten, auch „wenn es am letzten Tag recht knapp“ sei. Dann ließ es sich Selmayer doch nicht nehmen, den ursprünglichen Antrag Blümels im Detail zu zerpflücken und öffentlich vorzuführen, was für eine unprofessionelle Schluderei da abgeliefert worden sei. Was wiederum Gernot Blümel und Tourismusministerin Elisabeth Köstinger nicht amüsierte. 

Selmayr erklärte ihnen coram publico wie man einen Antrag schreibt. Was in Zeiten des Lockdowns möglich war, nämlich alles auf eine Naturkatastrophe zu schieben und so zu tun, als gäbe es überhaupt keine Umsätze, das entspräche heute ja nicht mehr den Gegebenheiten. Die Grundlage für den Antrag müsse nun der Hinweis auf die schwere Wirtschaftskrise sein, die die Pandemie ausgelöst habe: „Dann kann die Kommission sofort genehmigen. Es geht darum: Können wir rechtlich zuverlässig vorübergehend Beihilfen genehmigen?“ Es sei schon besser, wenn man den Antrag gleich richtig formuliert, statt hinterher nachzubessern. 

Der ertappte Blümel wurde patzig. „Ich bitte Sie, hören Sie auf mit diesen Paragrafen; ich weiß schon, dass man auf Rechtliches achten muss“, so Blümel. „Es geht um österreichisches, nicht europäisches Steuergeld, das eingesetzt werden soll.“ 

Martin Selmayr bewies weiterhin seine Engelsgeduld und gab noch einmal den Rat, doch einfach zusammenzuarbeiten, statt stur an einem nicht genehmigungsfähigen Antrag festzuhalten. Und er gab auch den anwesenden Unternehmensvertretern recht, die ihr Leid klagten, und wiederholte ein ums andere mal, dass ihnen Hilfe zusteht, auch in der geplanten Höhe. Es müssten nur, ja auch die Schulbuben in Wien müssten halt einfach nur „ordentlich“ arbeiten, so wie jeder andere auch. 

Gernot Blümel zeigte sich offenkundig desinteressiert daran, dass gemeinsame und rechtswirksame Regeln in der EU auch für Österreich gelten, und zwar auch dann, wenn es um „österreichisches Steuergeld“ geht. Genau dafür sind diese gemeinsamen Regeln, von denen Österreich nicht zuletzt auf den ost- und mitteleuropäischen Märkten bis jetzt besonders profitiert hat, nämlich eigentlich da. 

Oder ist diese Lümmelei Kalkül, die Lust mit dem Feuer zu spielen um weiterhin EU-feindliche Stimmung anzufachen. Und ist es nicht besser die Probleme der österreichischen Regierung und ihrer Behörden mit den eh schon laufenden Förderprogrammen in der Krise kurzerhand Brüssel umzuhängen? Schließlich ist Wahlkampf in Wien.
Und wenn alles nichts hilft, dann kann ja der Papa den Direktor bestechen…

Ein bisschen mehr…

Europäisches Tagebuch, 18.9.2020:
Es geht doch. Oder jedenfalls ein bisschen. Frei nach Claude Juncker: „Ein bisschen mehr wäre etwas weniger weniger“.
Deutschland will nun offenbar zusätzlich 1553 Flüchtlinge aus dem abgebrannten Lager Moria aufnehmen. Lange Zeit gab es keine Bewegung zwischen Innenminister Seehofer und den insgesamt 150 deutschen Städten und Kommunen (incl. Berlin), die forderten, Flüchtlinge aufnehmen zu dürfen. Immer wieder war davon die Rede, dass es keinen deutschen Alleingang geben dürfe. Nach der Katastrophe auf Lesbos haben sich nun Kanzlerin Merkel, Innenminister Seehofer und Vertreter der SPD doch über ein anderes Vorgehen einigen können. Die mehr als 1500 Flüchtlinge aus Moria sollen insgesamt 408 Familien umfassen, darunter auch schon anerkannte Flüchtlinge, die trotz Asylstatus aufgrund der griechischen Asylpolitik und der immer noch hochgehaltenen „Dublin-Regeln“ auf Lesbos festsaßen. 
Das Problem ist in Wahrheit natürlich weitaus größer, denn die Zustände in den griechischen „Aufnahmelagern“ auf den Inseln war und ist nicht nur auf Lesbos katastrophal, sondern wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 16.9. berichtete auch auf Chios, Leros, Kos und nicht zuletzt auf Samos. Im dortigen Lager Vathy. Sind ebenfalls fast 7000 Menschen untergebracht. Ungefähr das zehnfache seiner Kapazität. Dass die im sogenannten EU-Türkei-Deal vereinbarte mögliche Rückweisung von Migranten, deren Asylantrag negativ beschieden wurde, nicht in Anwendung kam lag im übrigen, wie die FAZ trocken vermerkt, nicht in erster Linie an der Türkei, sondern vor allem daran, dass Griechenland auf den Inseln gar nicht erst die Ressourcen aufbaute, um die Asylanträge ordentlich prüfen zu können. So nahm eine fatale Entwicklung ihren Lauf, die in erster Linie das Leid der Flüchtlinge vergrößerte. Die FAZ berichtet von alarmierenden Zuständen. Eine Frau, die dort seit sechs Monaten mit Mann und Kleinkind ausharrt, erzählt von ihrer Rettung aus dem Meer durch die griechische Küstenwache – „vor allem aber von der Tortur danach: von einem Wohncontainer mit Betten ohne Matratzen, von täglich mehrstündigem Anstehen für die Mahlzeiten in Hitze, Regen oder Kälte. Von einer teilnahmslosen Polizei, die nicht eingreift, wenn Schwächere verprügelt oder bestohlen werden. Von einem einzigen Arzt für mehrere tausend Menschen – und vor allem von der Ungewissheit darüber, wie lange all das noch die eigene Lebenswelt bleiben wird.“ Im Lager wächst Frustration, Konkurrenz verschiedener Gruppen, deren Herkunft nicht immer kompatibel ist – schließlich kommt man aus Kriegsgebieten – und natürlich bricht sich die Verzweiflung gewaltsam Bahn, in Demonstrationen und Proteste gegen die Bewacher, und meistens gegeneinander. Wie soll es auch anders sein? Auch die Bewohner der naheliegenden Griechischen Orte demonstrieren, und auch sie bleiben nicht mehr immer friedlich.
Die Bürgermeister der Inseln fordern vergeblich Solidarität der Regierung auf dem Festland, Griechenland fordert, zumeist vergeblich Solidarität mit Europa, und selbst einem Hardliner wie Horst Seehofer platzt inzwischen der Kragen, wenn er an Österreich denkt, und erklärt im Spiegel-Interview: „Ich bin von der Haltung unserer österreichischem Nachbarn enttäuscht, sich an der Aufnahme einer überschaubaren Zahl von Schutzbedürftigen aus Griechenland nicht zu beteiligen. (…) Wenn wir nichts tun, stärken wir die politischen Ränder.“ Nun ja, der politische Rand ist längst im Wiener Kanzleramt angekommen.

Abschiebepatenschaften

Europäisches Tagebuch, 23.9.2020:
Die EU-Kommission unternimmt einen neuen Anlauf, die Asylpolitik der verschiedenen Mitgliedsländer zu koordinieren. Das grenzt angesichts der Haltung einiger Staaten schon an den Mut der Verzweiflung. Die Deutsche Welle berichtet unverdrossen: „Der Brand im Flüchtlingscamp Moria und die menschenunwürdigen Zustände auf Lesbos geben der Debatte “neuen Schwung” meinen EU-Beamte in Brüssel. Die Chefin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, hat angekündigt, dass das alte System, auch Dublin-Regeln genannt, durch etwas Neues ersetzt werden soll. Eine Verpflichtung für EU-Staaten, Flüchtlinge oder Asylbewerber aufzunehmen, wird wohl nicht enthalten sein, weil viele Mitgliedsstaaten dies schlicht verweigern würden.“
Mittlerweile hat Deutschland seine neue Zahl von 1500 schon ein kleine wenig relativiert. Hiermit sind nicht nur Menschen aus Moria gemeint, sondern von verschiedenen griechischen Inseln. Doch dort herrschen ja auch die gleichen unmenschlichen Bedingungen, die auf Lesbos zur Explosion geführt haben. Aber es bleibt trotzdem zusätzlich bei der schon angekündigten Aufnahme von 150 Kindern und Jugendlichen aus Moria. Frankreich nimmt ebenfalls 150, Italien immerhin 300 Menschen auf. Die Niederlande hingegen schummeln. Sie kündigen die Aufnahme von 100 Menschen aus Moria an – und vermindern um diese Zahl allerdings ihr UN-Kontingent. So kann man sich und die Welt auch belügen. Und Finnland nimmt 12 Jugendliche auf. Na denn.

Doch die EU-Kommission will nun über einen neuen „Migrations-Pakt“ reden. Das alte Dublin-System solle überwunden werden, kündigt EU-Kommissar Schinas an, meldet die Deutsche Welle: „Künftig könnten die Mitgliedstaaten wählen, ob sie Asylbewerber aufnehmen wollen oder lieber bei der Rückführung und Abschiebung von abgelehnten Asylbewerbern helfen wollen.“ Kommissionpräsidentin von der Leyen legt nach. Dieses System solle verpflichtend sein. Staaten wie Ungarn, Polen (oder Österreich), die sich an der Aufnahme von Flüchtlingen nicht beteiligen, sollen dann in Zukunft deren Rückführung organisieren. Und sich dabei an alle internationalen Vorschriften halten. Etwas, wofür diese zunehmend autoritär und illiberal regierten Staaten ja allgemein besonders bekannt sind. Aber auch die EU-Kommission hat nun offenbar auf Sarkasmus umgeschaltet, und nennt ihren neuen Vorschlag „Rückführungs-Patenschaften“. Nein, im Kalender nachschauen klärt das auch nicht auf. Heute ist nicht der 1. April.

Freunderldienste leicht gemacht

Europäisches Tagebuch, 24.9.2020: Finanzminister Blümel lässt es also drauf ankommen. Der österreichische Antrag wird nicht korrigiert. Der Wiener Wahlkampf ist ohnehin wichtiger als die Notstandshilfen für die leidende Wirtschaft. Und da es mit deren Verteilung eh nicht sehr rund läuft, ist es gut einen Sündenbock dafür zu haben: Brüssel.
Dabei hätte die EU-Kommission allen Grund, Österreich sehr viel deutlicher die Rute ins Fenster zu stellen, als sie es tut. Im Moment blühen nämlich Konstruktionen, die Korruption – oder zumindest Freunderldienste – geradezu planmäßig fördern.
Statt die Auszahlung von 15 Milliarden Hilfsgeldern für Unternehmen über das Finanzamt zu regeln, und damit unter öffentlicher Kontrolle durch Parlament und Rechnungshof, hat der Bund eine „Covid-19 Finanzierungsagentur“ als Gesellschaft mit beschränkter Haftung gegründet. Die Cofag soll der notleidenden Wirtschaft mit Fixkostenzuschüssen und Überbrückungsgarantien zur Seite stehen und wird vom Bund entsprechend finanziell aufgestellt. „Gemäß § 6a Abs. 2 ABBAG-Gesetz stattet der Bund die COFAG so aus, dass diese in der Lage ist, kapital- und liquiditätsstützende Maßnahmen, die ihr gemäß § 2 Abs. 2 Z 7 ABBAG-Gesetz übertragen wurden, bis zu einem Höchstbetrag von 15 Milliarden Euro zu erbringen und ihre finanziellen Verpflichtungen zu erfüllen.“ Der Vorteil dieser Konstruktion liegt auf der Hand: eine GesmbH ist schließlich dem Parlament nicht auskunftspflichtig.

Florian Scheuba meint dazu bissig im Standard: „Nicht nur Abgeordnete der Opposition können somit nicht mehr mit lästigen Fragen wie “Wer bekommt wie viel Steuergeld und warum?” nerven. Auch Antragsteller können sich die Bitte um Begründung, warum ihr Hilfsantrag abgelehnt wird, sparen, denn Cofag-Beiratsmitglieder sind zur Verschwiegenheit verpflichtet. Bleibt als letzte Hoffnung der Rechnungshof? Nein, denn auch dessen Ansinnen nach begleitender Kontrolle kann die Agentur mit einem herzhaften “Cofag yourself” abschmettern. Hier wird also gerade ein blickdichter Darkroom für künftige Mauscheleien geschaffen. Wie finster der wird, lassen die jüngsten Vorgänge rund um einen 800.000-Euro-Vertrag der Cofag mit einer zunächst geheim gehaltenen PR-Agentur erahnen. “Das Geld fließt nicht in Eigen-PR, sondern etwa in die Betreuung der Homepage oder die Beantwortung von Medienfragen”, meint Cofag-Geschäftsführer Bernhard Perner“.

Mal schauen, wieviele Medienanfragen es – angesichts der bekannt kritischen Presselandschaft in Österreich – so geben wird. 

Die Mär vom „christlich-jüdischen Abendland“

Europäisches Tagebuch, 28.9.2020: Kennen Sie den? Mayer will verreisen. Auf dem Bahnhof in Wien, schon auf dem Bahnsteig, fällt ihm ein, dass er noch schnell auf die Toilette muss. Er fragt herum: „Entschuldigung, können Sie mir sagen, sind Sie Antisemit?“ „Ich? Also, das ist eine Unterstellung. Ich liebe die Juden.“ „Schon gut, sie können mir offenbar nicht helfen.“ Und er wendet sich an den nächsten: „Verzeihung, sind Sie Antisemit?“ „Also wirklich, ganz und gar nicht. Ich liebe Israel, so ein wunderbares Land, so wehrhaft gegen…“ „Lassen Sie’s gut sein.“ Und wieder wendet er sich an den nächsten. „Bitte, können Sie mir sagen, sind Sie Antisemit?“ „Ja was, natürlich, die Juden herrschen überall, sogar das Wetter…“ „Vielen Dank, Sie sind ehrlich. Können Sie kurz auf meinen Koffer aufpassen?“

Österreichs „Integrationsministerin“ Susanne Raab liebt es, Deutschlands AfD liebt es, Viktor Orbán liebt es, Identitäre lieben es, Kanzler Sebastian Kurz liebt es, die CSU liebt es, Donald Trump und Martin Engelberg lieben es: das „christlich-jüdische Abendland“. HC Strache liebt sogar das „christlich-jüdisch-aramäische Erbe“. Aber das interessiert inzwischen kaum noch jemand.

Ich weiß nicht mehr genau, wann der jüdisch-christliche Dialog, der in den 1950er Jahren unter dem Eindruck der Schoa – und dem kritischen Nachdenken unter Christen – begonnen hat, von der Parole des „christlich-jüdischen Abendlandes“ vereinnahmt wurde.

In Deutschland war schon Ende der 1990er Jahre immer öfter davon die Rede. Gerne wurde auch die Aufklärung und das griechische Erbe herbeizitiert. Das einzige was fehlte, war der Islam. Als hätten nicht islamische Philosophen entscheidend dazu beigetragen, dass Europa sein griechisches Erbe im Mittelalter wiederentdeckt hat. Man konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, diese Leerstelle in der öffentlichen Identitätsrhetorik sei das einzig Reale an diesem Gerede.

2010 kam die Parole vom christlich-jüdischen Abendland auch in Wien an. Martin Engelberg, Herausgeber einer „jüdischen“ Zeitschrift und inzwischen türkisblauer Nationalrat und Israel-Experte des Kanzlers, beschwor das „judeo-christlichen Erbe“, und eine „gemeinsame jüdisch-christliche Wertegemeinschaft“ (nach 1000 Jahren christlicher Judenverfolgung), und warnte vor muslimischen Einwanderern.

Inzwischen ist die Rede vom „importierten Antisemitismus“ Gemeingut und dient vor allem als Rechtfertigung für eine rassistische, fremdenfeindliche, islamophobe Asyl- und Migrationspolitik. Und sie dient als Ablenkung von allem, was in dieses identitäre Weltbild nicht passt. Noch immer geht die größte Gefahr für Juden in Österreich und in Europa von Rechtsextremen aus, auch wenn sich manche Islamisten anstrengen, davon zu lernen. Noch immer muss man sich als Jude auch im Alltag bürgerlicher Kreise, der sogenannten Mitte der Gesellschaft, immer wieder gepflegte Ressentiments über jüdischen Einfluss auf dies oder jenes anhören.

Mehr denn je sind gerade die innigsten Freunde israelischer Politik, von Orbán, über Matteo Salvini bis Marie le Pen, von den Rechtspopulisten der Niederlande, Belgiens und der meisten osteuropäischen Staaten, jederzeit zu antisemitischen Ausritten gröberen Kalibers fähig.  Dann nämlich, wenn es nicht um Israel, also die Juden im Nahen Osten geht, die dort als Vorhut des „Abendlandes“ die Drecksarbeit für Europa und die USA erledigen, und dafür auch die Schläge abkriegen sollen. Sondern um Juden in aller Welt, die ihr Recht darauf verteidigen, in offenen Gesellschaften zu leben, in denen nicht Ethnie oder Religion darüber entscheiden, ob man bürgerliche, politische oder soziale Rechte genießt.

So hat man als Jude seine liebe Not damit, dass ausgerechnet Israel, als „jüdischer Staat“ von den Nationalisten dieser Welt inzwischen als Rechtfertigung für ihren eigenen Rassismus missbraucht wird, und sich gerne gebrauchen lässt. Und steht nun einer seltsamen Konstellation gegenüber, von glühenden Antisemiten und fanatischen „Freunden“ Israels: immer häufiger denselben Leuten.

Der „Kampf gegen Antisemitismus“, den die jetzige österreichische Regierung vollmundig ins Programm geschrieben hat, und erst recht das dort festgeschriebene Bekenntnis zu Israel als „jüdischem Staat“ (entscheidet eigentlich Österreich, ob Israel sich ethnisch-religiös oder säkular-pluralistisch definiert?), richtet sich in Wirklichkeit gar nicht gegen Antisemitismus sondern gegen alles, was als „zu weitgehende“ Kritik an Israel interpretiert werden kann. Das trifft, im Namen des „christlich-jüdischen Abendlandes“, natürlich nicht nur Muslime, die sich – wie christliche Fundamentalisten auch – zum „Kampf um Jerusalem“ aufstacheln lassen, sondern mindestens ebenso häufig Juden, also die Richtigen. Orbán hat es vorgemacht. Beraten von seinem Freund Benjamin Netanjahu hat er seine Macht mit einer Kampagne gegen die „jüdische Weltverschwörung“ von George Soros zementiert, der Europa mit muslimischen Einwanderern überfluten wolle.

In Deutschland kann man die segensreiche Tätigkeit eines staatlichen „Antisemitismusbeauftragten“ schon länger beobachten. Der denunziert inzwischen vor allem sogenannte „linksliberale“ Kritiker seiner Amtsführung (die meisten von ihnen jüdische und israelische Intellektuelle) als latent gewaltbereite „Antisemiten“. Solche Spezialisten bekommen wir in Österreich sicher auch bald.

Engel der Geschichte

Europäisches Tagebuch, 26.9.2020: Heute vor 80 Jahren nahm sich Walter Benjamin in Port Bou an der Grenze zwischen Frankreich und Spanien das Leben. Er war auf der Flucht vor den Nationalsozialisten, hatte die Grenze schon überwunden – und fürchtete, von den spanischen Grenzbeamten wieder ins besetzte Frankreich zurückgeschickt zu werden.

Wenige Monate zuvor, im Mai 1940, hatte er seinem Freund Stephan Lackner in Paris geschrieben:

„Man fragt sich, ob die Geschichte nicht im Begriff ist, eine geistreiche Synthese von zwei nietzscheanischen Begriffen zu schmieden, nämlich die des guten Europäers und die des letzten Menschen. Das könnte den letzten Europäer ergeben. Wir alle kämpfen darum, nicht zu einem solchen zu werden.“

Benjamins letzten bedeutender Text, seine Thesen über den Begriff der Geschichte, rettete Hannah Arendt für die Nachwelt. An seinen „Engel der Geschichte“ erinnert seit August in Hohenems, vor dem früheren Gasthaus Engelburg am Kreuzungspunkt der ehemaligen Judengasse und Christengasse, eine Skulptur von Günther Blenke. Inspiriert von dem Stück eines verbrannten Baumes, in den ein Blitz eingeschlagen ist.

Aufstellung der Brunnenplastik in Hohenems von Günther Blenke, am 8.8.2020. Foto: Julie Walser

In seinen „Thesen über den Begriff der Geschichte“ schrieb Walter Benjamin 1940:

„Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“

Danke an Günther Blenke – und Franz Sauer, der das Fragment des verbrannten Baumes im Wald geborgen hat.

Günther Blenke, Franz Sauer und der “Engel der Geschichte”. Foto: Julie Walser

Das Parlament probt den Aufstand

Europäisches Tagebuch, 7.9.2020: Auf die EU kommt ein ernster „Machtkampf“ zu. Das Europäische Parlament, also das einzige europäische Organ, das über eine europäisch-demokratische Legitimation verfügt, will sich dem Diktat der Regierungschefs nicht beugen. Das vollmundig verkündete Konjunkturpaket von 750 Milliarden Euro zur Eindämmung der Folgen der Corona-Pandemie, dass die EU-Kommission im Juli ausverhandelt hat, stand von Beginn an unter einem schlechten Stern: die Einigung der Kommissionsmehrheit mit den knausrigen vier, dann fünf EU-Staaten um Österreich und die Niederlanden wurde mit massiven Kürzungen im EU-Haushalt an anderer Stelle erkauft. Damit wollen sich die EU-Parlamentarier vieler Fraktionen keineswegs abfinden. So soll ausgerechnet das Programm „EU4Health“, das den Schutz vor grenzüberschreitenden Gesundheitsgefahren schützen und bezahlbare Medikamente besser verfügbar machen soll, von 9,4 Milliarden auf 1,7 Milliarden Euro gekürzt werden. Gemeinsame Programme für Forschung, Bildung, Klimaschutz und Digitalisierung sollen ebenfalls gekürzt werden. Und damit der Spielraum für grenzüberschreitende Zusammenarbeit eingeschränkt statt ausgeweitet werden. Europäisch gesinnte Abgeordnete der Grünen, der Sozialdemokraten, der Liberalen aber auch der konservativen Volkspartei aus verschiedenen Ländern sind durchaus bereit, vom Vetorecht des Parlaments Gebrauch zu machen. Der Grüne Abgeordnete Rasmus Andresen bringt die Möglichkeit ins Spiel, nur das Hilfspaket, nicht aber den Haushalt in dieser Form zu verabschieden, um den Druck nun in die andere Richtung zu erhöhen. Dazu gehört auch, ernsthaftere Sanktionen gegen solche Mitgliedsländer in den Budgetvollzug zu schreiben, die gegen rechtsstaatliche Standards verstoßen. Die EU-Parlamentarier verlangen außerdem, endlich ernsthaft die Eigeneinnahmen der EU zu erhöhen, durch eine wirksame Plastiksteuer, durch Digitalsteuern oder die Besteuerung von grenzüberschreitenden Gewinnen der Technologie-Riesen.

Dem EU-Parlament und der Kommission stehen noch schwierige Verhandlungen bevor. Das Bedürfnis des EU-Parlaments, von den „sparsamen“ Regierungschefs wird herumschubsen lassen, ist enden wollend. Selbst die „türkisen“ Abgeordneten aus Österreich haben in der Vergangenheit nicht gerade große Begeisterung über die Europa-feindliche Linie der österreichischen Regierung gezeigt. Aber man wird noch sehen ob den Worten z.B. eines Othmar Karas nun auch Taten folgen werden.

“Hilfe vor Ort”

Europäisches Tagebuch, 25.9.2020: Ein ORF-Bericht über Lesbos. Späte Stunde. Danach kann man nicht gut schlafen.
Der bestbezahlte Türsteher der Nation, Österreichs Innenminister Nehammer landet mit dem dicksten Flugzeug, das er von den Russen mieten konnte, in Griechenland. Er bringt 55 Tonnen „Hilfsgüter“ und Polizisten. Er steht breitbeinig vor der Kamera und spricht von „Hilfe vor Ort“. Wir kennen das schon. Und er macht nun auch ganz deutlich, was er damit meint.
Es geht nicht um Hilfe für die Menschen, die seit Monaten, zum Teil seit Jahren auf der Insel gefangen gehalten werden. Es geht darum, den Griechen dabei zu helfen, sie weiter schlecht zu behandeln, zur Abschreckung. Mit den österreichischen Zelten soll ein neues Lager errichtet werden, sieben Kilometer entfernt, weit weg von jeder anderen Siedlung, noch besser kontrollierbar, noch abschreckender als es Moria schon war. Aber zumindest für den Anfang mal ein bissel ordentlicher und sauberer. Bis die Presse wieder abgezogen ist und man die Menschen wieder im Dreck allein lassen kann, der sich im Herbst von selber einstellt.
Die Menschen, die nun mit „sanftem Druck“ wie es heißt, in das neue Lager gezwungen werden, müssen ihre wenige Habe, auf Paletten, Kisten oder Brettern geschnallt, selber auf der Straße den kilometerlangen Weg ins neue Lager ziehen. Auch diese Bilder wird man so schnell nicht vergessen. Zumindest weiß man jetzt, wie sich Österreich „Hilfe vor Ort“ vorstellt.
Der Provinzgouverneur der Inseln erklärt dem ORF indessen, wie man das auf Lesbos so sieht: man danke Österreich für seine Bemühungen, aber Zelte hätte man schon selber gehabt, diese Hilfe hätte man gar nicht gebraucht. Worauf man auf den Inseln wartet ist, dass Europa die Flüchtlinge endlich unter den Mitgliedsstaaten verteilt. Nun ja, die griechische Regierung könnte sie natürlich auch aufs Festland nehmen, aber in dieser Frage ist sich die griechische Regierung und die europäische Koalition der Unwilligen einig.
Bundeskanzler Kurz hat solche Lager auf griechischen Inseln schon vor Jahren gefordert. Und Österreichs sprachschöpferisch so begabter Ex-Innenminister Kickl hatte auch einen originellen Namen dafür: „Konzentrierungslager“. Sage da nur einer, Österreich und manche anderen EU-Staaten hätten aus der Geschichte nichts gelernt.

Postcriptum am 30. September 2020: Heute berichten die Nachrichten davon, dass die “55 Tonnen Hilfsgüter” niemals auf Lesbos angekommen sind. Sie sind irgendwo auf dem griechischen Festland verräumt. Die griechische Regierung weiß nicht, was sie mit den 400 Zelten anfangen soll. Wie schon gesagt: “Zelte haben wir…”

“Aura des Gespenstischen”

Europäisches Tagebuch, 11.9.2020: Tausende Flüchtlinge aus dem Lager Moria campieren nun auf der Straße im Dreck. Deutschland und Frankreich, und einige weitere europäische Länder wollen 400 Kinder und Jugendliche aufnehmen. Österreich ist bereit, ein paar Decken und Zelte zu schicken. Außenminister Schallenberg hat vorgestern dem österreichischen Konzert der Schande seinen ganz eigenen Ton hinzugefügt. Jovial wie immer, in gewählten Worten, bestätigt er Interviewer Armin Wolff in der Nachrichtensendung ZIB 2, dass das Elend auf den griechischen Inseln seinen Zweck hat: Abschreckung. Und daran wolle man auch in Zukunft nichts ändern. „Genau diese Ruhe und Sachlichkeit“ verleiht seinem Auftritt, wie Irene Brickner im Standard schreibt, eine „Aura des Gespenstischen und Unsagbaren“. Er redet wie ein gut gelaunter, netter, freundlicher Herr, der ganz und gar mit sich im Reinen ist. Nur redet er über Geiselnahme, Kindesmisshandlung, Nötigung und Körperverletzung mit Todesfolge. Halt über die Dinge mit denen er und seine Kollegen sich derzeit in die Gewaltgeschichte Europas einschreiben. Armin Wolff hatte keine Chance, diesen „Panzer aus Beamtenmentalität und Flüchtlingsabschreckung“ aufzubrechen, so Brickner. Anderen europäischen Politikern platzt derweil langsam der Kragen. Deutschlands konservativer Innenminister Seehofer “wundert sich”. Jan Asselborn, Luxemburgs Außenminister redet Klartext: „Ganz Europa ging Kurz‘ Gerede auf den Leim, man müsse nur die Grenzen schließen, damit sich das Flüchtlingsproblem erledige.“ Selbst der Kronen-Zeitung geht das alles inzwischen zu weit. Und sie zitiert geradezu angewidert den österreichischen Kanzler: „Wieso sind uns die Kinder auf den griechischen Inseln näher als die in Venezuela?“ Ja warum wohl?

Wenn sich die Hölle auftut

Europäisches Tagebuch, 9.9.2020: Heute ganz ohne Contenance und Diplomatie. Nackt und fassungslos. Das Lager Moria existiert nicht mehr. Ein Großbrand hat das Flüchtlingslager auf Lesbos vernichtet, wo seit Jahren tausende von Menschen als Geiseln europäischer Politik eingesperrt sind. Set Monaten leben dort 13.000 Menschen in Unterkünften, dass für einen Bruchteil von ihnen Platz hat. Unter unmenschlichen Bedingungen, heillos überfüllt, ohne sanitäre Versorgung, notdürftig am Leben gehalten von NGOs und den Vereinten Nationen, die sich dafür von den Verbrechern, die uns heute regieren auch noch beschimpfen lassen müssen. Österreich zahlt immerhin auch etwas, für die Bewachung dieser Menschen durch griechische Polizei. 13.000 Menschen, darunter Kinder, Kranke, alles was dazu gehört, wurden dort wie Vieh gehalten, als Abschreckung gegen alle, die womöglich noch an Europas „Werte“ (sei es moralische, sei es materielle) glaubten.

Seit Monaten warnen NGOs davor, dass irgendwann Corona im Lager ausbrechen wird. Weitgehend abgeschlossen vom Rest der Welt, war Moria eine Zeitlang von Corona verschont. Doch vor einer Woche gab es den ersten schweren Fall und zahlreiche Ansteckungen. Angst breitete sich aus, vor Infektionen und erst Recht vor der „Quarantäne“, denn niemand darf mehr das Lager verlassen. Einigen gelang es dennoch in die umliegenden Hügel zu fliehen. Erst Recht fürchten die Flüchtlinge, in neu geplante, hermetische Gefängnislager irgendwo auf Lesbos oder Chios verfrachtet zu werden, den Rest von Selbstbestimmung und Würde zu verlieren.

In der Folge kam es zu Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Flüchtlingsgruppen. Irgendwann ist die aufgestaute Verzweiflung von vielen Monaten Hoffnungslosigkeit und Quälerei in nackte Panik umgeschlagen.
Die Populisten Europas haben es geschafft, die Lage zur Explosion zu bringen. Das Lager ist abgebrannt.
In den mit Menschen vollgestopften Unterkünften gibt es unzählige potentielle Gefahren. Aber es ist von Brandstiftung ist die Rede, und es würde niemand wundern. Wer keine andere Wahl mehr hat, der zündet sich als letztes Mittel eben selber das Dach über dem Kopf an.

Österreichs Innenminister nutzt die Katastrophe für weitere Hetze: „Gewaltbereite Migranten haben kein Recht auf Asyl in Europa.“ Das lässt das schlimmste befürchten. Auf den Zynismus der letzten Monate und Jahre folgt wohl noch ärgerer Zynismus. Aus ihm spricht die nackte Menschenverachtung. Wie kann sich so ein Mensch morgens noch in den Spiegel schauen? Aber vielleicht haben die Nehammers und Kurz und wie sie alle heißen ihre Spiegel inzwischen abgehängt.

“Symbolpolitik”

Europäisches Tagebuch, 12.9.2020: Der österreichische Kanzler postet eine Videobotschaft. Das hat für ihn den unbestreitbaren Vorteil, sich keine unbequemen Fragen von aufsässigen Journalisten mehr gefallen lassen zu müssen. Das Lügen fällt noch leichter so.
Es können ja nicht jedes Jahr mehr hier ankommen, sagt er. Doch es werden seit Jahren immer weniger. 2019 wurden so wenige Asylanträge gestellt, wie kaum zuvor seit dem Jahr 2000.

Einmal mehr bekräftigt er seine Weigerung, unbegleitete Kinder oder irgendjemand anderes aus dem zerstörten Lager Moria aufzunehmen. Und demonstriert dabei eine eigensinnige Version von „Moral“. „Dieses menschenunwürdige System aus 2015, das kann ich mit meinem Gewissen nicht vereinbaren.“ Von welchem „System“ spricht er? Von welchem Gewissen?
Man werde stattdessen „vor Ort helfen, damit eine menschenwürdige Versorgung sichergestellt ist.“ Dazu hatte man inzwischen jahrelang die Möglichkeit. Und Österreich hat keinen Finger gerührt. Denn die Verhältnisse in Moria sollten ja als Abschreckung dienen, und konnten deswegen gar nicht menschenunwürdig genug sein. Die Forderung nach mehr humanitärem Engagement Österreichs „vor Ort“ hat Sebastian Kurz schon als Außenminister und erst recht als Bundeskanzler bislang nur rhetorisch interessiert. Geschehen ist so gut wie nichts. Nun fordert er ein „einen ganzheitlichen Ansatz“. Was meint er damit? „Symbolpolitik“ lehnt er ab, womit er offenkundig die bescheidenen (beschämenden?) Versuche Deutschlands, Frankreichs und einiger anderer europäischer Staaten (incl. der Schweiz) meint, wenigstens ein paar hundert Kinder aus dem Inferno auf Moria zu befreien.

Das ist der gleiche Mann, der bei Gedenkfeiern für die Opfer der Shoah pflichtschuldig ernst dreinschaut, wenn der Talmud zitiert wird: „Wer ein Menschenleben rettet, rettet die ganze Welt.“ Ob das wirklich stimmt weiß ich auch nicht. Aber jedes aus dem Dreck von Lesbos gerettete Kind wird es zumindest so empfinden.

Tausende von Flüchtlingen campieren dort nach wie vor im Freien. Aber auch für Salzburgs Landeshauptmann Haslauer sind die 13.000 Flüchtlinge nur ein kollektiver Brandstifter und Erpresser, der sein Haus angezündet hat, „damit (sein) Nachbar (ihn) aufnehmen muss“. Und dem man deswegen auch nicht helfen soll. Diese kranke Logik ist derzeit nicht nur in Österreichs Regierung, sondern vor allem in sozialen Netzwerken verbreitet. Hat es Sinn dagegen noch irgendwie zu argumentieren? Mit so hilflosen Sätzen wie:
Die meisten Menschen dort haben überhaupt nichts angezündet, sondern nur ein paar von ihnen. Und war es In Österreich nicht bislang üblich, Kinder aus einem Haus zu retten, auch wenn einer der Hausbewohner vielleicht ein Brandstifter war? Die Menschen in Moria haben aber gar nicht in einem „Haus“ gewohnt, sondern waren gegen ihren Willen in ein Lager gesperrt. Und sie wurden dort unter Bedingungen „gehalten“, von denen jeder und jede wusste, dass sie irgendwann zu einer Explosion der Verzweiflung führen musste. Am Ende kam Corona ins Lager und die nackte Panik.
Wie will man überhaupt miteinander reden, wenn solche einfachen Wahrheiten keine Rolle mehr spielen? Aber genau darum geht es ja. Hier soll nicht miteinander geredet werden. Deswegen ja auch eine Videobotschaft.

“Friedensabkommen”?

Europäisches Tagebuch, 15.9.2020: Israels Premier Netanjahu und der Außenminister der Vereinigten Arabischen Emirate Sheikh Abdullah bin Zayed Al Nahyan sowie der Außenminister von Bahrain Dr. Abdullatif bin Rashid Al-Zayan unterzeichneten heute Nachmittag in Washington im Beisein von Donald Trump einen sogenannten „Friedensvertrag“. Mund-Nasen-Schutz wird dabei nicht getragen, mit solchen Dingen möchte man sich im Weißen Haus nach wie vor nicht abgeben.

Der Unterzeichnung vorausgegangen sind noch bis in die letzten Stunden Kabbalen zwischen den israelischen Regierungsparteien um die Frage, wer den Vertrag überhaupt unterzeichnen darf. Der unter Anklage stehende Premier Netanjahu benötigte dazu eine Erlaubnis des Außenministers der rivalisierenden Partei Kahol Lavan

Der Wortlaut des „Friedensabkommens“ – zwischen drei Staaten, die sich gar nicht im Krieg miteinander befinden – bleibt weiterhin ein Rätsel, denn bislang werden nur Gerüchte über dessen Inhalt verbreitet. Klar ist jedenfalls, dass der Vertrag offenbar den Weg frei macht für eine Reihe von größeren Waffendeals, darunter die Lieferung von amerikanischen F-35 Kampfjets an die VAE, die deren strategische Rolle am Golf deutlich aufwerten. Angeblich würde der Vertrag auch den Weg zu einer „Zwei-Staatenlösung“ offenhalten. Was die Trump-Administration allerdings unter einer solchen „Zwei-Staatenlösung“ versteht, haben Israelis und Palästinenser, wie auch die erstaunte Weltöffentlichkeit, letztes Jahr schon erfahren: ein Flickenteppich von Bantustans unter israelischer Kontrolle. Also ein erster Klasse Begräbnis. Dass die arabischen Monarchen am Golf sich in Wahrheit nicht einmal mehr rhetorisch um irgendwelche „Friedenslösungen“ oder die Interessen der Palästinenser scheren, ist im Grunde keine neue Erkenntnis. 
Die Annexion großer Teile des besetzten Westjordanlands, vor allem entlang des Jordans, und damit die endgültig-endgültige Absage an irgendeinen „Palästinenserstaat“ wurde freilich nicht nur für die bessere Optik einstweilen verschoben. Diese Verschiebung entspricht durchaus den gegenwärtigen israelischen Interessen daran, den sogenannten „Status-Quo“ nicht allzu rasch in die Richtung einer gewaltsamen „Einstaaten-Lösung“ – ohne Ausgleich mit der arabischen Bevölkerung und ohne deren Gleichberechtigung – zu verschieben. Denn auf diesem Weg lauern bekanntlich jede Menge Probleme. Auch wenn Netanjahu diesen Schritt seinen rechtsradikalen Partnern immer wieder versprechen muss, um sich deren wahlentscheidende Unterstützung zu versichern. 

Hinter dem neuen Pakt stehen nicht zuletzt gemeinsame Sicherheits-Interessen, worunter nicht zuletzt der Machterhalt der absolutistischen Herrschaft in den Vereinigten Arabischen Emiraten und Bahrain zu verstehen ist. Hinter den Kulissen ist diese Zusammenarbeit zwischen Israelis, Amerikanern, manchen Golfstaaten und auch einigen Palästinensern wie dem ehemaligen „Sicherheitschef“ der Fatah Mohammed Dahlan schon seit Jahren im Gange, und längst auch kein Geheimnis mehr.
Benjamin Netanjahu hingegen sieht in der absoluten Monarchie der Emirate eine „fortschrittliche Demokratie“. Welche Rückschlüsse das auf sein eigenes Verständnis von Israel als Demokratie zulässt ist ebenfalls kein Geheimnis mehr. 
Zu den wenigen wirklichen Überraschungen gehört da eher, wie sehr sich manche von diesem Coup blenden lassen, mit dem sowohl Netanjahu wie Trump von den katastrophalen Folgen ihrer Politik für die eigene Bevölkerung ablenken wollen. Israel ist nun ab Freitag wieder im Lockdown. Aus dem Musterknaben der Pandemiebekämpfung ist der Krisenprimus geworden. Die USA sollte auch längst wieder im Lockdown sein, täglich sterben immer noch bis zu 1000 Menschen im reichsten, „größten“ Land der Welt.
Aber europäische Zeitungen wie die NZZ feiern das Abkommen zwischen Israel und den VAE unverdrossen als historischen Schritt zum „Frieden“. Immerhin, der israelische Fußballclub Beitar, traditionell mit den rechtspopulistischen Parteien verbunden und stolz darauf als einziger israelischer Profi-Club noch nie einen arabischen Spieler aufgestellt zu haben, verhandelt nun mit neuen Investoren: einer Gruppe von Scheichs aus den Arabischen Emiraten. Auch jüdische Rechtsradikale wissen: „denn nur der Scheich ist wirklich reich“.   

Brexit 2.0

Europäisches Tagebuch, 14.9.2020: Das Britische Unterhaus beschließt die von Premier Boris Johnson beantragte einseitige Aufkündigung des Brexit-Vertrags im Zuge des sogenannten „Binnenmarktgesetztes“. Dass damit sowohl britische Gesetze als auch internationales Recht gebrochen werden, scheint nicht nur der Brexit-Regierung sondern auch der Mehrheit des Parlaments egal zu sein. Hauptargument ist der in der Tat prekäre Status, den Nordirland in dem neuen Regelwerk erhält, das Johnson als großen Deal nicht einmal einem Jahr durchs Parlament peitschte. In einer Zollunion mit Irland und der EU – und einer Zollgrenze zum Rest des britischen Königreiches. Jedenfalls dann, wenn es mit den Verhandlungen eines umfassenden Freihandelsabkommens zwischen Großbritannien und der EU hapert. Seine Vorgänger John Major und Tony Blair sind nun „entsetzt“, aber das schert die Austritts-trunkene Mehrheit ohnehin nicht. 
Einmal mehr zeigt sich, welchen Preis die Brexiteers offenbar für ihren nationalistischen Aufstand gegen die europäische Einigung zu zahlen bereit sind. Der mühsam erreichte, gleichwohl prekäre Friedenszustand in Nordirland droht nun ganz bewusst geopfert zu werden. Dass Johnson gerne mit dem Feuer spielt ist allen bekannt. Aber die meisten seiner Torys folgen ihm nun wie Lemminge. Es braucht nur ein paar absurde Verschwörungstheorien wie sie unter rechtspopulistischen Führern immer beliebter werden: die EU plane eine „Lebensmittelblockade“ zwischen Nordirland und dem restlichen Königreich. 
Dabei überschätzen die Brexiteers Großbritanniens Möglichkeiten, sich außerhalb der EU unter dem Protektorat der USA zu einer internationalen Wirtschafts- und Handelsmacht aufzuspielen auf groteske Weise. Das wird sich rächen, wenn es längst zu spät ist. So wie es aussieht, wird sich Großbritannien in den nächsten Jahren weniger mit seiner großartigen, in Wirklichkeit ziemlich maroden Ökonomie beschäftigen, als mit den Zentrifugalkräften, die der Brexit freisetzt, von Nordirland bis Schottland, und schließlich auch in London. Auf die vermutlich die Antwort nur mehr nationalistischer Furor sein wird. Zu den Hintergründen der ökonomischen Perspektiven siehe auch diesen interessanten Beitrag von Paul Mason auf IPG: https://www.ipg-journal.de/regionen/europa/artikel/detail/im-groessenwahn-4634/?utm_campaign=de_40_20200911&utm_medium=email&utm_source=newsletter