Rosika Schwimmer: Eine schillernde Feministin

Europäisches Tagebuch, 3.8.2021: Heute vor 73 Jahren starb Rosika Schwimmer in New York.

von Felicitas Heimann-Jelinek

Der Begriff „Feminismus“ ist heute nicht mehr in einem Satz erklärbar, geschweige denn mit einem einzigen Begriff übersetzbar. Feminismus, das meint heute einen komplexen Pool an Strömungen sozial-politischer Anliegen und Agenden. So spricht man im aktuellen Diskurs von Feminismen, nicht von Feminismus – und die jeweiligen Interpretationen und Funktionen gegenwärtiger Feminismen sind von Fragen nach den jeweils gesellschaftlich bedingten spezifischen Dimensionen von natürlichem oder konstruiertem, sozialem und ethnischem Geschlecht geprägt.

Eine solche Ausdifferenzierung hätte sich Rosika Schwimmer, am 11. September 1877 in eine Budapester jüdische Familie hineingeboren, auch als eine der profiliertesten Frauenrechtlerinnen ihrer Zeit wohl kaum vorstellen können. Doch sehr wohl war sie eine überraschend moderne Feministin. Ihr war eben nicht nur das Recht der Frauen, sondern das Recht aller ein Anliegen. So setzte sie sich auch vehement gegen Kinderarbeit und für den Weltfrieden ein.

Rosika Schwimmer entsprach nicht der Norm einer Frau ihrer Zeit. Nach einjähriger Ehe ließ sie sich scheiden. Vermutlich war sie lesbisch, disziplinierte ihre Sexualität allerdings mit Morphin. Sie war stur, rechthaberisch, dominant, dynamisch – eine Kämpfernatur. 1897 gründete sie den Verein für weibliche Büroangestellte, 1903 den ersten ungarischen Arbeiterinnenverein, 1904 schließlich den Verein ungarischer Feministinnen. Rosika Schwimmer entsprach auch weder dem weiblichen Schönheitsideal, noch folgte sie dem Dresscode ihrer Zeit. Sie neigte zu Korpulenz, trug Dutt, Kneifer und – kein Korsett. Nach damaligen Maßstäben agierte sie auch nicht „typisch weiblich“, eher „typisch männlich“. Als Streiterin für wirtschaftliche, soziale und politische Gleichberechtigung erwarb sie sich einen Ruf als führende Verfechterin der Frauenrechte in Ungarn.

Als Schwimmer 1914 das erste Mal in den USA ankam, wurde sie mit offenen Armen empfangen. Die jüdische Presse überschlug sich vor Euphorie über „Ungarns große Jüdin, Liebling der Frauenrechtlerinnen in Europa und Amerika.“ 15 Jahre später überschlug sich die rechte Presse vor Hass gegen sie. Mal wurde sie als Spionin für die Deutschen, mal als ebensolche für die Bolschewiki beschimpft, vor allem aber, „weit gefährlicher“, als „Agentin der politisch-ökonomischen Bewegung des Judentums“. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie schon keinen Rückhalt in der amerikanisch-jüdischen Gemeinschaft mehr.

Denn Rosika Schwimmer war 1915 international durch ihre Peace Ship Expedition als Pazifistin noch bekannter geworden, als sie es als Feministin schon war. Gemeinsam mit Louis Lochner überredete sie den Automobil Tycoon Henry Ford, eine diplomatische Amateurmission nach Europa zu entsenden, um ein Ende des Ersten Weltkriegs zu vermitteln. Doch die von der Presse weithin verspottete Mission war wenig überraschend erfolglos. In diesem Zusammenhang distanzierten sich die amerikanischen Juden von Schwimmer und beschuldigten sie, Henry Fords antisemitische Kampagne während der kurzlebigen, doch äußerst medienwirksamen Peace Ship Expedition angefacht zu haben. Die Kampagne war kein Ausrutscher; Ford betätigte sich immer wieder als antisemitischer Publizist. Während des Nürnberger Prozesses sollte der Reichsjugendführer der NSDAP, der Wiener Gauleiter und Reichsstatthalter Baldur von Schirach erklären: „Das ausschlaggebende antisemitische Buch, das ich damals las und das Buch, das meine Kameraden beeinflußte […], war das Buch von Henry Ford ‚Der internationale Jude‘. Ich las es und wurde Antisemit.“ Kein Wunder also, dass viele GlaubensgenossInnen sie als Verräterin betrachteten. 1919 wurde Schwimmer kurzzeitig ungarische Botschafterin in der Schweiz, bald darauf musste sie aus Budapest vor dem weißen Terror nach Wien fliehen und emigrierte in die USA, wo der konsequenten Pazifistin die Einbürgerung verweigert wurde.

Aus heutiger Perspektive agierte Rosika Schwimmer am linken Rand der pazifistischen und der feministischen Bewegung. Im Dienste der guten Sache war sie wenig zimperlich und instrumentalisierte, wen sie instrumentalisieren konnte. Ihre kompromisslose Einstellung machte sie zur angegriffenen Außenseiterin in einer kriegsgetriebenen Welt der Ismen und Anti-Ismen, in der Rassismus, Chauvinismus, Anti-Kommunismus, Anti-Feminismus und Anti-Semitismus alltäglich waren.

Doch erfuhr sie Genugtuung: Kurz bevor Schwimmer 1948 staatenlos in New York verstarb, war sie zur Kandidatin für den Friedensnobelpreis gekürt worden. Nicht ahnen konnte sie, dass im Grunde nur 20 Jahre später ihr feministischer Aktionismus im Westen wieder aufgegriffen wurde und die neue Frauenbewegung stärker denn je den asymmetrischen Geschlechterverhältnissen in Familie, Gesellschaft, Politik und Religion die Stirn bot.

Kampf um jeden einzelnen Flüchtling

Rückblick, 31.7.2020: Der Berliner Senat ist erneut mit seinen Plänen gescheitert, 300 Flüchtlinge aus den nach wie vor heillos überfüllten Lagern auf den griechischen Inseln aufzunehmen. Bundesinnenminister Horst Seehofer hat der Berliner Initiative nun schon zum dritten Mal die notwendige Zustimmung verweigert, mit dem Verweis auf die Notwendigkeit eines bundeseinheitlichen Vorgehens und seiner neuen Initiative für eine EU weite Koordination der Flüchtlingspolitik. Darauf möchten in Deutschland, angesichts der mehr als 20.000 Flüchtlinge die in den Lagern dahinvegetieren, viele regionale und lokale Politiker nicht mehr warten. Die Nachrichten aus den Lagern sind verstörend. Angesichts der sanitären Situation, der unbeschreiblichen Enge und den mangelhaften technischen Anlagen kommt es dort regelmäßig zu tödlichen Unfällen, aber natürlich auch zu zunehmenden Konflikten und Aggressionen zwischen den dort Festgehaltenen. Mittlerweile ist bekannt, dass die schweren Traumatisierungen durch diese Lagerhaft noch schwerer wiegen, als die Traumatisierung durch Krieg, Verfolgung und Flucht. Schließlich geht sie mit der Erfahrung der vollkommenen Ohnmacht und des Ausgeliefertseins einher.
Berlins regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) sieht wenig Chancen, das Hilfsangebot durch eine Klage gegen die Bundesregierung durchzusetzen. Er betont, es handele sich um eine politische Frage und einen politischen Skandal. „Wir haben die Möglichkeiten. Trotz Corona leben wir in einem reichen und guten Land und können Menschen vor Not und Tod bewahren.“ 142 Menschen, insbesondere Kinder, darf Berlin bis Ende August aufnehmen, im Rahmen eines Kontingents von 928 Kindern und Kranken, das die deutsche Bundesregierung zulassen will.

Index auf dem Index. Zum Sterben der Pressefreiheit in Ungarn

Rückblick, 26.7.2020: Schon 80% aller Medien in Ungarn werden von der Regierung Viktor Orbans kontrolliert. Nun wird auch das letzte einflussreiche Medium ausgeschaltet, das für unabhängige Berichterstattung einstand: das Online-Portal Index, das mit anderthalb Millionen Leserinnen und Lesern zum reichweitenstärksten Medium des Landes geworden ist. Chefredakteur Szabolcs Dull wurde gestern vom neuen Chef der „Index-Stiftung“ László Bodolai zu einem Treffen außerhalb der Redakteursräume gebeten, um eine „geschäftliche Angelegenheit“ zu besprechen. Und bekam dort seine Kündigung überreicht. Inzwischen haben fast alle Redaktionsmitglieder aus Solidarität ebenfalls gekündigt, mehr als 80 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Sie sehen unter den jetzigen Umständen keine Chance mehr für unabhängigen Journalismus. Dull und seine KollegInnen haben die Gefahr kommen sehen.

Index erlebte in den letzten Jahren mehrere Eigentümerwechsel. Verschiedene Oligarchen wechselten einander ab, bis im Frühjahr, am ersten Tag des Corona-Notstands ein enger Vertrauter Orbans, Miklós Vaszily die Hälfte der der Anteile der Werbeagentur erwarb, die das Anzeigengeschäft von Index organisierte. Eine geschickte Übernahme durch die Hintertür. Vaszily, der schon mehrfach die Drecksarbeit für Orban erledigt hat, ließ keinen Zweifel daran, was als nächstes auf der Tagesordnung stehen könnte. Gestern war es schließlich so weit. Ungarn steht schon jetzt auf Platz 89 in der Rangliste der Pressefreiheit von „Reporter ohne Grenzen“. Dabei wird es nicht bleiben. Noch gibt es einige wenige Medien, die nicht gänzlich auf Regierungslinie sind. RTL Klub, HVG, 444.hu und 24.hu sind wohl die nächsten, deren Übernahme ansteht.

Die Genfer Flüchtlingskonvention – im Koma

Europäisches Tagebuch, 28.7.2021: Heute vor 70 Jahren wurde die Genfer Flüchtlingskonvention verabschiedet. Man könnte meinen, dies sei ein Tag zum Feiern. Doch das Gegenteil ist der Fall. Gerald Knaus, einer der besten Kenner der weltweiten Fluchtbewegungen und Flüchtlingsschicksale, spricht ernüchtert von einer Konvention “die im Koma liegt”.
80 Millionen Flüchtlinge gibt es weltweit, so heißt es. Doch diese Zahl, mit der das UN-Flüchtlingshilfswerk auf die Notwendigkeit von Hilfen aufmerksam machen will, lässt sich leicht missbrauchen. Von Massen, die uns überschwemmen werden, ist die Rede. Eine Sprache, die man von Rechtsradikalen gewohnt ist, wird zum politischen Kleingeld von Regierungen. Österreich gibt dabei mittlerweile den Ton an. Es ist zum fremdschämen, jeden Tag, vom Aufwachen, bis zum Schlafengehen. Und im Traum verfolgt es einen weiter.

In Wirklichkeit haben davon aber nur etwa 20 Millionen Flüchtlinge irgendeine Grenze überwunden. Die meisten von ihnen hausen in den von Bürgerkriegen, Verfolgungen und Zwangsrekrutierungen gerissenen Ländern der Welt irgendwo fern von ihren Heimatregionen. Die Zahl jener, die es immerhin über die Grenze, meistens bis ins Nachbarland, geschafft haben, ist in den letzten vier Jahren gerade mal um 700.000 Menschen gestiegen, darunter sind viele in den Flüchtlingslagern geborene Kinder. Noch immer ist es die viel gescholtene Türkei, die weltweit die meisten Flüchtlinge beherbergt. Und ob sie dabei weiter unterstützt wird, ist offen. Wer verhandelt darüber schon gerne mit dem Regime Erdogans. Aber welche Alternative dazu bietet sich? Noch mehr Gewalt gegen die Flüchtlinge im Mittelmeer?

Der Zynismus, mit dem Politiker in Europa, den USA oder Australien ihre rechtlichen Verpflichtungen missachten und den Geist der Konvention verhöhnen, ist kaum noch zu überbieten. An den EU-Außengrenzen werden Flüchtlinge mit Gewalt daran gehindert, Asyl-Anträge zu stellen. Ein offener Rechtsbruch. Und nur wenigen dämmert es, dass Regierungen, die den Rechtsstaat verachten, sich auch um „unsere“ Rechte nicht kümmern werden, wenn das ihnen passt.

Erst unlängst hat Österreichs Innenminister mit der Formulierung aufhorchen lassen, so rasch wie möglich Flüchtlinge nach Afghanistan abzuschieben „solange das noch geht“. In der Tat bricht dort der Widerstand gegen die Taliban in weiten Teilen des Landes in sich zusammen und einige EU-Länder setzen angesichts des einsetzenden Chaos schon beschlossene Abschiebungen aus, so wie auch die österreichischen Höchstrichter nicht mehr alle Abschiebungen durchwinken. Ein schwacher Trost. Denn man hat den Eindruck als ginge es der mittlerweile tiefblauen Regierungsspitze in Wien vor allem um symbolische Ablenkung. Von allen hausgemachten Problemen. Nein, der Tag des Jubiläums der Flüchtlingskonvention ist kein Tag zum Feiern.

Rückblick, 28.7.2020: Wenn Mitarbeiter von McKinsey in einem Unternehmen auftauchen, dann löst dies in der Regel Panikattacken unter Mitarbeitern aus. Schließlich steht das Beratungsunternehmen in dem Ruf, Firmen äußerst effektiv bei ihrer Sanierung zu helfen, und das bedeutet zumeist, ein Teil der Belegschaft „zu schicken“. Auch Flüchtlinge und Migranten durften in den letzten Jahren diese Erfahrung machen. Eine Recherche des Spiegel ergab, dass seit 2017 McKinsey die EU dabei berät, wie man die „Produktivität“ der Asylbehörden an den Grenzen erhöhen könnte. Mit wenig Erfolg bisher.
Einiges davon soll allerdings in die griechische Asylpolitik seitdem eingeflossen sein, zum Beispiel die Überführung von abgelehnten Asylwerbern in erster Instanz in geschlossenes Gewahrsam. Auch dann, wenn sie gar nicht abgeschoben werden können. Und auch die Verweigerung von Rechtsberatung gehört zu den griechischen „Optimierungsmaßnahmen“.

Bis heute werden die genauen Ratschläge von McKinsey allerdings von der EU geheim gehalten. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen klassifiziert das Material als „confidential“. Die Betreuung der Flüchtlinge in den Lagern auf den Inseln durch die griechischen Behörden folgt nach wie vor dem Prinzip der Abschreckung. Umso unwürdiger und menschenverachtender, umso „produktiver“. Auch wenn die EU-Kommission immer wieder Anläufe unternimmt, die Situation der Menschen dort zu verbessern und die Mitgliedsstaaten von der Notwendigkeit zu überzeugen, mehr Flüchtlinge von den griechischen Inseln aufzunehmen.
Schon 2016 hatte das Deutsche Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 1,86 Millionen Euro für eine „Studie“ an das Beratungsunternehmen bezahlt, um sich Tipps geben zu lassen, wie abgelehnte Asylwerber in Deutschland „effektiver“ abgeschoben werden könnten. Auch damals förderte eine Spiegel-Recherche zutage, dass McKinsey dafür 678 „Beratertage“ für je 2700,- € in Rechnung stellte. Das von McKinsey vorgeschlagene Rückkehrmanagement sah sowohl finanzielle Anreize als auch Abschiebhaft und „Gewahrsamsanstalten“ vor, und radikale Kürzung der Hilfen für Kranke.

“Wirklich so gefährlich?”

Rückblick, 23.7.2020: Noch immer diskutieren manche darüber, ob Covid-19 „wirklich“ so gefährlich sei, und ob nicht vor allem solche Menschen gefährdet sein würden, die aufgrund ihrer Vorerkrankungen und ihres Alters sowie bald sterben würden. Zwei Studien aus Italien deuten nun auf das genaue Gegenteil hin. Offenbar ist die Zahl der an Corona Gestorbenen in Italien doch sehr viel höher, als die offiziellen Statistiken verraten würden. Und es liegt nahe, diesen Schluss auch für andere Länder für wahrscheinlich zu halten.
Wissenschaftler der Universitäten Mailand und Palermo sind der Frage nachgegangen, wie sich die Corona Toten zur Übersterblichkeit im März und Anfang April verhalten haben – und haben Daten aus 1689 italienischen Gemeinden untersucht. Tatsächlich sind dort im Schnitt pro Woche bis zu 10.000 Menschen mehr gestorben als im Vergleichszeitraum in den Vorjahren. Dem standen nur 5000 offiziell gezählte Corona-Toten gegenüber. Menschen, die zu Hause starben oder in Heimen wurden in aller Regel nicht getestet und nicht gezählt. Nicht alle diese zusätzlichen Toten müssen zwingend auf Corona zurückzuführen sein. Aber es muss davon ausgegangen sein, dass dies für die Mehrzahl zutrifft. Auch mit den unmittelbaren Todesursachen haben sich die Wissenschaftler beschäftigt. Von den offiziellen Covid-19 Opfern waren 89 % unmittelbar an den Folgen der Infektion gestorben, die meisten an einer Lungenentzündung. Nur 11% der Toten hatten eine andere primäre Todesursache.

In den USA sind jetzt offiziell fast 150.000 Menschen an den Folgen einer Covid-19 Infektion gestorben. Die Zahl der Toten ist wieder auf annähernd 1000 pro Tag angewachsen. Die Zahl der täglichen Neu-Infektionen hat schon vor einigen Tagen mit mehr als 77.000 ebenfalls einen neuen Höchststand erreicht. Damit sind selbst die apokalyptischen Höchstzahlen, mit denen Donald Trump im Frühjahr um sich geworfen hat, um sich dafür feiern zu lassen, wenn es weniger werden längst bei weitem übertroffen. Und ein Ende der immer noch „ersten“ Infektionswelle ist offenbar noch lange nicht in Sicht. Die Bundesstaaten Arizona und Texas bestellen Kühlfahrzeuge um der wachsenden Zahl von Leichen Herr zu werden.
Donald Trump hält immer noch daran fest, dass die steigende Zahl von Neu-Infektionen nur der wachsenden Zahl von Test geschuldet sei. Doch auch der Anteil der Infektionen an den Test wächst.

 

Sieger und Verlierer in Brüssel? – oder ein wegweisender Durchbruch?

Rückblick, 22.7.2020: Angesichts von 300 Millionen Rabatt pro Jahr für die nächsten sieben Jahre lässt sich Kanzler Kurz nach seiner Rückkehr von den Brüsseler Verhandlungen in Österreich als „Sieger“ feiern. Nicht nur von seinem eigenen Chefkommunikator sondern auch von den meisten Zeitungen. Als wäre das ein Erfolg, wenn es in Brüssel Sieger und Verlierer gibt. In Brüssel selbst ließ er sich von seinem Leibfotografen begleiten. Um immer im rechten Licht zu erscheinen. Die Propagandafotos wurden von der APA übernommen. Soviel zum Thema „unabhängige Presse“ in Österreich.

Für österreichische Zeitungen  besteht der mühsamste – und in mancher Hinsicht doch auch folgenreichste – Kompromiss in der Geschichte der EU vor allem aus einer österreichischen Provinzposse. Als wäre ein österreichisches Rabatt-Schnäppchen das wichtigste, was es zu Europa im Zeichen von Corona und Wirtschaftskrise, von Millionen von Arbeitslosen und einer immer spürbarer werdenden Klimakatastrophe sagen lässt. Nicht alle stimmen da mit ein. Vorarlbergs Landesrat Johannes Rauch von den Grünen richtet auf Twitter aus: „Auf diesen ‚Rabatt‘ mag ich nicht stolz sein, weder als Europäer noch als Österreicher. Sorry about“. Österreich muss in Wirklichkeit natürlich trotzdem mehr an die EU bezahlen, als bisher. Alleine schon, weil die Budget-Lücken die der Brexit hinterlässt, geschlossen werden müssen. Doch das Knausertum der geizigen Vier führt nun dazu, dass ausgerechnet in wichtigen Zukunftsbereichen die EU sparen muss, z.B. bei Investitionen in Forschungsprogramme, in Klimaschutz und Gesundheitspolitik.

Und dennoch, jenseits der nationalistischen Propaganda der „neuen FPÖ“, wie der liberale Journalist Johannes Huber die Kurz-ÖVP nun treffend bezeichnet, ist der Kompromiss wohl besser, als es scheint. So paradox das ist.

Die Einigung in Brüssel: es bleibt bei einem Gesamtvolumen von 750 Milliarden „Corona-Wiederaufbauhilfen“. Statt 500 Milliarden sollen nun bloß 390 Milliarden als Zuschüsse, der Rest als Kredite vergeben werden. Auch wenn sich die „sparsamen vier“ (bzw. fünf, die Finnen eingerechnet) nun so gerieren, als hätten sie wie David einen Goliath, nämlich Deutschland und Frankreich bezwungen, so ist der Kern des Plans der Kommissionspräsidentin damit tatsächlich ein Stück der Realität nähergekommen. Denn die Begleichung der Schulden der EU soll nun in Zukunft auch durch Einnahmen der EU gedeckt werden. Das verschafft der EU (nicht den Stammeshäuptlingen und ihren „nationalen Interessen“) in Zukunft etwas mehr Gewicht. Ein kleiner Schritt, aber vielleicht mit mehr Wirkung, als das allen in diesem Moment bewusst war.

Das EU Parlament hingegen kritisiert den Kompromiss der EU-Staatschefs, weil er nicht weit genug geht, so berichtet heute die Süddeutsche Zeitung:
„In einer überfraktionellen Entschließung, die heute verabschiedet wurde, heißt es: “Das Europäische Parlament akzeptiert die politische Übereinkunft zum mehrjährigen Finanzrahmen 2021-2027 in seiner derzeitigen Form nicht.” Zu oft verstießen “die exklusive Einhaltung nationaler Interessen und Positionen gegen das Erreichen gemeinsamer Lösungen im allgemeinen Interesse”. In dem von Christdemokraten, Grünen, Liberalen, Linken und Sozialdemokraten ausgehandelten Resolutionsentwurf schreiben die Abgeordneten, die Kürzungen im Finanzrahmen ständen den Zielen der EU entgegen. Insbesondere die Kürzungen bei Gesundheits- und Forschungsprogrammen halten sie gerade in Zeiten einer globalen Pandemie für gefährlich. In der Entschließung kritisieren die Parlamentarier besonders, dass Zukunftsthemen zu wenig gefördert würden. Sie fordern mehr Mittel etwa für Digital- und Werteprogrammen. Sassoli kritisierte zudem beispielsweise die geplanten Kürzungen für Forschung und das Förderprogramm Erasmus. “Wir können das Budget für Forschung und junge Menschen und Erasmus nicht kürzen, das können wir nicht.” Mit den Kürzungen bei Programmen, die kohleabhängigen Regionen den Übergang erleichtern sollen, werde gegen die Green-Deal-Agenda der EU verstoßen. Die Fraktionien verlangen einen konkreten Prozentsatz an klimabezogenen Ausgaben (30 Prozent des Budgets) und Ausgaben für Biodiversität (zehn Prozent). Zudem gefährdeten Kürzungen bei Asyl, Migration und Grenzmanagement “die Position der EU in einer zunehmend volatilen und unsicheren Welt”. Zudem müsse die Hälfte der Ausgaben im EU-Haushalt und im Wiederaufbaufonds Frauen zugutekommen.
In dem Resolutionsentwurf vermissen die Abgeordneten auch einen genaueren Plan zur Rückzahlung der EU-Schulden. Die einzige für das Parlament akzeptable Variante sei es, dass die Union neue Eigenmittel schafft. Unter diesen Begriff können beispielsweise EU-weite Steuern fallen. Dafür solle es einen verbindlichen Zeitplan geben. Auch beim Thema Rechtsstaatlichkeit äußern die Abgeordneten starkes Bedauern über das Gipfelergebnis. Die Wahrung von Rechtsstaatlichkeit, Grundrechten und Demokratie sei erheblich geschwächt worden. Sie fordern einen wirksamen Rechtsstaatsmechanismus mit umgekehrter qualifizierter Mehrheit im Europäischen Rat, sodass Strafen bei Verstößen leichter durchgesetzt werden können.
Der Grünen-Abgeordnete Sven Giegold erklärte, die Staats- und Regierungschefs hätten “große Teile der Position des Europaparlaments zum EU-Haushalt ignoriert. Mit der geplanten Resolution bekommen sie dafür die Quittung.” Das Parlament nehme seine Verhandlungsposition ernst. “Kürzungen bei den Zukunftsprogrammen, zu wenig Klimaschutz und keine effektive Handhabe gegen Rechtsstaatsverstöße von Orban & Co würden Europa langfristig schwächen”, so Giegold.“

Die sparsamen Vier

Rückblick, 17.7.2020: EU-Gipfel in Brüssel. Heute kommen die europäischen Staatschefs zum ersten Mal seit der Corona-Krise wieder selbst in Brüssel zusammen. Erneut wird versucht einen Kompromiss über die Pläne der EU-Kommission für Wiederaufbauhilfen nach der Corona-Krise zu finden, dem auch die „frugalen vier“ wie Österreichs Kanzler Sebastian Kurz Österreich, Schweden, Dänemark und die Niederlande neuerdings nennt, zustimmen können.

Ratspräsident Michel versucht es mit Lockangeboten. So soll sich der Rabatt für die Beitragszahlungen, die Österreich leisten muss, fast verdoppeln. Aber die Zockerei geht weiter. Fraglich ist nach wie vor, welchen Anteil an der Förderung rückzuzahlende Kredite haben sollen. Dabei weiß jeder, dass eine Erhöhung der individuellen Verschuldung von Staaten wie Italien, die Krise der gesamten EU nur vergrößern würde. Es weiß auch jeder, dass ein drohender Zusammenbruch von Volkswirtschaften der Größe von Spanien, Frankreich oder Italien, ja selbst ein weiterer tiefer wirtschaftlicher Einbruch am Ende auch kleinere Volkswirtschaften wie Österreich in einen gefährlichen Strudel ziehen würden. Aber dennoch kämpfen die frugalen vier mit allen Waffen. Die Niederlande treten nun als radikalste Bremser auf: sie verlangen, dass Zahlungen erst erfolgen, wenn die damit zu tätigen Investitionen schon erfolgt, kontrolliert und erfolgreich waren.  Wie das gehen soll, weiß niemand außer dem niederländischen Premier Mark Rütte.

Ob es hingegen ngelingen wird, die Vergabe der Förderungen an Verpflichtungen auf rechtsstaatliche Standards zu knüpfen, ist offen. Der Widerstand dagegen kommt, kaum anders zu erwarten, genau von denen, die ihre rechtsstaatlichen Standards in den letzten Jahren Zug um Zug über Bord geworfen haben: Ungarn und Polen.

Die wohl tatsächlich entscheidende Frage schläft im Hintergrund. Darf die EU endlich eigene, nennenswerte Einnahmen generieren, um die Wiederaufbauhilfen zu finanzieren? Digitalsteuern, Emissionsabgaben… Das wäre, unbemerkt von dem meisten Kommentatoren die eigentliche stille Revolution. Die EU würde damit zum ersten Mal einen Schritt aus der Geiselhaft nationaler, nein: nationalistischer Interessen tun.

Und natürlich geht es am Ende um die Höhe des Rabatts mit dem die „Sparsamen“ sich zu Hause als Hüter ihrer „nationalen Interessen“ feiern lassen wollen.

Österreichische Großzügigkeit gegenüber illegal abgeschobenen Flüchtlingen

Rückblick, 16.7.2020: Das Bundesverwaltungsgericht in Wien verurteilt die Abschiebung eines 29-jährigen Tadschiken durch die österreichischen Behörden als rechtswidrig. Ob dies Khizbulloi Shovalizoda noch helfen wird ist fraglich. Der Tadschike hatte im März 2019 in Österreich Asyl beantragt. Er gehört einer ethnischen Minderheit an, die in Tadschikistan verfolgt wird. In seiner Heimat wird ihm stattdessen vorgeworfen einer verbotenen islamischen Partei anzugehören. Shovalizodas Asylantrag wurde abgelehnt und ein Abschiebebescheid ausgestellt. Am 10. Januar 2020 brachte er einen erneuten Antrag auf internationalen Schutz ein. Er hatte erfahren, dass gegen ihn in Tadschikistan ein Verfahren wegen „Terrorismus“ eröffnet werden würde und ihm dort seine Verhaftung drohen würde. Das BFA (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl) lehnte seinen Antrag erneut ab, obwohl die Staatsanwaltschaft Eisenstadt darauf hinwies, dass inzwischen von den tadschikischen Justizbehörden ein Auslieferungsbegehren eingegangen sei, das „überwiegend politischen Charakter“ trage. Ein Auslieferungsverfahren würde daher abgelehnt. Dennoch wurde Shovalizoda am 4. März nach Tadschikistan abgeschoben – und dort prompt verhaftet. Im Juni wurde er tatsächlich zu 20 Jahren Haft verurteilt.

Das Bundesverwaltungsgericht stellte nun fest, dass das BFA den Fall nicht genau geprüft habe und sich bei seiner Entscheidung auf bekanntermaßen veraltete Informationen über die Situation in Tadschikistan gestützt habe. Inzwischen sei bekannt, dass die dortige Regierung unter dem Deckmantel der „Terrorismusbekämpfung“ Oppositionelle und Kritiker kriminalisiere. Menschenrechtsverletzungen, willkürliche Tötung durch Gefängnisbehörden, willkürliche Inhaftierungen, Folter und Misshandlung politischer Gefangener sind in Tadschikistan an der Tagesordnung, wie auch die österreichische Datenbank der Staatendokumentation inzwischen feststellt. Die Entscheidung des Gerichts erlegt nun den österreichischen Behörden die Pflicht auf, nicht nur Shovalizoda die Einreise nach Österreich zu erlauben, sondern auch proaktive Maßnahmen zu setzen, um ihn „wieder in das österreichische Bundesgebiet zu verbringen“. Das Innenministerium weigert sich aber offenbar, dem Gerichtsentscheid Folge zu leisten. Es gäbe keine „rechtliche Grundlage“ um den Abgeschobenen wieder zurückzuholen. Die Einreise nach Österreich werde ihm aber gestattet. Ob Shovalizoda von dieser österreichischen „Großzügigkeit“ je erfahren wird, ist fraglich. Seit seiner Verurteilung zu 20 Jahren Haft fehlt von ihm jede Spur.

Die Europäer sind europäischer als ihr Ruf

Rückblick, 15.7.2020: Mehr als zwei Drittel der EU-Bürger wollen nach einer Umfrage im Auftrag des EU-Parlaments, dass die Europäische Union bei der Bewältigung der Corona-Krise eine größere Rolle spielt. Mehr als die Hälfte der Umfrageteilnehmer meint, dass die EU dafür mehr Geld brauche, wie das EU-Parlament am Dienstag in Brüssel mitteilte.
Damit sollten vor allem die Folgen der Epidemie im Gesundheitswesen und in der Wirtschaft abgefedert werden. Ebenfalls mehr als die Hälfte der Befragten ist nach wie vor unzufrieden mit dem Ausmaß der Solidarität der EU-Mitgliedstaaten während der Corona-Krise.

Mehr Zuständigkeiten der EU beim Bewältigen von Krisen wie der Corona-Pandemie fordern nach der Umfrage 68 Prozent der Befragten. Besonders ausgeprägt ist dieser Wunsch in Portugal und Luxemburg (je 87 Prozent), Zypern (85 Prozent), Malta (84 Prozent), Estland (81 Prozent), Irland (79 Prozent), Italien und Griechenland (je 78 Prozent), Rumänien (77 Prozent) und Spanien (76 Prozent). Auch bei den Deutschen gab es eine Mehrheit von 59 Prozent.
Der Wunsch nach mehr EU-Geld zur Abmilderung der Corona-Folgen ist am ausgeprägtesten in Griechenland (79 Prozent), Zypern (74 Prozent), Spanien und Portugal (je 71 Prozent). Aber auch in Deutschland wünscht sich jeder Zweite eine aktivere und mit mehr Kompetenzen ausgestattete Rolle der EU.
Außer in das Gesundheitswesen und die Stärkung der Wirtschaft soll die EU nach dem Willen der Befragten Corona-Hilfen auch in Beschäftigung und Soziales sowie die Bekämpfung des Klimawandels investieren. Auf einem EU-Gipfel an diesem Wochenende soll über das umstrittene 750 Milliarden Euro schwere Corona-Konjunkturprogramm beraten werden.

Bei der Untersuchung der der Hotspots der Covid-19 Infektionen erweisen sich insbesondere christliche Freikirchen als Zentren von Corona-Ausbreitungen. Nach Corona-Infektionen in Wiener Neustadt wurden alle Freikirchen der Pfingstgemeinden in Österreich vorläufig geschlossen.  Zuletzt machte eine Mennonitengemeinde in Euskirchen in Nordrhein-Westfalen mit Corona-Infektionen auf sich aufmerksam. Dort haben sich elf Kinder bei Ihrer Mutter angesteckt. Da die Kinder noch kurz zuvor in die Schule der Mennoniten gegangen sind, und die Familie zum Gottesdienst in das Bethaus hat das Kreis-Gesundheitsamt Quarantäne für ca. 1000 Personen angeordnet und Schule und Bethaus der Mennonitengemeinde geschlossen.
In Österreich sorgte Ende Juni ein Corona-Cluster in einer Linzer Freikirche für Aufsehen. Betroffen waren aber gar nicht die beiden afrikanischen Pfingstgemeinden, die das Bethaus in der Wankmüllerstraße betreiben, sondern eine rumänische Freikirche, die als Mieter im Gebäude ihre Gottesdienste abhielt. Dennoch kam es gegen einen der afrikanischen Priester der Pfingstgemeinden zu rassistische Angriffe und Schmierereien. Im Mai hatte es in Frankfurt ein Cluster nach einem Gottesdienst einer Baptistengemeinde gegeben, mit über 200 Infektionen.

Polen bleibt rechts. Haarscharf

Rückblick, 13.7.2020: Die Stichwahl für das Präsidentenamt in Polen endet mit einem knappen Sieg für den Nationalisten Andrzej Duda. Bis auf 48,97 % der Stimmen ist ihm der liberale Gegenkandidat Rafal Trzsakowski nahe gekommen. Doch es hat nicht gereicht, der nationalkonservativen Regierung der PIS-Partei ein Korrektiv entgegenzusetzen. Das Wahlergebnis verrät auch in Polen eine tiefgreifende Spaltung von Stadt und Land. Trzaskowksi, Stadtpräsident von Warschau, hatte in den großen Städten 65% der Stimmen auf sich vereinigen können, Duda hingegen 65% der Wählerinnen und Wähler auf dem Land gewonnen. Auch zwischen den Generationen verläuft ein tiefer Riss durch die polnische Gesellschaft. Trzaskowski siegte bei allen Wählerguppen unter 50. Die über 60jährigen entschieden sich zu 64% für Duda. Polen leidet so doppelt unter der Überalterung der Gesellschaft. Polens migrationsfeindliche Politik produziert immer mehr Migration: Junge Menschen verlassen in Scharen das Land.
Letztendlich entschied Duda die Wahlen mit radikalen, nationalistischen und homophoben Parolen für sich. Schwule und Lesben haben in Polen inzwischen Angst vor Gewalt auf den Straßen. In den letzten Tagen vor der Wahl richtete sich die von der Regierung geschürte Fremdenfeindlichkeit vor allem gegen Deutsche: gegen deutsche Medien, oder gegen die wenigen regierungsunabhängigen Medien die angeblich im deutschen Interesse das Land unterwandern würden. Aber auch gegen in Polen lebende Deutsche, die offenen Anfeindungen ausgesetzt sind.

Am Ende ging es nur noch um das „Polentum“. In einem Radiointerview meinte Andrzej Zybertowicz, Soziologe und Berater des wiedergewählten Präsidenten, er sei “schockiert” gewesen, dass ungefähr die Hälfte seiner Landsleute für einen Kandidaten gestimmt hätten, „dessen Stab es nicht für angemessen hielt, während des Wahlabends mit einer polnischen Fahne zur erscheinen“. Warum nur, fragt man sich, hätte er das tun sollen.
In der Grenzregion Polens und Deutschland, der sogenannten „Euroregion Spree-Neisse-Bober“ mehren sich nun die Sorgen, ob die dort bislang erfolgreiche Politik der zwischenstaatlichen Kooperation fortgesetzt werden kann.

Wohltaten für die “Ärmsten der Armen”? Oder wie Populismus und Neoliberalismus funktionieren

Rückblick, 12.7.2020: Österreichs Kanzler Sebastian Kurz hat sein Herz für die „Ärmsten der Armen“ entdeckt. In einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung lässt er sich allerdings nicht in die Karten schauen, worauf er mit seinem Widerstand gegen die EU-Wiederaufbauhilfen wirklich hinauswill.
Natürlich wiederholt er seinen Stehsatz, dass ein Teil der Hilfen zurückgezahlt werden muss. Das sieht der aktuelle Vorschlag der EU-Kommission sowieso vor. Die Frage ist, wieviel? Und natürlich besteht er darauf, dass die Hilfen an Bedingungen geknüpft werden müssen. Auch das sieht der Vorschlag der EU.-Kommission natürlich ebenfalls vor. Doch welche Bedingungen sollen dies sein? Darüber ist von Kurz nur ähnlich Nebulöses zu vernehmen, wie von der Kommission selbst (Digitalisierung, Digitalisierung, Digitalisierung).
Nun aber macht Kurz ein neues Fass auf: die Frage nämlich, welche Länder am meisten Geld bekommen sollten. Nach dem Brüsseler Entwurf würden Italien, Spanien oder Polen die größten Hilfen erhalten. Bevölkerungsreiche Länder also, die besonders schwer von der Pandemie betroffen wurden. Kurz hingegen argumentiert nun so, als ginge es um milde Gaben: “Wir haben in der EU aber deutlich ärmere Länder. Mein Gerechtigkeitsempfinden sagt mir: Wenn wir in der EU so viel Geld in die Hand nehmen, dann sollte es vor allem an die Ärmsten der Armen fließen. Wenn man die Arbeitslosigkeit der Jahre von 2015 an zum Kriterium macht, wie derzeit vorgeschlagen, dann hat das mit den Herausforderungen der Corona-Situation nichts zu tun.” Als sei das Anwachsen der Arbeitslosigkeit kein Kriterium für die Auswirkungen der Pandemie. Wenn das Hilfsprogramm eine Reaktion auf Corona sein solle, dann müsse, so Kurz, “man es am Einbruch der Wirtschaftsleistung durch die Pandemie festmachen”. Die Wirtschaftsleitung bricht allerdings ebenfalls in Italien, Spanien (und Frankreich) am meisten ein. Was also meint der Kanzler, außer dass er händeringend nach irgendwelchen Argumenten dafür sucht, möglichst wenig Geld herzugeben, um den “Ärmsten der Armen” zu helfen.

Die Finanzhilfen in Österreich kommen, so viel ist jedenfalls bekannt, eher nicht den “Ärmsten der Armen” zu Gute. Finanzminister Blümel verteidigte vorgestern im ORF die Auswirkungen des neuen Konjunkturpakets der Bundesregierung. Nach Recherchen des ORF profitieren von den beschlossenen Konjunkturmaßnahmen in Höhe von 2,6 Milliarden vor allem Wohlhabende. Rund ein Viertel der Maßnahmen kommen vor allem den obersten Einkommen zugute. Dazu zählen Steuersenkungen und sogar Einmalzahlungen der Familienbeihilfe. Während Menschen mit niedrigen Einkommen etwa 364 Millionen Euro Corona-Hilfen erhalten werden, sind es bei den obersten Einkommen ca. 624 Millionen Euro. Gernot Blümel hält dagegen: „Die Menschen die fleißig sind und arbeiten gehen, auch mehr von dem Erarbeiteten haben sollen.“ Im Juni waren in Österreich 463.500 Menschen ohne Arbeit. Offene Stellen gab es nur 63.000. Die in den Augen des Finanzministers offenbar vor allem aus mangelndem Fleiß von Arbeitslosigkeit betroffenen Menschen, werden nun mit einem Almosen von einmalig 450,- € abgespeist.

Und damit man sich auch und gerade in Corona-Zeiten mit solchen Fragen nicht allzu viel beschäftigt, spielen Rechtspopulisten gerne mit Metaphern aus der Sprache der Schädlingsbekämpfung, wenn sie über Menschen reden. Besonders gerne in Österreich. FPÖ-Generalsekretär Michael Schedlitz lobt in einer Tiroler Tageszeitung Parteichef Norbert Hofer für seinen Vergleich „des Islams“ mit dem Corona-Virus („gefährlicher als Corona“) und setzt einen drauf. Schedlitz empfiehlt die FPÖ als „Unkrautbekämpfungsmittel“ gegen „ungezügelte Zuwanderung“ – und fordert den ÖVP-Innenminister zu härterem Vorgehen auf. Die Aufforderung, Mund-Nasenschutz zu tragen, sei, so Schedlitz ganz nebenbei, natürlich nur Angstmache. „Wir können gleich in den Orient auswandern, wenn wir uns wieder verschleiern.“
Bundeskanzler Kurz möchte da demagogisch nicht zurückstehen und versucht sich mit einer anderen rechtspopulistischen Metapher. „Wir erleben immer mehr Einschleppungen aus dem Ausland.“ Und meint damit wohl ebenfalls Menschen, die infiziert sind. Egal wie man es ausdrückt, es sind immer die anderen schuld.

Auch die amerikanischen Rechtspopulisten halten nichts von “Verschleierung”. Die große Wahlkundgebung Donald Trumps in Tulsa, wo er seinen Wahlkampf sinnigerweise zum hundertsten Jahrestag des dortigen Massakers eines „weißen“ Mobs an Afroamerikanern eröffnete, hat zwar deutlich weniger (zumeist ohne Mund-Nasenschutz erschienene) seiner Anhänger mobilisiert, als von ihm erwartet. Aber dennoch genug, um eine rasante Zunahme von Corona Infektionen in der Stadt zu bewirken, wie die Gesundheitsbehörden von Tulsa bekannt gestern bekannt gaben.

 

 

Simone Veil: Präsidentin eines Parlaments im Werden

Europäisches Tagebuch, 30.6.2021: Heute vor 5 Jahren starb Simone Veil, die erste Präsidentin des direkt gewählten Europäischen Parlamentes. Bis heute kämpft dieses Parlament darum, wirklich eines zu werden, das seinen Namen verdient: Die Repräsentanz eines Europäischen Souveräns. Davon sind wir immer noch weit entfernt. Simone Veil 1979 Präsidentin dieses Traums wurde, hat als 18jährige das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau überlebt. Damals hieß sie noch Simone Jacob.

1944 war ihre Familie von der Gestapo verhaftet worden. Ihr Vater und ihr Bruder wurden nach Litauen deportiert und ermordet. Sie selbst wurde im Sommer 1944 gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrer Schwester nach Auschwitz und im Januar 1945 auf einem Todesmarsch nach Bergen-Belsen verschleppt. Dort starb ihre Mutter im März an Typhus, bevor das Lager im April von der britischen Armee befreit wurde.
1946 heiratete Simone Jacob, inzwischen Jurastudentin am Institut d’études politiques de Paris (Science Po) den ein Jahr älteren Studenten Antoine Veil aus Blamont, einen Nachkommen der zweihundert Jahre zuvor von Hohenems ins französische Blamont ausgewanderten Wilhelmine Löwenberg, deren so ausgesucht höfliche und in Hebräisch-deutscher Schönschrift verfassten Briefe an die Eltern heute eine Vitrine im Jüdischen Museum zieren.

Simone Veil wurde zunächst Richterin, dann Beamtin im Justizvollzug, um schließlich als Politikerin vor allem für die Rechte von Frauen einzutreten. Als Gesundheitsministerin ab 1974 sorgte sie für einen erleichterten Zugang zu Verhütungsmitteln. 1975 erreichte sie die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen. Das von ihr nach hartem Kampf durchgefochtene Gesetz zur Fristenregelung ist bis heute als Loi-Veil (Veil Gesetz) bekannt.
Als 1979 die Bürgerinnen und Bürger Europas zum ersten Mal direkt ihr Parlament wählen durften, kandidierte sie an der Spitze der UDF, der französischen Liberalen und wurde vom Parlament zur ersten Präsidentin gewählt. Bis 1993 gehörte sie dem EU-Parlament an, zuletzt war sie 1989 als Spitzenkandidatin der Liste Le Centre pour l’Europe eingezogen, nach dem die französischen Liberalen und Gaullisten in ihren Augen nicht entschieden genug für die europäische Integration eingetreten waren.
1998 sollte sie Mitglied des französischen Verfassungsgerichtes werden. Viele Jahre engagierte sie sich auch für die Erinnerung an die Shoah in Frankreich. 2008 wurde sie schließlich auch in die Académie Francaise gewählt.
Ein Jahr nach ihrem Tod 2017 wurde Simone Veil in einem Staatsakt ins Pariser Panthéon überführt und von Staatspräsident Macron mit folgenden Worten vor allem als Französin gefeiert: „Mit Simone Veil treten hier Generationen von Frauen ein, die Frankreich geschaffen haben. Möge ihnen allen heute durch sie Gerechtigkeit widerfahren.“ 15 Millionen Zwei-Euro-Münzen mit ihrem Konterfei und ihrer Häftlingsnummer aus Auschwitz wurden zu diesem Anlass geprägt und in Umlauf gebracht.

Solidarität und ihr Gegenteil

Rückblick, 29.6.2020: Der republikanische Gouverneur von Texas bedauert die frühen Lockerungen der Corona-Schutzmaßnahmen, wie er in lokalen Fernsehsendern zugibt. Die Infektionszahlen in Texas und anderen Bundesstaaten im Süden und Westen der USA nehmen rasant zu. In Houston, der größten Stadt in Texas, geraten die Intensivstationen nun an die Grenze ihrer Kapazitäten. Auch in Mississippi werden die Intensivbetten knapp. In Texas und Florida werden Bars und Restaurants, aber auch öffentliche Strände teilweise wieder geschlossen, und Teilnehmerzahlen von Veranstaltungen beschränkt. Sogar Vizepräsident Mike Pence sagt Wahlkampfveranstaltungen im Süden ab und fordert nun dazu auf, Masken zu tragen. Bislang machte sich Präsident Trump über das Maskentragen regelmäßig lustig.
Ebenso starke Zuwächse an Neuinfektionen verzeichnet Brasilien. Insgesamt steigt die Zahl der weltweit täglichen Neuinfektionen inzwischen auf 189.000. Seit Beginn der Pandemie zählt die WHO 500.000 Todesfälle.

Eine Online-Benefizveranstaltung brachte am Samstagabend Showstars, Models, Sportler und Politiker zusammen, als Höhepunkt des Spendenmarathons für die Entwicklung eines Corona-Impfstoffes. EU-Kommissionpräsidentin Ursula von der Leyen lud gemeinsam mit der NGO Global Citizen zu einem von Dwayne Johnson moderierten Online-Konzert mit Musikern wie Miley Cyrus, Shakira und Coldplay und Videobotschaften von David Beckham, Naomi Campbell, Angela Merkel und dem Chef der WHO, Tedros Adhanom Ghebreyesus. Insgesamt seien inzwischen 15,9 Milliarden Euro an Spenden zusammengekommen. Merkel verlangte, „Impfstoffe, Tests und Medikamente müssen weltweit verfügbar, bezahlbar und zugänglich sein“. Ghebreyesus wies auf Menschen in Slums und Flüchtlingslagern hin, und forderte, „die Ärmsten und Verwundbarsten zu schützen“. Campbell betonte, dass Schwarze derzeit besonders stark unter den Folgen der Corona-Pandemie litten.

In der Europäischen Union gibt es weiter Widerstand gegen solidarisches Handeln. Österreichs Kanzler Sebastian Kurz lehnt immer noch gemeinsame Corona-Hilfe in Form von Zuschüssen ab. „Wir wollen einen Einstieg in eine dauerhafte Schuldenunion vermeiden und treten daher für eine klare zeitliche Befristung der Nothilfe und für Kredite anstelle von Zuschüssen ein“, verrät er der deutschen Zeitschrift Focus. Die Regierungschefs hätten eine große Verantwortung gegenüber den eigenen Steuerzahlern.

 

 

Raphael Lemkin: Dem Verbrechen einen Namen geben

von Felicitas Heimann-Jelinek

Europäisches Tagebuch, 24.6.2021: Im August 1941, im Jahr der systematischen Errichtung der nationalsozialistischen Vernichtungslager, reagierte Winston Churchill angesichts des einsetzenden Massenmords an den europäischen Juden verstört mit den Worten: „We are in the presence of a crime without a name“, „wir gewärtigen ein Verbrechen ohne Namen.“ Der Mann, der dem Verbrechen einen Namen geben und für dessen zukünftige Ahndung durch den Internationalen Strafgerichtshof Sorge tragen sollte, wurde heute vor 121 Jahren in einem Dorf in Weißrusslandland geboren, nicht weit von Wilna entfernt: Raphael Lemkin.

An der Universität Lemberg wurde er zum Juristen promoviert. Anlass für seine Studienwahl war die selbstgestellte Frage, warum das türkische Massaker an einer Million armenischer Frauen, Kinder und Männer keine Straftat, die Tötung einer einzelnen Person nach allgemeingültigem Recht aber sehr wohl ein Verbrechen darstelle.

Im Januar 1933 wurde Hitler zum deutschen Reichskanzler ernannt, die Weimarer Republik zerschlagen und eine zentralistische Diktatur eingeführt. Gegner wurden schon ab März in eigens errichteten Lagern interniert. Zu dieser Zeit war Lemkin bereits ein angesehener Anwalt in Warschau, er war bewandert im internationalen Recht und gut vernetzt. Und er ahnte, dass es sich hier nur um den Auftakt zu etwas viel Schlimmerem handelte.

Lemkin erarbeitete einen Vorschlag, der die Vernichtung nationaler, „rassischer“ und religiöser Gruppen international als Verbrechen definieren sollte, und schickte ihn an eine internationale Konferenz. Doch er fand wenig Unterstützung, selbst als der Antisemitismus zur nationalen Politik Deutschlands wurde. Der faschistische Taumel, der einen großen Teil der Welt erfasst hatte, machte viele blind und taub. Als Hitler 1939 in Polen einmarschierte, wusste Lemkin, dass sich seine Ahnungen erfüllen würden.

Er floh aus Warschau, schlug sich zu seinen Eltern durch, nur um sich für immer von ihnen zu verabschieden. Gemeinsam mit 38 weiteren Familienangehörigen wurden sie als Juden von den Nazis ermordet. Ihm selbst gelang die Flucht in die USA, wo ihm ein Freund eine Stelle an der Duke Law School in North Carolina verschaffte.

Raphael Lemkin suchte fieberhaft nach einem Begriff, der dem Verbrechen, das vor den Augen der Welt stattfand, gerecht werden sollte. Der Begriff Massenmord, so argumentierte er, sei für die Ermordung der europäischen Juden nicht adäquat, da er die nationale, ethnische oder religiöse Motivation des Verbrechens nicht inkludiere. Auch Denationalisierung fasse den Tatbestand nicht, da er auf kulturelle, aber nicht unbedingt auf biologische Auslöschung abziele. Seine Überlegungen führten ihn schließlich zu einem Neologismus: Genozid. Das Wort ist zusammengesetzt aus dem altgriechischen genos (Klan, Rasse, Nachkommenschaft, Geschlecht) und dem lateinischen caedere (töten), die deutsche Übersetzung lautet Völkermord. Die Begriffsfindung war jedoch nur die Voraussetzung für das eigentliche Ziel. Lemkin setzte alles daran, dass Genozid als international justiziable Straftat behandelt und verurteilt werden sollte.

Bitter enttäuscht war Lemkin von den Nürnberger Prozessen, in denen wenig geschah, um den Völkermord als internationales Verbrechen zu kodifizieren – und nichts, um ihn in Zukunft zu verhindern. Aber er gab nicht auf, korrespondierte, lobbyierte, formulierte und überarbeitete den Text für eine Völkermordkonvention. Und tatsächlich war er nach unermüdlichem Kampf erfolgreich. Am 9. Dezember 1948 nahm die Organisation der Vereinten Nationen seinen Vorschlag einer Genozid-Konvention an. Wenig später erkrankte Lemkin so schwer, dass er hospitalisiert werden musste. Die Ärzte fanden die Ursache nicht. Er diagnostizierte sich glücklich selbst mit „Genoziditis. Erschöpfung durch die Arbeit an der Völkermordkonvention“.

Der Mann, der dem größten Verbrechen des 20. Jahrhunderts einen Namen gegeben und die Straftat des Genozids völkerrechtlich exakt definiert hat, verstarb 1959 arm und alleine in einer Einzimmerwohnung in New York.