Wen trifft Corona? Alle. Und manche noch mehr

Rückblick, 22.6.2020: In der Fleischfabrik Tönnies in Rheda-Wiedenbrück sind von 6500 dort Beschäftigten inzwischen 1330 Menschen an Corona erkrankt. Rund die Hälfte der Arbeiter sind zu Billiglohn-Verhältnissen bei Subunternehmen angestellt, die meisten davon kommen aus Rumänien und Polen. Der Deutsche Städte- und Gemeindebund warnt, angesichts wachsender Hasspostings in sozialen Netzwerken, davor, die Menschen, die „im Niedriglohnbereich unter schlechten Wohnverhältnissen die preiswerte Fleischproduktion in bestimmten Betrieben gewährleistet haben” für diesen neuen Ausbruch der Epidemie verantwortlich zu machen. Stattdessen seien die Betriebe gefordert.
SPD-Parteivorsitzender Norbert Walter-Borjans fordert eine Grundsatzdebatte über Fleischpreise und Verteilungsgerechtigkeit: „Wenn Klein- und Mittelverdiener in Deutschland ihren Lebensstandard nur sichern können, weil Osteuropäer in unseren Schlachthöfen oder Näherinnen in Bangladesch für unsere Textilien ausgebeutet werden, dann läuft etwas gewaltig schief.“

Die WHO meldet eine neue Rekordzahl von Corona-Infektionen weltweit. Die meisten der 183.000 neuen Fälle sind nun in Nord und Südamerika zu verzeichnen. Brasiliens geschönte offizielle Todeszahlen haben inzwischen die Marke 50.000 überschritten. In den USA sind es inzwischen über 120.000. Insbesondere in bislang weniger betroffenen Bundesstaaten nehmen die Corona-Infektionen jetzt drastisch zu. Vielfach werden Schutzmaßnahmen und Menschen, die Masken tragen, von republikanischen Gouverneuren und anderen Politikern offen verhöhnt. Dem Wall Street Journal gegenüber erklärt Trump, die Maske sei für viele Menschen ja nur ein Instrument, um gegen ihn Stimmung zu machen. Sein Wahlkampfauftakt in Tulsa hingegen, dem Ort eines legendären, blutigen Massakers eines weißen Mobs an Afro-Amerikanern vor hundert Jahren, war nicht nur eine gezielte Provokation gegen die Menschenrechte. Das Ganze geriet jetzt auch zum Manifest seiner Anhänger gegen Corona-Vorsichtsmaßnahmen.

Die Teilnehmer der Wahlkampfveranstaltung sollten bei ihrer Anmeldung einer Verzichtserklärung zustimmen, und unterschreiben, dass sie die Veranstalter im Falle einer Sars-CoV-2-Infektion nicht verklagen würden. Angaben zu einer Maskenpflicht oder anderen Schutzmaßnahmen bei den Events fanden sich auf der entsprechenden Website nicht. Aber das war auch kaum nötig, die meisten Teilnehmer trugen demonstrativ keine Schutzmasken.
Der Wahlkampfauftakt verlief dennoch nicht nach dem Geschmack Donald Trumps. Ein Drittel der Plätze blieb leer. Das lag auch daran, dass sich offenbar tausende von jungen Leuten Karten reservierten um sie bewusst leer zu lassen. Allein daran kann es aber nicht gelegen haben, dass die von Trump erwarteten tausenden von Fans im Freien ebenfalls ausblieben, und die Bühne für die Übertragung wieder abgebaut werden musste, um die peinlichsten Bilder zu vermeiden.

Ermüdung

20.6.2021: Nichts neues aus der österreichischen Flüchtlingspolitik. Der Türsteher der Nation, Karl Nehammer, schmiedet Bündnisse gegen “illegale Migration” mit osteuropäischen Regierungen, die sich um Recht und Gesetz immer weniger scheren und deren Methoden der Grenzsicherung mit den Menschenrechten auf Kriegsfuß stehen. In den Lagern auf europäischen Boden herrschen die gleichen Zustände wie von jeher, nur dass es jetzt dort heiß ist und nicht kalt. Und Österreich weigert sich nach wie vor, Flüchtlinge aus diesen Lagern aufzunehmen. Nichts neues unter der Sonne. Die Arroganz der Macht setzt auf Ermüdung. Und das ist recht erfolgreich.

20.6.2020: Im Rahmen einer Pressekonferenz der Grünen zum Weltflüchtlingstag hat die Bosnische Flüchtlingshelferin Zehida Bihorac gestern eine Dokumentation von 500 belegten Fällen massiver Gewalt und illegalen Push-backs gegen Flüchtlinge an der Grenze zwischen Bosnien und Kroatien präsentiert. Es geht um Gewalt von Polizeikräften auf beiden Seiten. „Es wird immer schlimmer. Täglich kommen die Menschen verletzt, geschlagen und gefoltert von der Grenze zurück. Ich bitte euch als Europäer: Helft uns und helft euch, weil auch Bosnien-Herzegowina ist ein Teil von Europa“, sagte Bihorac, die sich seit Jahren in Velika Kladusa um Geflüchtete kümmert. Gezeigt wurden auch Aufnahmen aus dem bosnischen Camp „Miral“, wo Polizisten mit Knüppeln auf wehrlose Flüchtlinge einschlagen. Die verantwortlichen Minister der österreichischen Bundesregierung und Kanzler Kurz weigern sich nach wie vor, bedrohte Flüchtlinge innerhalb Europas aufzunehmen, oder die Probleme auf dem Balkan überhaupt nur zur Kenntnis zu nehmen. Die Erfolgsgeschichte von der angeblichen „Schließung der Balkanroute“ will man sich nicht nehmen lassen, „koste es was es wolle“.

Kinderschutz auf ungarisch

Europäisches Tagebuch  18.6.2021: Vor drei Tagen hat das ungarische Parlament eine Gesetzesnovelle unter der Überschrift:  “Änderungen von einigen Gesetzen zum strengeren Vorgehen gegenüber pädophilen Kriminellen sowie im Interesse des Kinderschutzes”. Gemeint ist damit die öffentliche Verteufelung von Homosexuellen. Für die Gesetzesvorlage stimmten Abgeordnete der von Orban angeführten Regierungspartei Fidesz sowie Parlamentsmitglieder der rechtsextremen Oppositionspartei Jobbik. Alle anderen Oppositionspolitiker, bis auf einen, verließen aus Protest den Parlamentssaal und nahmen an der Abstimmung nicht teil. Das Votum ging dementsprechend 157 zu eins aus.
Das Gesetz verbietet Bücher und Filme in denen Sexualität dargestellt wird, die von der heterosexuellen abweicht – und jegliche Bildungsprogramme und Aufklärungsbücher, die das Thema zum Gegenstand haben. Auch Werbung, die Homosexuelle oder Transsexuelle als “normal” darstellen, ist verboten. Damit stellt sich die Regierung Urban und die Mehrheit des ungarischen Parlaments gegen alle Diskriminierungsverbote, die inzwischen angeblich zu den europäischen “Grundwerten” gehören, und vor allem zum gesetzlichen Grundlagen der Gemeinschaft. Mit dieser Kampfansage fordert Urban die EU nun freut offen heraus. Die Frage bleibt, ob die EU sich als zahnloser Tiger erweisen wird.

Rückblick, 18.6.2020: Der Europäische Gerichtshof entscheidet zugunsten der Klage der Europäischen Kommission gegen das ungarische NGO-Gesetz aus dem Jahr 2017, dass Nichtregierung-Organisationen, die Spenden aus dem Ausland erhalten, benachteiligt und öffentlich an den Pranger stellt. Das Gesetz richtet sich in der öffentlichen Wahrnehmung insbesondere gegen Stiftungen von George Soros, gegen den der ungarische Ministerpräsident Orban seit Jahren antisemitische Kampagnen fährt, mit denen er für sich im Lande erfolgreich Stimmung macht. Die von George Soros gegründete Central European University, die dazu beitragen sollte, eine demokratische und liberale Wissenschaftspolitik zu unterstützen, hat er auf diese Weise inzwischen aus Budapest nach Wien vertrieben. Neben dem NGO-Gesetz gab es die unterschiedlichsten Denunziationen und Schikanen. Von Orban kontrollierte Zeitungen veröffentlichten Listen von angeblichen „Soros-Söldnern“ und Strafverfahren schüchterten Kritiker seiner Asyl-Politik ein, denen Strafen wegen Begünstigung von Schlepperei angedroht wurden, selbst wenn es sich dabei nur um Vorlesungen an der Central European University über Migrationspolitik ging.
Die Luxemburger Richter gaben der EU-Behörde nun Recht und sprachen von »diskriminierenden und ungerechtfertigten Beschränkungen«. Diese verstießen sowohl gegen die EU-Verträge als auch gegen die Charta der EU-Grundrechte. Die Luxemburger Richter wiesen in ihrem Urteil zudem darauf hin, dass das NGO-Gesetz die in der Grundrechte-Charta verankerten Rechte auf Versammlungsfreiheit, auf Achtung des Privat- und Familienlebens und auf Schutz personenbezogener Daten verletze. Es ist freilich nicht zu erwarten, dass das Luxemburger Urteil Eindruck auf Orban machen wird. Auf ähnliche Urteile reagierte er bislang mit weiteren Verschärfungen seiner Politik.

“Corona ist nicht gefährlich”

Rückblick, 17.6.2020: Gestern hielt der Vorsitzende der FPÖ, Norbert Hofer, auf einer FPÖ-Demonstration am Viktor-Adler-Markt in Wien eine seiner üblichen Hetzreden. Die seinem Ruf als das “gemäßigte” Gesicht der Partei seltsamerweise keinen Abbruch tun.
„Ich fürchte mich nicht vor Corona, Corona ist nicht gefährlich. Da ist der Koran gefährlicher, meine Lieben, als Corona.“ Hofer kassiert dafür nun einige Anzeigen. Aber das gehört wohl zum Kalkül. Denn so kann er sich einmal mehr als Opfer inszenieren. Nach deutlicher Kritik an Hofer seitens muslimischer Gemeinden, der protestantischen Kirche und der Israelitischen Kultusgemeinde, reagiert nach einigen Tagen auch die katholische Kirche mit dem eher allgemeinen Aufruf, keine Religion „öffentlich schlecht zu machen“, so Kardinal Schönborn.

Wie “ungefährlich” Corona ist, erleben derzeit vor allem die Ärmsten. Der neueste Ausbruch der Corona Infektion in einem Deutschen Schlachtbetrieb wirft erneut ein Schlaglicht auf die besondere Gefährdung von Arbeitskräften in Billiglohnsegmenten, vor allem Wanderarbeiter aus Osteuropa, die unter besonders prekären und beengten Verhältnissen in irgendwelchen substandard Wohnheimen untergebracht werden. Mindestens 650 Neuinfektionen in der Fleischfabrik Tönnies in Westfalen sind vermutlich darauf zurückzuführen. Auch in Österreich arbeiten Billig-Arbeitskräfte nach wie vor unter menschenunwürdigen Verhältnissen, zum Beispiel bei Spargelbetrieben im Marchfeld, die ihre Arbeitskräfte aus Osteuropa in skandalösen Unterkünften unterbringen.

Sicherung der Außengrenzen

Rückblick, 13.6.2020: Seit einigen Tagen häufen sich Berichte über Misshandlungen von Flüchtlingen. Kroatien „sichert“ die EU-Außengrenze und sichert sich damit vor allem den Beifall aller europäischen Rechtspopulisten von Sebastian Kurz bis Viktor Orban. Flüchtlinge, die von Bosnien und Herzegowina versuchen nach Kroatien zu gelangen, sollen nach Ermittlungen von Amnesty International wiederholt geschlagen, getreten und misshandelt werden. Amnesty berichtet von zahlreichen komplizierten Knochenbrüchen und schweren Kopfwunden. Das Kroatische Innenministerium weist alle entsprechenden Vorwürfe umgehend zurück. Die EU-Kommission verlangt Aufklärung: „Wir sind sehr besorgt über die Vorwürfe unmenschlicher und erniedrigender Behandlung von Migranten und Asylsuchenden an der kroatischen Grenze zu Bosnien und Herzegowina“. Damit bezieht die EU-Kommission zum ersten Mal deutlich Stellung. Schon im Januar hatten sich Berichte gehäuft, dass es regelmäßig und systematisch zu Gewalttaten kroatischer Grenzbeamten gegen Flüchtlinge komme. Die schwedische EU-Abgeordnete Malin Björk hatte sich an der kroatischen Grenze selbst ein Bild davon verschafft und vergeblich versucht eine eindeutige Reaktion der EU-Kommission zu erreichen.
Auch das Flüchtlingskommissariats der Vereinten Nationen fordert nun eine unabhängige Kommission zur Prüfung der Vorwürfe.

Europaplätze

Europaplätze gibt es in vielen Städten. Sie verkörpern Verbindungen und politische Bekenntnisse zu Europa. Mal mehr mal minder mit Leben erfüllt. Wir haben – gemeinsam mit dem Schweizer Künstler Yves Metzler – in Hohenems Menschen nach Plätzen gefragt, die sie mit Europa verbinden. Ein Projekt in Kooperation mit dem Europe Direct Vorarlberg und der Stadt Hohenems.

Der “Un-Platz” in Hohenems. Ausgewählt vom Visionscafe.

Yves Mettler (*1976, Morges/CH) erforscht in seinem Langzeitprojekt Europaplätze innerhalb und außerhalb Europas. Plätze an denen Europa gebaut und neu erfunden wird, improvisiert und häufig genug vergessen.
Anknüpfend an unsere aktuelle Ausstellung Die Letzten Europäer im Jüdischen Museum Hohenems konfrontierte er zwölf Projektgruppen aus Hohenems mit der Frage nach möglichen Europaplätzen in der Stadt, vom Gesangsverein Nibelungenhort bis zum Sprachcafe für Flüchtlinge, von der Wirtschaftsgemeinschaft bis zu den Jugendlichen des Jugendzentrums, von den Lehrlingen und Mitarbeitern der Fa. Collini bis zum “Kulturkreis”, von den städtischen Angestellten bis zur Bürgerinitiative “Visionscafe”. Ihre jeweilige Platz-Wahl und ihre unterschiedlichsten Erzählungen darüber machten die Gruppen gemeinsam mit Yves Mettler am Samstag, den 12. Juni, durch die Aufstellung von zwölf umgestalteten Baustellenzeichen im Stadtraum sichtbar. In den Farben und Sprachen Europas markieren sie nun bis Oktober die temporären Europaplätze in Hohenems.

Zu den 12 Plätzen und Geschichten gehts hier lang:

Die Europaplätze in Hohenems

Vermischtes EU-Bashing

Rückblick, 12.6.2020: Österreichs Kanzler Kurz hat dem Kurier ein „großes Sonntagsinterview“ gegeben. Redakteur Richard Grasl ist der richtige Mann dafür. Er fragt auch dann nicht kritisch nach, wenn der Kanzler für jeden offensichtlich lügt. Thema ist der den beiden Plauderern vollkommen unverständliche Umstand, dass an der Politik des Kanzlers Kritik laut wird. Die kommt von Gastronomen und anderen Kleinbetrieben, bei denen die vollmundig angekündigte Unterstützung („Koste es was es wolle“) partout noch nicht ankommen will. Kanzler Kurz erklärt leutselig wer daran schuld ist. Nämlich die EU. Er scheint sich immer noch, oder schon wieder im Wahlkampfmodus zu befinden. Und buhlt nach wie vor um rechte bis rechtsradikale Wählerstimmen. Glaubt er seine Lügen selbst?
„Die Schweiz ist unter den Top-Staaten – auch weil sie nicht an EU-Regeln gebunden ist.“ Natürlich weiß, wie Stefan Brocza gestern im Standard süffisant anmerkt, auch ein Studienabbrecher der Rechtswissenschaften, erst recht aber ein ehemaliger Außen- und EU-Minister, dass die Schweiz durch zahllose Abkommen am EU-Binnenmarkt teilnimmt und ebenso viele Gesetze längst an EU-Recht angepasst und deren Regelwerk in großen Teilen übernommen hat. Dass Richard Grasl – 2018 von der ÖVP und René Benko als Mitglied der Kurier-Chefredaktion installiert, um das Blatt zusammen mit Martina Salomon auf türkise Linie zu bringen – bei solch munterem EU-Bashing kritisch nachfragen würde, wäre freilich zu viel verlangt. Der Mann trägt seit einer Verurteilung über die höflich geschwiegen wird eine elektronische Fußfessel, und die zwickt in solchen Fällen wohl schmerzhaft.

Die Europäische Union fordert die Stärkung biologischer Landwirtschaft und will mit ihrer Landwirtschafts- und Biodiversitätsstrategie den Wandel der europäischen Landwirtschaft vorantreiben. Österreichs Landwirtschaftsministerin Elisabeth Köstinger steht auf der Bremse und verlangt eine Studie, die die Folgen der Umstellung auf biologische Landwirtschaft untersuchen soll.
Biologische Landwirtschaft würde, so Köstinger, die Produktivität senken und damit Europa stärker von Landwirtschaftsimporten abhängig machen. Nehmen wir Frau Köstinger mal – absurderweise – einen Moment langdieses Argument ernst, dann will sie uns also sagen, dass die österreichische Landwirtschaft also Bio vor allem für die Tourismuswerbung und das „grüne Image“ produziert. Sonst aber weiter herkömmliche Massenproduktion betreiben soll. Soviel Ehrlichkeit sind wir gar nicht mehr gewohnt. Der EU-Rechnungshof warnt hingegen vor dem zunehmenden Rückgang von Bio-Diversität, durch die nach wie vor betriebene konventionelle Landwirtschaft und ihre Monokulturen.

Seit drei Tagen gilt für Menschen, die nach Großbritannien einreisen, eine 14tägige Quarantänepflicht. Wer sich nicht an die Selbstisolation hält, muss mit einem Bußgeld von 1000,- Britischem Pfund rechnen. Die neue Verordnung macht nur Ausnahmen für Reisende aus Irland, der Isle of Man und den Kanalinseln, sowie für Lastwagenfahrer im Fernverkehr und medizinisches Personal. Gesundheitsexperten rätseln öffentlich, warum Großbritannien diese Maßnahme erst jetzt einführt. Die zögerliche Einführung von Corona-Maßnahmen in Großbritannien hat dazu beigetragen, dass das Land die höchste Zahl von Toten aufweist, die an der Pandemie gestorben sind. Offiziell liegt die Zahl der Toten inzwischen bei 41.000. Man geht aber von einer extrem hohen Dunkelziffer aus. Dass nun vor allem der Schutz Großbritanniens vor infizierten Ausländern im Mittelpunkt der Politik steht, halten viele Kritiker für reine Propaganda. Schließlich sei das Risiko sich in Großbritannien anzustecken sehr viel höher, als in den meisten anderen Ländern Europas.

Von Ischgl bis Island

Rückblick, 7.6.2020: Tirols Landeshauptmann Günther Platter brüstet sich in der ORF-Pressestunde mit dem Umgang des Landes Tirol mit Corona. Er behauptet, in Ischgl hätte es erst am 7. März den ersten Corona-Fall gegeben. Island hat die Tiroler Behörden allerdings schon in der Nacht vom 4. auf den 5. März offiziell darüber informiert, dass 14 in Ischgl infizierte Urlauber am 29. Februar via München zurückgekehrt sind, das Virus also offenbar schon im Februar in Ischgl in fünf Hotels grassierte. Testungen wurden danach in den betroffenen Hotels nur spärlich durchgeführt. Selbst nach der behördlichen Schließung am 10. März hatten zahlreiche Aprés-Ski-Lokale in Ischgl weiter geöffnet, ohne dass die Polizei eingeschritten ist.
Landeshauptmann Platter schließt personelle Konsequenzen aus. Es sei, so sagt er, doch unbestritten, dass das Virus, das sich auf der ganzen Welt ausgebreitet hat, gar nicht in Tirol entstanden sei. Das freilich hat auch niemand behauptet.

Am Höhepunkt habe das Bundesland 3.500 Erkrankte gezählt, nun seien es zehn. „Da sieht man, wie hier gearbeitet wurde“, so Platter. „Das ist eine Erfolgsgeschichte, die ich mir nicht schlechtreden lasse“, sagt Platter.
Die Zahl der bestätigten Corona-Fälle pro Hunderttausend Einwohner hält in Tirol nun bei 467, im Vergleich dazu in den übrigen Bundesländern (Wien eingeschlossen) bei 163. Um nach dem Desaster in Ischgl noch größere Infektionsraten zu vermeiden, musste das ganze Land in Quarantäne geschickt werden. Nicht nur „Ausländer“ sondern auch Österreicher, die dort keinen Wohnsitz hatten, wurden gezwungen, das Land zu verlassen. Die Arbeitslosigkeit im Land hat sich verdreifacht (im übrigen Österreich verdoppelt). Im Bezirk Landeck liegt sie derzeit bei 24%. Eine Bereitschaft, diese „Erfolgsgeschichte“ kritisch aufzuarbeiten besteht scheinbar noch nicht.

In Israel ist die Gefahr einer Corona Infektion offenbar wieder größer geworden. Seit Ende Mai steigen die Zahlen der Corona-Fälle an und insbesondere Schulen gelten als Infektionsherde. 130 Schulen und Kindergärten mussten deshalb erneut geschlossen werden.
In Österreich ist die Maskenpflicht beim Betreten der Schule und in den Schulgebäuden außerhalb des Unterrichts von Bildungsminister Faßmann nach Pfingsten wieder aufgehoben worden. Lehrer berichten nun davon, dass damit auch die Bedeutung anderer Maßnahmen (Abstand, Händewaschen etc.) in Frage gestellt worden ist und deren Einhaltung deutlich zurückgeht.

In den letzten Tagen haben weltweit mehr als eine Million Menschen gegen Rassismus und Polizeigewalt demonstriert, in Frankreich, Deutschland, Großbritannien, Österreich, Australien und erneut in den USA, aber auch in Tunesien, Thailand, Japan oder Südkorea. Alleine in Wien sind am 4. Juni 50.000 Menschen, statt der erwarteten 3000, auf die Straße gegangen. Die meisten Demonstrationsteilnehmer trugen Masken. An eine Einhaltung des Sicherheitsabstandes war angesichts der Menschenmassen allerdings nicht zu denken. Die Wiener Polizei unternahm allerdings alles nötige, um dem rasch waschenden Demonstrationszug mehr Raum zu verschaffen und schritt ansonsten nicht ein. Einige Polizeifahrzeuge zeigten selbst den hashtag #blacklivesmatter als digitale Laufschrift. Die gesamte Demonstration verlief friedlich. Corona-Cluster sind nach dieser Demonstration nicht aufgetreten.

Leitkultur: Heuchelei!

Europäisches Tagebuch, 4.6.2021. In Europa wird gerne über sogenannte „Leitkulturen“ geredet. Da ist vom Recht auf Schweinshaxen die Rede (Bayern) und vom christlich-jüdischen Abendland (Österreich), da verteidigt Frankreich seinen angeblichen Laizismus, also seine Weltlichkeit, viele Polen glauben daran Jesus unter den Völkern zu sein und die ungarische Regierung macht aus ihre antisemitischen Verschwörungstheorien ein nationales Projekt. In Österreich regiert derzeit das „politische Christentum“ und droht Kirchenvertretern, die die Menschenrechte auch von Flüchtlingen politisch verteidigen wollen, mit dem Ende von Steuerbefreiungen. Man fragt sich was dieses Europa, das Europa der „Leitkulturen“, wirklich kulturell verbindet. Die Antwort darauf ist ernüchternd. Es ist die Fähigkeit zu schamloser Heuchelei.

Als es vor Jahren darum ging an französischen Schulen den Laizismus durchzusetzen, da wurden jüdische Kippot, muslimische Kopftücher (egal welche) und GROSSE Kreuze verboten. Es soll bis dahin selten vorgekommen sein, dass Schülerinnen oder Schüler mit einem großen Kreuz auf der Schulter im Klassenraum erschienen sind. Seitdem ist das Kopftuch zu einem Zeichen der Rebellion junger Frauen gegen die Gesellschaft geworden und die „Integration“ in Frankreich wurde zurückgeworfen, statt befördert.

Österreichische Politiker aus dem Lager des „politischen Christentums“ (also jene, die mit dem Schwingen von Kreuzen und der Teilnahme an Massengebeten charismatischer Prediger sich ihre eigene Macht sichern), sie sind ganz vorne dabei, wenn es darum geht, den sogenannten „politischen Islam“ zu bekämpfen. Und die vollkommen unschuldig dreinschauen, wenn der „ungeheuerliche“ Verdacht auftaucht, damit könnte etwa ein Pauschalverdacht gegenüber allen Muslimen gemeint sein. Es weiß ja jeder ohnehin, wie es gemeint ist.
So war es auch, als die Vorarlberger Landesregierung Minarette verbieten wollte, und stattdessen für „Kultusbauten“ ein besonderes Genehmigungsverfahren schuf. Auch die neugegründete „Dokumentationsstelle politischer Islam“ darf natürlich offiziell nicht so heißen, das wäre ja verfassungswidrig. Also nennt man sie „Österreichischer Fonds zur Dokumentation von religiös motiviertem politischem Extremismus“. Der nun als erstes eine „Islamlandkarte“ publiziert, die jedem potentiellen islamfeindlichen Gewalttäter endlich ein praktisches Adressenverzeichnis aller (!) auch noch so harmlosen Moscheenvereine und ihrer Repräsentanten bietet.

Letztes Jahr gab es nicht nur 500 registrierte antisemitische Zwischenfälle in Österreich (die weitaus meisten davon übrigens mit rechtsextremem Hintergrund) sondern auch dreimal so viele islamfeindliche Aktionen in Österreich.
Die „Islamlandkarte“ hat in den wenigen Tagen, in denen sie am Netz war, schon den gewaltbereiten „Identitären“ gute Dienste geleistet. Vor vielen Moscheenvereinen haben islamfeindliche Aktivisten „Warnschilder“ aufgehängt, die sich nur als unverhohlene Drohungen lesen lassen.  Inzwischen ist die „Islamlandkarte“ vorläufig vom Netz genommen worden, angeblich wegen technischer Probleme. Die Universität Wien hat sich von dem Projekt, an dem ein Professor beteiligt war, öffentlich distanziert. Aber Österreichs „Integrationsministerin“ tut noch immer so, als sei alles „gut“ gemeint.

Doch in diesem Fall ist das Gegenteil von gut keineswegs „gut gemeint“. Hier ist alles so abgrundtief schlecht gemeint, wie es dann auch wirkt.

 Rückblick, 4.6.2020: Österreich öffnet seine Grenzen zu den Nachbarstaaten wieder. Ausgenommen bleibt Italien, auch wenn dort die Infektionszahlen ebenfalls stark gesunken sind. Italien hat seinerseits die Grenze geöffnet und hofft auf österreichische und vor allem auf deutsche Urlauber. Dabei geht es für eine der wichtigsten italienischen Branchen um die Existenz. Die Österreichische Blockade sorgt in Italien zunehmend für Proteste, nachdem auch die österreichische Position gegenüber Wiederaufbauhilfen der EU für Irritation gesorgt hat. Die Vermutung steht im Raum, dass Österreichs Politik nicht nur von Besorgnis gegenüber Infektionsrisiken geprägt ist, sondern auch den Versuch darstellt seine eigenen, schwer gebeutelten Touristikdestinationen im Corona-Sommer auf Kosten Italiens zu begünstigen.

 

Corona-Verschwörungstheorien

Rückblick, 30.5.2020: 20% der Briten glauben, die Juden haben Corona erschaffen, um der britischen Wirtschaft zu schaden und daraus finanzielle Vorteile zu ziehen. Genauer: „Demnach stimmten 5,3 Prozent der Befragten «ein wenig» überein, 6,8 Prozent sagten, sie würden «moderat übereinstimmen», 4,6 Prozent waren weitgehend einverstanden und 2,4 Prozent waren «vollkommen einverstanden» mir der Behauptung, Juden hätten den Virus geschaffen, um die Wirtschaft aus Gründen des finanziellen Profits zum Zusammenbruch zu führen. Rund 80,8 Prozent stimmten überhaupt nicht überein mit dieser Aussage. 40 Prozent glauben, dass der Virus von mächtigen Kreisen vorsätzlich in Umlauf gebracht worden sei, um die Kontrolle auszuüben. 20 Prozent sind zumindest irgendwie der Ansicht, der ganze Virus sei ein schlechter Witz.“ (Quelle: tachles)

Vor drei Tagen hat EU-Kommissionspräsidenten Ursula von der Leyen einen Plan für Europäische Wiederaufbauhilfen vorgelegt, der insgesamt 750 Milliarden umfassen soll. Der größere Teil davon soll als Zuschüsse fließen, ein Teil aber auch als langfristige Kredite. Dafür sollen die EU-Mitglieder endlich stärker für diese Gemeinschaftsausgaben in die Pflicht genommen werden. Vor allem soll die EU auch über eigene Einnahmen verfügen, zum Beispiel durch eine Steuer für die international operierenden Digitalkonzerne, deren Gewinne bislang in Europa nur marginal besteuert werden. Ob dieser Versuch, Europa in der Krise zu stärken, Erfolg haben wird, bleibt abzuwarten. Der Widerstand – nicht zuletzt von Seiten der sich als „sparsame vier“ definierenden Staaten, nämlich Österreich, die Niederlande, Schweden und Dänemark – ist keineswegs überwunden.

Louise Weiss: Die Alterspräsidentin

Europäisches Tagebuch, 26.5.2021: Nach ihr ist heute das Hauptgebäude des europäischen Parlamentes in Straßburg benannt. Heute vor 38 Jahren starb Louise Weiss in Paris.
Geboren wurde sie 1893 in Arras, ihre Eltern – die Mutter jüdisch, der Vater protestantisch – stammten aus dem Elsass. Schon während des ersten Weltkriegs, der zwischen Frankreich und dem Deutschen Reich nicht zuletzt symbolisch um Elsass-Lothringen gefochten wurde, begann Louise Weiss – als Kriegskrankenschwester arbeitend – unter Pseudonym zu schreiben. Es sollten noch viele Romane, Theaterstücke und politische Schriften folgen, zum Beispiel über die neugegründete Tschechoslowakei, der Weiss auch in privaten Beziehungen besonders zugetan war. Bekannt wurde sie aber auch durch Dokumentarfilme und literarische Berichte von ihren Reisen, die sie nach Japan, China, Indien und Vietnam, nach Kenia und Madagaskar, Alaska und in den Nahen Osten unternahm. Ihre Kunst- und ethnografische Sammlung befindet sich heute im Chateau de Rohan im elsässischen Saverne.
1918 schon gründete sie, gerade einmal 25jährig, die Zeitschrift L’Europe Nouvelle, in der sie für französisch-deutsche Verständigung und die Vereinigung Europas warb. Zu den Autoren gehörten Thomas Mann, Aristide Briand, Gustav Stresemann oder Rudolf Breitscheid. 1930 gründete sie die École de la Paix, ein privates Institut für internationale Beziehungen – dessen Träume 1933 mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland vorerst ausgeträumt waren. 1934 konzentrierte sich Louise Weiss deshalb auf eine andere gesellschaftliche Auseinandersetzung, den Kampf um das Frauenwahlrecht. Gemeinsam mit Cécile Brunsvig gründete sie die Vereinigung La femme nouvelle, ihre Kampagnen sorgten für öffentliches Aufsehen, nicht nur, als sie sich mit anderen Sufragetten in Paris an eine Laterne anketteten. Ihre Klage vor dem französischen Staatsrat, dem Conseil d’Etat blieb erfolglos. Es sollte noch zehn Jahre dauern, bis in Frankreich das Frauenwahlrecht eingeführt wurde. Zu dieser Zeit war Louise Weiss in der Resistance gegen die nationalsozialistischen Besatzer und das französische Vichy Regime aktiv. 1945 begründete sie mit Gaston Bouthoul ein Institut für Kriegs- und Konfliktforschung in London. Eine Aufnahme in die Académie Francaise wurde ihr noch 1975 verweigert. Erst 1980 wurde mit Marguerite Yourcenar die erste Frau in diesen bislang Männern vorbehaltenen elitären Zirkel zugelassen.

1979 wurde Louise Weiss bei der ersten Direktwahl des Europaparlaments für die Gaullisten zur französischen Abgeordneten gewählt. Und sie war bis zu ihrem Tod 1983 dessen erste Alterspräsidentin. In den vielen Erinnerungen an die „Gründerväter“ Europas kommt sie seltsamer Weise nicht vor. Aber sie war ja auch kein „Vater“.

Rückblick, 26.5.2020: 20% der Briten glauben, die Juden haben Corona erschaffen, um der britischen Wirtschaft zu schaden und daraus finanzielle Vorteile zu ziehen. Genauer: „Demnach stimmten 5,3 Prozent der Befragten «ein wenig» überein, 6,8 Prozent sagten, sie würden «moderat übereinstimmen», 4,6 Prozent waren weitgehend einverstanden und 2,4 Prozent waren «vollkommen einverstanden» mir der Behauptung, Juden hätten den Virus geschaffen, um die Wirtschaft aus Gründen des finanziellen Profits zum Zusammenbruch zu führen. Rund 80,8 Prozent stimmten überhaupt nicht überein mit dieser Aussage. 40 Prozent glauben, dass der Virus von mächtigen Kreisen vorsätzlich in Umlauf gebracht worden sei, um die Kontrolle auszuüben. 20 Prozent sind zumindest irgendwie der Ansicht, der ganze Virus sei ein schlechter Witz.“ (Quelle: tachles)

 

Unsere Europakarte – neue Kommentare unserer Besucher:innen

Europäisches Tagebuch, 20.5.2021: Unsere Europakarte ist inzwischen voller kontroverser Besucherkommentare zur Zukunft Europas: Bald werden wir Platz machen müssen für neue.

Rückblick, 20.5.2020: Deutschland und Frankreich trauen sich, den europäisch-gordischen Knoten zu durchschlagen und endlich über konkrete, gemeinsame europäische Wiederaufbauhilfe zu sprechen. Der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz will gemeinsam mit den Niederlanden, Schweden und Dänemark einen „alternativen Plan“ vorlegen.

Die von der österreichischen Regierung versprochenen Hilfen für die Wirtschaft dauern zu lange? Was fällt der Wirtschaftsministerin dazu ein? Natürlich, die EU ist schuld, ihre vielen Vorschriften. In Wirklichkeit sind die Ministerien und die Wirtschaftskammer angesichts der schieren Zahl von Anträgen und den eigenen, teils widersprüchlichen neuen Vorschriften und Erlassen heillos überfordert.

Innenminister Nehammer bietet „Wien Hilfe an“. Die Polizei solle das Contact-Tracing in Wien und die Kontrolle von Quarantänemaßnahmen „unterstützen“. Aus dem Gesundheitsministerium wird zur gleichen Zeit abgewunken. Die Kooperation mit der Bundeshauptstadt funktioniere hervorragend. Man werde ständig hervorragend informiert. Die neu aufgetretenen Coronainfektionen in Postverteilzentren in Wien und Niederösterreich, sowie in einer Asylunterkunft in Wien nutzt die ÖVP hingegen zum Wahlkampfauftakt. Dabei sind die Zahlen in Wien im Vergleich zu manchen anderen österreichischen Bundesländern, erst recht aber zu anderen europäischen Metropolen nach wie vor eher niedrig. Die neuen Fallzahlen beruhen hingegen auf langsam besser funktionierendem Contact-Tracing und entsprechenden Testungen.

Krieg ohne Ziel

Europäisches Tagebuch, 18.5.2021: Der Österreichische Kanzler hat die Fahne wieder eingepackt. Tagelang hing über dem Kanzleramt am Ballhausplatz eine israelische Fahne. Wie es hieß aus “Solidarität mit Israel”, das unter den Terrorangriffen der Hamas leide. Der Kanzler hat dieses Zeichen gegen Bedenken in den eigenen Reihen durchgesetzt. Tatsächlich ging es wohl vor allem um politisches Kleingeld. Auf Kosten der Menschen in Israel und Palästina. Denn wenn es um Solidarität zwischen Sebastian Kurz und Benjamin Netanyahu geht, dann ist von österreichischer Neutralität keine Rede mehr. Auch nicht angesichts eines Bürgerkriegs, in dem beide Seiten tun was sie können, um den Konflikt anzuheizen. Aber eine Seite hat dazu die effizienteren Mittel. Das sollte man dabei nicht ganz vergessen.

Wer sich über die Hintergründe der gegenwärtigen Raketenattacken der Hamas und der Luftangriffe auf den Gaza-Streifen informieren will, wird dabei in europäischen Zeitungen nur sporadisch fündig, und wer es genauer wissen will, muss in die New York Times oder in israelische Zeitungen wie Haaretz schauen. Das ganze Desaster begann sich schon im April abzuzeichnen. So fallen in diesem Jahr gleich mehrere Anlässe für allfällige Provokationen zeitlich zusammen. Die israelischen “Nationalfeiertage”, nicht zuletzt das Heldengedenken am sogenannten Jom Hazikaron, dem Tag der Erinnerung an die gefallenen Soldaten, gingen Hand in Hand mit dem Beginn des Fastenmonats Ramadan.
In den besetzten Palästinensergebieten waren wieder einmal Wahlen angesetzt. Die letzten fanden vor 15 Jahren statt – und auch diesmal wurden sie wieder abgesetzt. Wieder einmal sollten die Palästinenser in Ostjerusalem an den Wahlen nicht teilnehmen dürfen. Und die Fatah fürchtete einen Wahlsieg der Hamas.
Auf der anderen Seite musste Benjamin Netanyahu fürchten, dass sich tatsächlich eine Koalition gegen ihn formieren könnte. Allein das reichte schon, um mit Dynamit zu spielen. Und das war im April reichlich vorhanden. Von der Weltöffentlichkeit unbemerkt hatte dieses neue Drama, wenn man nach einem symbolischen Turning Point sucht, wohl am Abend des 13. April begonnen. Die Gedenkfeier zum Jom Hazikaron soll wieder einmal an der Klagemauer stattfinden. Doch es ist auch der erste Tag von Ramadan, der höchste muslimische Feiertag. Und israelische Soldaten stürmen die Al Aqsa Moschee, um dem Vorbeter und seinem Mikrophon den Saft abzudrehen. Es gibt Prioritäten.
Zur gleichen Zeit kämpfen sechs arabische Familien in Ost-Jersualem gegen ihre Ausweisung aus ihren Wohnungen in Sheikh Jarrah. Die Häuser in denen sie leben, sind juristisch umstritten, seit dem es jüdischen Jerusalemern nach 1967 möglich ist, ihren 1948 durch die Vertreibung aus Ost-Jerusalem verlorenen Immobilienbesitz wieder zu reklamieren, während es umgekehrt für arabische Vertriebene aus dem Westen der Stadt bis heute keine Chance für eine Rückgabe ihres verlorenen Besitzes gibt. Noch steht die Entscheidung des Höchstgerichts über den akuten Fall aus.
Die Proteste gegen die Ausweisung begannen im April Fahrt aufzunehmen. Und wenige Tage nach dem ersten Zwischenfall auf dem Tempelberg, für die Araber der Haram al-Sharif, lässt die israelische Regierung den Platz am Damaskustor sperren, dem wichtigsten Zugang für die Muslime der Stadt zur Altstadt und ihren wichtigsten Moscheen, all dies während des Ramadan. Und es kommt zu immer brutaleren Polizeieinsätzen gegen die Proteste. In Sheikh Jarrah genauso wie auf dem Tempelberg. Blendgranaten werden eingesetzt,  auch auf dem Gelände der Al Aqsa Moschee, und dementsprechend kommt es zu Schwerverletzten. Angriffe von Arabern auf Juden heizen die Stimmung weiter auf, und schon am 21. April ziehen hunderte von israelischen Rechtsextremen der Gruppe “Lehava” durch die Altstadt, skandieren “Tod den Arabern” und greifen wahllos arabische Passanten an.

Die Hamas lässt nicht lange darauf warten,  diese Eskalation zu nutzen, um sich als die wahren Verteidiger palästinensischer Interessen in den Vordergrund zu spielen. Während die Behörde des Haram al-Sharif und die Palästinenserregierung von Abbas als ohnmächtige Pappkameraden dastehen, lassen die Hamas ihre Raketenarsenale los. Siebenundzwanzig Tage nach der Provokation vom 13. April.
Inzwischen ist freilich noch etwas anderes geschehen. Aus dem Zusammenleben von jüdischen und arabischen Israelis in den gemischten Städten Haifa und Akko, Jaffa und Lydda sind bürgerkriegsähnliche Verhältnisse geworden. Lange Zeit hat man der Weltöffentlichkeit vorgespielt, dass dort ein harmonisches Zusammenleben des “jüdischen Staates und seiner Minderheiten” möglich sei. Und wer guten Willens war, auf beiden Seiten, hat alles dafür getan, dass diese Möglichkeit so gut es ging, auch gelebt wurde, allen Widerständen und Diskriminierungen, Unkenrufen und Warnsignalen zum Trotz. Nun brennen Moscheen und  Synagogen, arabische und jüdische Häuser. Bewaffnete Gangs ziehen durch die Straßen und verbreiten Pogromstimmung. Aber auch in diesem Konflikt macht die Regierung deutlich, wer der Stärkere ist, und wer den Schutz der Staatsmacht tatsächlich in aller Konsequenz genießt. Auch, wenn viele Polizisten tatsächlich versuchen, die Gewalt rechtsradikaler jüdischer Mobs ebenso einzudämmen und nicht nur gegen Araber vorzugehen. Die offizielle Rhetorik hingegen weiß genau, wer und was gemeint ist, wenn von “Pogromen” die Rede ist. Nur die eine Seite. Und die israelische Regierung und ihre Freunde, in Europa und den USA, sie schütten damit fortwährend Öl ins Feuer.

Während am Wiener Kanzleramt, genauso wie an manchen deutschen Rathäusern und Regierungsgebäuden die israelische Fahne weht, versucht internationale Diplomatie beide Seiten zur Beendigung der Gewalt zu bewegen. Aber die israelische Regierung hat keinen Plan, außer den, an der Macht zu bleiben, und einen “Sturz” von Netanyahu zu verhindern. Und solange geht das Bombardement gegen den Gaza-Streifen ungehemmt und ziellos weiter. Während die Hamas “ihr” Kriegsziel längst erreicht hat. Sie haben symbolisch schon gesiegt, egal, wieviele Häuser in Gaza Netanyahu noch in Schutt und Asche legen lässt, egal, wie viele Zivilisten auf beiden Seiten daran glauben müssen. Es werden auf palästinensischer Seite in jedem Fall sehr viel mehr sein als auf israelischer und auch damit können die Scharfmacher auf beiden Seiten gut leben.

Und noch etwas bleibt inmitten dieser absurden und zugleich absolut erwartbaren Gewaltspirale sichtbar. Zum ersten Mal haben tatsächlich sowohl Netanyahu als auch seine Gegner etwas bislang vollkommen unmögliches in ihre Kalkulation aufgenommen, eine neue Hypothese: Keiner der beiden Lager, kann mehr ohne einen Partner aus dem Kreis der arabischen Parteien regieren. Und keiner hat diese Möglichkeit mehr ausgeschlossen. Inmitten des Wahnsinns eine vollkommen paradoxe, winzige Option auf Normalität, eines Staates, der entweder irgendwann einmal ein gemeinsamer Staat seiner jüdischen und nicht-jüdischen Bürgerinnen und Bürger sein wird. Oder am Ende gar kein Staat mehr sein wird.

Rückblick, 18.5.2020: EU-Außenbeauftragter Josep Borrell gratuliert der neuen israelischen Regierung und warnt sie zugleich im Namen der Europäischen Union davor, Teile des besetzten Westjordanlandes zu annektieren. Die Koalitionsvereinbarung der neuen israelischen Regierung unter Benjamin Netanjahu und seinem Rivalen Benny Gantz sieht vor, „die Souveränität Israels“ auf Teile des Westjordanlandes „auszudehnen“. Die EU halte daran fest, dass die EU keine Änderung der Grenzen vor 1967 ohne beiderseitige Zustimmung von Israelis und Palästinenser anerkennen würde, und eine einseitige Annexion internationales Recht verletzen würde.

Zwei der 27 EU-Staaten ihre Zustimmung zur Erklärung des EU-Außenbeauftragten verweigert haben. Die antisemitische Regierung Orban in Budapest und die österreichische Bundesregierung. Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn bedauert das Ausscheren der beiden Staaten. Das österreichische Außenministerium verweist auf eine Erklärung von Außenminister Schallenberg, dass Österreich eine „Vorverurteilung“ Israels ablehne. Man werde die israelische Regierung „an ihren Taten messen“.

Die Unsichtbaren

Rückblick, 16.5.2020: In Italien droht die Ernte zu verfaulen. Im Zeichen von Corona merkt man plötzlich, dass die „illegalen“ schwarzen Migranten in Wirklichkeit das Land ernähren. Ca. 670.000 Einwanderer ohne gültige Papiere leben schätzungsweise in Italien. Von etwa 200.000 Ausländern, die in der Altenpflege, oder als Kinder- und Dienstmädchen in privaten Haushalten arbeiten, sind 70% nicht legal beschäftigt. Neben hunderttausenden von Saisonarbeitern, die aus Nordafrika oder Rumänien eingeflogen werden, arbeiten auch mindestens 130.000 „Unsichtbare“ in der Landwirtschaft. Migranten, die ohne jeden Status untergetaucht sind und in rechtswidrigen und menschenverachtenden Lebens- und Beschäftigungsverhältnissen vegetieren. Die Bauern sparen sich die Versicherung und zahlen 20 bis maximal 30 € Lohn – am Tag. Mafiose Vermittler kassieren für den Transport zur Arbeit und für unwürdige Massenquartiere. Wer dort an Corona bekommt hat Pech gehabt. Die Landwirtschaftsministerin Teresa Bellanova weiß, wovon die Rede ist. Sie war selbst einmal Landarbeiterin. „Ich habe auf den Feldern viele Freundinnen verloren, die auf dem Arbeitsweg oder an Überarbeitung gestorben sind. Sie hatten nicht so viel Glück wie ich“, sagte Bellanova bei ihrer Vereidigung zur Landwirtschaftsministerin im vergangenen September. Nun will sie gegen die Sklavenarbeit auf den Feldern und in den Ställen vorgehen.

Doch dazu muss den „Illegalen“ zunächst ein legaler Weg aus der Unsichtbarkeit ermöglicht werden. Dagegen laufen die Populisten natürlich Sturm. Aber jetzt hat Bellanova – im Zeichen von Corona – neue Argumente. Kann sich das Land in Zeiten der Pandemie tatsächlich leisten, hunderttausende von Menschen in „systemrelevanten“ Bereichen illegal zu beschäftigen, ohne dass diese Menschen eine Chance auf ärztliche Behandlung haben? Ob das gegen die Blockade von rechts helfen wird ist freilich nicht ausgemacht.

Rückblick 15.5.2020: Der ORF berichtet über die Bedrohung der Demokratie in Ungarn. Dort werden die ersten Menschen verhaftet, weil sie sich im Internet kritisch über Orban und seine Regierung äußern. Das Ermächtigungsgesetz im Zeichen von Corona zeigt Wirkung. Das Parlament ist auf unbegrenzte Zeit in Ferien. Und das, was Orban als „Fake News“ definiert hat, also Kritik an seiner Person, kann mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft werden. Das trifft in Orbans „illiberaler Demokratie“ jetzt vor allem einzelne Menschen, denn die Medien sind in Ungarn ohnehin fast vollständig unter seiner Kontrolle. Eine Verordnung der Regierung hat schon vor einiger Zeit festgelegt, dass Medien bei bestimmten Themen vorher bei der Regierung nachfragen müssen, ob eine Berichterstattung darüber erlaubt ist…

Der ORF aber spielt Rätselraten und liest im Kaffeesatz. Tarek Leitner fragt: „Warum tut Orban das bloß?“ Es gäbe tatsächlich Leute, die glauben würden, Orban wolle eine Diktatur errichten. Kann das sein? Ernst Gelegs in Budapest wird um seine Einschätzung gebeten. Auch er sinniert, als würde er schon um seine Akkreditierung fürchten, und in seinem Vorzimmer säße die Geheimpolizei. Immerhin würde ja die Staatsanwaltschaft gar keine Anklage gegen die gerade Verhafteten erheben. Warum also macht Orban das dann bloß? Könnte es wirklich sein, dass er mit seinen Maßnahmen einfach die Leute einschüchtern wolle? Wann wird er den Ausnahmezustand wohl wieder aufheben? Praktisch gelte der ja unbegrenzt. Aber vielleicht, so Gelegs, ja frühestens Ende Juni. Ja Ende Juni, so versucht es Ernst Gelegs es mit paradoxer Pädagogik, würde Urban das wohl tun. Denn schließlich wolle Orban ja seine Kritiker Lügen strafen. Wenn er sie nicht einfach irgendwann alle verhaften lässt, wenn noch welche übrig bleiben. Und der ORF sich weiter fragen, was Orban denn damit dann bloß meinen könnte.

Stolz

Rückblick, 13.5.2020: Alles redet von Grenzöffnungen. Nur nicht für Asylwerber. Die Pläne einer Aufnahme von unbegleiteten Minderjährigen aus den Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln durch eine „Koalition der Willigen“ tröpfelt so dahin. Luxemburg und Deutschland haben ein paar Kinder aufgenommen, Großbritannien (!) und die Schweiz (!) sollen folgen, auch Belgien und ein paar andere Länder wollen mittun. Bald will man stolz die ersten 100 Kinder vorweisen, die man gnädigerweise aus der Hölle der überfüllten Lager geholt hat. Von 1600, von denen noch im März großartig die Rede war. Österreich ist natürlich eh nicht dabei. Darauf sind wahrscheinlich auch noch manche Leute stolz.

In den USA gibt es inzwischen nach Schätzungen über 80.000 Coronatote. In Großbritannien über 40.000.