Europäisches Tagebuch, 18.9.2020:
Es geht doch. Oder jedenfalls ein bisschen. Frei nach Claude Juncker: „Ein bisschen mehr wäre etwas weniger weniger“.
Deutschland will nun offenbar zusätzlich 1553 Flüchtlinge aus dem abgebrannten Lager Moria aufnehmen. Lange Zeit gab es keine Bewegung zwischen Innenminister Seehofer und den insgesamt 150 deutschen Städten und Kommunen (incl. Berlin), die forderten, Flüchtlinge aufnehmen zu dürfen. Immer wieder war davon die Rede, dass es keinen deutschen Alleingang geben dürfe. Nach der Katastrophe auf Lesbos haben sich nun Kanzlerin Merkel, Innenminister Seehofer und Vertreter der SPD doch über ein anderes Vorgehen einigen können. Die mehr als 1500 Flüchtlinge aus Moria sollen insgesamt 408 Familien umfassen, darunter auch schon anerkannte Flüchtlinge, die trotz Asylstatus aufgrund der griechischen Asylpolitik und der immer noch hochgehaltenen „Dublin-Regeln“ auf Lesbos festsaßen.
Das Problem ist in Wahrheit natürlich weitaus größer, denn die Zustände in den griechischen „Aufnahmelagern“ auf den Inseln war und ist nicht nur auf Lesbos katastrophal, sondern wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 16.9. berichtete auch auf Chios, Leros, Kos und nicht zuletzt auf Samos. Im dortigen Lager Vathy. Sind ebenfalls fast 7000 Menschen untergebracht. Ungefähr das zehnfache seiner Kapazität. Dass die im sogenannten EU-Türkei-Deal vereinbarte mögliche Rückweisung von Migranten, deren Asylantrag negativ beschieden wurde, nicht in Anwendung kam lag im übrigen, wie die FAZ trocken vermerkt, nicht in erster Linie an der Türkei, sondern vor allem daran, dass Griechenland auf den Inseln gar nicht erst die Ressourcen aufbaute, um die Asylanträge ordentlich prüfen zu können. So nahm eine fatale Entwicklung ihren Lauf, die in erster Linie das Leid der Flüchtlinge vergrößerte. Die FAZ berichtet von alarmierenden Zuständen. Eine Frau, die dort seit sechs Monaten mit Mann und Kleinkind ausharrt, erzählt von ihrer Rettung aus dem Meer durch die griechische Küstenwache – „vor allem aber von der Tortur danach: von einem Wohncontainer mit Betten ohne Matratzen, von täglich mehrstündigem Anstehen für die Mahlzeiten in Hitze, Regen oder Kälte. Von einer teilnahmslosen Polizei, die nicht eingreift, wenn Schwächere verprügelt oder bestohlen werden. Von einem einzigen Arzt für mehrere tausend Menschen – und vor allem von der Ungewissheit darüber, wie lange all das noch die eigene Lebenswelt bleiben wird.“ Im Lager wächst Frustration, Konkurrenz verschiedener Gruppen, deren Herkunft nicht immer kompatibel ist – schließlich kommt man aus Kriegsgebieten – und natürlich bricht sich die Verzweiflung gewaltsam Bahn, in Demonstrationen und Proteste gegen die Bewacher, und meistens gegeneinander. Wie soll es auch anders sein? Auch die Bewohner der naheliegenden Griechischen Orte demonstrieren, und auch sie bleiben nicht mehr immer friedlich.
Die Bürgermeister der Inseln fordern vergeblich Solidarität der Regierung auf dem Festland, Griechenland fordert, zumeist vergeblich Solidarität mit Europa, und selbst einem Hardliner wie Horst Seehofer platzt inzwischen der Kragen, wenn er an Österreich denkt, und erklärt im Spiegel-Interview: „Ich bin von der Haltung unserer österreichischem Nachbarn enttäuscht, sich an der Aufnahme einer überschaubaren Zahl von Schutzbedürftigen aus Griechenland nicht zu beteiligen. (…) Wenn wir nichts tun, stärken wir die politischen Ränder.“ Nun ja, der politische Rand ist längst im Wiener Kanzleramt angekommen.