von Felicitas Heimann-Jelinek
Bereits der griechische Stoiker Zenon (336-270 v.u.Z.) postulierte, dass alle Menschen allein durch ihr Menschsein gleich seien. In der Praxis spielte diese theoretische Erkenntnis allerdings keine Rolle. Ihre Reflexion blieb die längste Zeit den Philosophen überlassen. Erst mit der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung fanden die Menschenrechte Eingang in ein politisches Format. Diese Rechte machten allerdings vor der indigenen Bevölkerung und vor den Versklavten halt. Auf dem europäischen Kontinent machte die Französische Revolution die Menschenrechte zum politischen Konzept. Und die französische Verfassung von 1791 schloss sogar Juden ein – allerdings noch lange keine Frauen. Für Menschen außerhalb des europäischen Kontinents galten diese Rechte selbstredend nicht.
Es sollte bis zum 10. Dezember 1948 dauern, bis die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ von den Vereinten Nationen verabschiedet wurde. Und erst am 3. September 1953 wurde die Europäische Menschenrechtskonvention ratifiziert.
Nicht alle Zuständigen sahen die Notwendigkeit einer juristischen Befassung mit Völkerrecht, Menschenrecht, Schuld und Verantwortung 1945 ein. Fritz Bauers in eben jenem Jahr erschienene Arbeit „Die Kriegsverbrecher vor Gericht“, in der er „eine Lektion im geltenden Völkerrecht“ für die Deutschen forderte, stieß zumindest in den Tätergesellschaften auf taube Ohren. Und doch entsprangen Ausarbeitung und Beschlussfassung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der direkten Reaktion auf die Gräuel, die im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg insbesondere an Zivilisten und insbesondere an den europäischen Juden und anderen Minderheiten begangen worden waren. Eine nicht unbedeutende Rolle bei der Entwicklung eines universalen Menschenrechtscodes spielte Hersch Lauterpacht.
Lauterpacht, 1897 im heute ukrainischen Schowkwa gebürtig, studierte bei dem Staatsrechtler und Rechtsphilosophen Hans Kelsen in Wien, danach an der renommierten London School of Economics. Von 1938 bis 1955 hatte er den Lehrstuhl für Internationales Recht in Cambridge inne, 1951 bis 1954 war er Mitglied der Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen, und 1955 bis zu seinem Tod 1960 war er Richter am Internationalen Gerichtshof in Den Haag.
Als junger Mensch hatte Hersch Lauterpacht die Katastrophen des Ersten Weltkriegs erfahren. Sie waren Auslöser für seine lebenslange Beschäftigung mit dem Völkerrecht sowie mit den Menschenrechten. Die elterliche Familie des Ehemanns und Vaters Hersch Lauterpacht war im altösterreichischen Lemberg ermordet worden. Dies mag seinen Fokus auf den Status des Individuums im Völkerrecht und auf die Frage nach der Verhältnismäßigkeit nationalstaatlicher Oberhoheit begründet haben. In diesem Kontext entwickelte Lauterpacht die Terminologie „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ zur Fassung der ungeheuren Gräuel an Zivilpersonen, eine Formulierung, mit der das Völkerrecht eine entscheidende Erweiterung erfuhr. In den Nürnberger Prozessen legitimierte sie die strafrechtliche Anklage und Verurteilung der Aktionen der Nazis gegen Millionen ziviler Bürger*innen. Die Definition lautete: „Mord, Ausrottung, Versklavung, Deportation oder andere unmenschliche Handlungen, begangen an jedweder Zivilbevölkerung vor oder während des Krieges; Verfolgung aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen, begangen in Ausführung eines Verbrechens oder in Verbindung mit einem Verbrechen, für das der Gerichtshof zuständig ist, und zwar unabhängig davon, ob die Handlung gegen das Recht des Landes verstieß, in dem sie begangen wurde, oder nicht.“ Der Schutz des Einzelnen vor dem Staat kann seitdem auch in der EU eingefordert werden. Juristisch dafür zuständig ist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg.
Auf übereuropäischer Ebene ist der Internationale Gerichtshof in Den Haag für völkerrechtliche Fragen und Verfahren zuständig. Als der maßgeblich an der Erarbeitung der europäischen wie der internationalen Menschenrechtskonvention Beteiligte Hersch Lauterpacht 1954 von britischer Seite als Richter an diesen entsendet werden sollte, wurden Stimmen laut, die diese Entscheidung mit dem Argument kritisierten, der renommierte Völkerrechtler sei für dieses Amt nicht „britisch“ genug, worüber sowohl seine Herkunft als auch sein Name ja eindeutig Auskunft gebe.
Am 8. Mai 1960, fünfzehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, starb Hersch Lauterpacht in London.