Das Interesse europäischer Mächte richtete sich seit dem 15. Jahrhundert auf überseeische Gebiete. Es entsprang Forscherdrang, missionarischem Eifer, Machthunger und – vor allem anderen – der Profitgier. Die indigenen Bevölkerungen bezahlten für europäische Ambitionen vielfach mit dem Leben oder ihrer Arbeitskraft, während die lokalen Eliten oft mit den neuen Herren kollaborierten. Alle europäischen Seemächte waren Kolonialmächte, wenn auch manche – wie Deutschland – nur für kurze Zeit.
Die Niederlande hatten bereits mit der Erlangung der Unabhängigkeit von Spanien im frühen 17. Jahrhundert begonnen, ein Kolonialreich zu errichten. Zu diesem gehörte beispielsweise „Niederländisch-Indien“, das heutige Indonesien, dessen Bevölkerung jahrhundertelang Zwangsarbeit für Holland leistete. Einer der frühen europäischen Kritiker des Kolonialismus war David Wijnkoop (1876–1941), der für ein demokratisches Indonesien eintrat. Der Sohn eines prominenten Rabbiners gründete die Kommunistische Partei Hollands und ihr Parteiorgan „De Tribune“. Die Zeitschrift unterstützte vehement die indonesische Unabhängigkeitsbewegung und zielte auf die Solidarisierung ihrer Leserschaft mit dem Freiheitskampf der Inselvölker ab.
^ David Wijnkoop, ca. 1935, © Nationaal Archief/Collectie Spaarnestad
< Harry van Kruiningen, Wahlplakat der Kommunistischen Partei Hollands, 1933, © International Institute of Social History, Amsterdam
> Arbeiter im Kampf gegen die von Shell verursachte Ölpest im Nigerdelta, © Ed Kashi
Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte ein Prozess ein, für den der Nationalökonom Moritz Julius Bonn (1873–1965) schon zuvor den Begriff Dekolonisation geprägt hatte. Zwischen 1947 und 1990 wurden alle vormaligen europäischen Kolonien – teils um den Preis kriegerischer Auseinandersetzungen – selbstständig, so auch Nigeria, das bis 1960 britische Kolonie war. Doch damit endete keineswegs die systematische Ausbeutung der regionalen Bodenschätze und der lokalen Bevölkerung zugunsten europäischer Interessen, wie sie beispielsweise der Shell-Konzern verfolgt. Das Unternehmen geht auf den jüdischen Kuriositätenhändler Marcus Samuel (1799–1872) in London zurück, der Muscheln nach England importierte. Einer seiner Söhne baute das Geschäft zu einem ölfördernden, -raffinierenden und -transportierenden Unternehmen aus. Aus der Fusion mit der Königlich Niederländischen Ölgesellschaft Anfang des 20. Jahrhunderts entstand letztlich die Royal Dutch Shell, heute ein globaler Konzern, der sich immer wieder mit massiven Klagen konfrontiert sieht. Nach Expertenschätzungen flossen in den letzten 50 Jahren aufgrund mangelnder Sicherheitsstandards des Konzerns zwei Millionen Tonnen Rohöl in das Nigerdelta. Die Umweltverschmutzung entzieht der Bevölkerung ihre Lebensgrundlagen und reduziert ihre Lebenserwartung drastisch. Shell wird überdies die Komplizenschaft bei der Tötung von Umweltaktivisten in Nigeria vorgeworfen.
Micha Brumlik (Berlin) über Europas Nichterinnerung an den Kolonialismus: