Industrialisierung und Kapitalismus zeitigten im 19. Jh. einen tiefgreifenden Wandel in den europäischen Gesellschaften, nicht aber in den Herrschaftsformen. Seit der Revolution von 1830 waren Arbeiter die Vorhut auf den Barrikaden. Aber nur das Großbürgertum profitierte von ihrem Kampf. Das Proletariat begann sich als soziale Klasse zu begreifen. Auf Initiative von Männern wie Ferdinand Lassalle und Karl Marx formierten sich Arbeitervereine und -parteien. Ausbeutung, krankmachende Arbeits- und Wohnbedingungen sowie hohe Kindersterblichkeit motivierten viele Jüdinnen und Juden wie Leo Trotzki, Eduard Bernstein, Rosa Luxemburg, Roosje Vos, Hilda Monte oder Mire Gola, sich in den sozialdemokratischen und kommunistischen Parteien zu engagieren. So auch der bulgarisch-griechische Journalist und Streikführer Avraham Benaroya (1886–1979). In Thessaloniki spielte er eine führende Rolle bei der Gründung der hauptsächlich jüdischen Sozialistischen Arbeiterföderation, auf Ladino „Federacion“, in welcher Juden, Bulgaren, Griechen und Türken vertreten waren. Im Wechselspiel der neueren griechischen Geschichte konnten seine Leistungen für den Kampf um den Sozialstaat erst spät anerkannt werden.
^ Avraham Benaroya, o. J. © E. Benaroya, www.avraambenaroya.com
< Makedonia, 12. Mai 1936. Fotos der blutigen Niederschlagung der Arbeiterstreiks im Mai 1936 © Digital Archive Parliament Athens
> Mitarbeiter des griechischen Gesundheitswesens protestieren gegen finanzielle Kürzungen, 2015 © Yannis Kolesidis /EPA/picturedesk.com
2010 musste Griechenland die EU um Hilfe bitten, um den finanziellen Kollaps abzuwenden. Die Troika, eine Kooperation aus Europäischer Zentralbank, Internationalem Währungsfonds und Europäischer Kommission gewährte diese Hilfe unter Auflagen, die radikalen Sozialabbau mit sich brachten: Das Lohnniveau in Griechenland ist heute niedriger als 2010, die Pensionen betragen weniger als die Hälfte von damals und die Budgets der Krankenhäuser wurden um mehr als 40 Prozent gekürzt. In den meisten EU-Ländern zeigten sich –insbesondere während der Corona-Krise – die Stärken des Sozialstaates; in Griechenland aber zog die Demontage des Gesundheitswesens den Einsatz und die Aufrüstung polizeilicher Gewalt nach sich. Der Abbau der medizinischen Versorgung ist auch noch zu keinem Ende gekommen, denn weitere wirtschaftsliberale Reformmaßnahmen und Privatisierungen sollen umgesetzt werden. Ihnen fiel etwa die Sozialklinik Helliniki zum Opfer, in der nicht nur Asylwerber*innen, sondern vor allem auch mittellose griechische Staatsbürger*innen. versorgt wurden. Die Begehrlichkeiten einer Immobilien Holding hatten mehr Gewicht.
Daniel Cohn-Bendit, im Gespräch mit Hanno Loewy, über “Eine europäische Sozialunion? Aus Griechenland lernen?”,
8. Oktober 2022