Die Europäische Union begann nach dem Zweiten Weltkrieg als Wirtschaftsgemeinschaft. Ihre Geschichte reicht in das Jahr 1952 zurück, als ihre Vorgängerin, die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, gegründet wurde. Heute ist die EU auch eine politische Gemeinschaft. Ihr einziges seit 1979 direkt gewähltes Organ ist das Europäische Parlament in Strasbourg. Seine erste Präsidentin war die französische Politikerin und Auschwitz-Überlebende Simone Veil (1927–2017). In jenem Jahr wurde außerdem die französische Frauenrechtlerin Louise Weiss (1893–1983) Abgeordnete für die Fraktion der Europäischen Demokraten für den Fortschritt. Noch während des Ersten Weltkriegs hatte sie die friedensorientierte Zeitschrift „L’Europe Nouvelle“ gegründet und über zwei Jahrzehnte herausgegeben. Als äußerst gefährdete Tochter einer Elsässer Jüdin war sie trotzdem während des Zweiten Weltkriegs aktiv in der Résistance gewesen. Ihre Arbeit für ein geeintes, demokratisches Europa wurde mit ihrer Bestellung zur ersten Alterspräsidentin des Europäischen Parlaments und der Benennung des Parlamentsgebäudes nach ihr gewürdigt. Louise Weiss hatte durchaus die Begrenztheit des Unionsgedanken auf seine wirtschaftlichen Aspekte erkannt und wies früh auf das Fehlen einer europäischen Solidargemeinschaft hin: „Die europäischen Institutionen“, sagte sie, „haben europäische Zuckerrüben, Butter, Käse, Wein, Kälber, ja sogar Schweine zustande gebracht. Aber keine europäischen Menschen.“
^ Louise Weiss, 1979, © Communauté Européenne
< Europäisches Parlament, Louise-Weiss-Gebäude ©, Dominique Faget / AFP / picturedesk.com
> Wandgemälde von Banksy in Dover 2017; von Unbekannten 2019 weiß übermalt, © Banksy
Ebenfalls 1979 ins Europäische Parlament geschickt wurde Stanley Johnson – Enkel des letzten Innenministers des Osmanischen Reiches, Ali Kemal. Als Abgeordneter der britischen Torys gehörte er derselben Fraktion wie Weiss an. Er befürwortete 1992 vehement den Vertrag von Maastricht, mit dem die Europäische Union ihre heutige Gestalt annahm. Sein Sohn Boris Johnson führt nun das Vereinigte Königreich aus dieser Union heraus. Sehen die Enkel der Generation des Zweiten Weltkriegs Europa nur mehr als sentimentales und obsoletes Friedensprojekt? Anfeindungen der EU gehen auch von Parteien auf dem Kontinent aus. Sind die Forderungen nach mehr nationaler Autonomie Symptome eines wachsenden Rechtsnationalismus? Zugleich mehren sich auch Austrittsforderungen in Ländern, die sich am Rand Europas – trotz aller Lippenbekenntnisse zu einer europäischen Wertegemeinschaft – mit der faktischen Entsolidarisierung Europas konfrontiert sehen. Kann damit die europäische Integration bereits als gescheitert gelten? Ist das der Anfang vom Ende des Projekts Europa?
Ulrike Guérot (Wien) über Europäische Demokratie: