Europäisches Tagebuch, 6.10.2021: Großbritannien erlebt gerade ein seltsames Schauspiel. Seit Wochen leeren sich die Regale in den Supermärkten, weil die Lieferengpässe stetig dramatischer werden – und an den Tankstellen stauen sich die Automobile und es kommt zu Aggressionen und Handgreiflichkeiten entnervter Autofahrer. Das Benzin wird knapp, weil es nicht mehr im Land verteilt werden kann.
Der Grund dafür ist kein Geheimnis, es fehlt an Transportkapazitäten, denn die Arbeitskräfte sind nicht da. Keine Lastwagenfahrer aus Europa, keine Verteilung. Viele Fahrer sind während der Pandemie aufs Festland zurückgekehrt, und durch die neuen Bedingungen des Brexits können sie nicht mehr in Großbritannien arbeiten.
Die Regierung lässt sich nun so allerhand einfallen. Zum Beispiel verschickt sie landesweit Briefe an europäische Staatsbürger, die noch im Lande sind und laut Führerschein Fahrzeuge bis zu 7.5 Tonnen führen dürfen, ob sie nicht kurzfristig als Lastwagenfahrer einspringen wollen. Die Tageszeitung „Independent“ zitiert einen Deutschen mit den Worten, er würde doch lieber seinen Job bei einer Investmentbank behalten.
Nicht nur in Supermärkten und an den Tankstellen, auch in der Pflege ist die Krise unverkennbar, und sie trifft die Schwächsten. Denn natürlich sind auch die europäischen Pflegekräfte wie durch einen bösen Zauber verschwunden. Die Logistik der Schlachthöfe bricht nun ebenfalls schrittweise zusammen. Auch dort fehlen die Arbeitskräfte und viele Bauern beginnen ihre Schweine zu „keulen“. Schon warnt der Verband der Schweinebauern, bald müssten 120.000 Schweine grundlos getötet werden.
Premier Boris Johnson verkündet hingegen, wie großartig die britischen Fähigkeiten der Logistik seien, „our fantastic skill of logistics“. Und er lässt sich auf dem Parteitag der Torys, der britischen Konservativen feiern, als hätte er gerade ein goldenes Zeitalter für die britischen Inseln eingeläutet. Er verspricht höhere Löhne, höheres Wachstum, niedrigere Steuern. Die Realität sieht hingegen gerade anders aus. Die während der Pandemie gewährte Erhöhung der Sozialhilfe hat die Regierung wieder einkassiert.
Die Bevölkerung ruft Johnson jedenfalls auf, das Leben zu genießen, so wie Kabinettsmitglied Michael Cove, der vor einigen Wochen auf der Tanzfläche eines Nachtklubs in Aberdeen gesichtet wurde. Johnson hat seinen eigenwilligen Humor nicht verloren: „Wir haben führende Regierungsvertreter in die verschwitztesten Clubs geschickt, um zu zeigen, dass jeder absolut sicher tanzen kann.“ Schließlich besitze Großbritannien mit Astrazeneca ein „britisches Phänomen, unser Zaubertrank.“