Europäisches Tagebuch, 2.3.2021: Heute vor 121 Jahren wurde Gerald Reitlinger geboren. Der jüngste Sohn von Albert Reitlinger und Emma Brunner – die aus der gleichnamigen Hohenemser Familie stammte – studierte Kulturwissenschaften in Oxford und Kunst an zwei Akademien in London. 1930 bis 1931 nahm er an einer Ausgrabung im Irak teil, unternahm in Folge mehrere Forschungsreisen in den Iran, die Türkei und nach China und schrieb Bücher über seine Forschungsreisen. 1932 erschien sein Buch A Tower of Skulls. A Journey Through Persia and Turkish Armenia. Daneben war Reitlinger ein begeisterter Sammler syrischer wie persischer Keramik.
Im Zweiten Weltkrieg diente er in der britischen Armee in der Luftabwehr und als Ausbilder.
Doch nach 1945 widmete er sein Leben der Erforschung des Holocaust. 1953 veröffentlichte er in London mit seinem Buch The Final Solution die erste Gesamtdarstellung der Schoa. Betroffen und skeptisch stellt er den nationalen Gedächtnisverlust in Frage, der die ehemaligen Täterländer bald flächendeckend erfasst hatte. Das Münchner Institut für Zeitgeschichte lehnte es ab, Reitlingers Buch zu veröffentlichen. Man wollte sich in der Aufarbeitung des Nationalsozialismus nicht von „außen“ stören lassen. Das Buch erschien schließlich trotzdem auf Deutsch unter dem Titel Endlösung – so wie auch Reitlingers 1956 folgende Studie über The SS. Alibi of a Nation 1922-1945, die vom Verlag freilich einen weniger sarkastischen Titel verpasst bekam, um sie dem deutschen Publikum schmackhaft zu machen: Die SS – Tragödie einer deutschen Epoche. Noch ein drittes Buch über die NS-Verbrechen folgte: The House Built on Sand. The Conflicts of German Policy in Russia 1939–1945 erschien 1960 in London, und unter dem Titel Ein Haus auf Sand gebaut. Hitlers Gewaltpolitik in Russland 1941–1944 auf Deutsch.
Danach kehrte Reitlinger zur Kunst- und Kulturgeschichte zurück. Sein dreibändiges Werk The Economics of Taste (1961-1970) widmet sich der Geschichte des Kunstmarktes von 1760 bis zur Gegenwart.
Seine Sammlung, die kurz vor seinem Tod 1978 durch ein Feuer beschädigt wurde, vermachte er dem Ashmolean Museum in Oxford, wo sie heute die Gerald Reitlinger Gallery bildet.
Hier ein Blick in Buch Endlösung: „Die Leichenschau ist vorbei, aber es ist nicht die Aufgabe dessen, der sie durchgeführt hat, die Schuldigen zu finden oder ein Urteil über sie zu fällen. Trotzdem wird der Leser, der die Geduld hatte, auch nur einem Bruchteil dieses düsteren Berichtes zu folgen, sich Dutzenden Fragen gestellt haben, und einige davon müssen besprochen werden, auch wenn sie nicht beantwortet werden können.
Wieviel wußte der einfache Mann in Deutschland, und bis zu welchem Grade fühlte er, daß dies auch seine Angelegenheit war? Wie war es möglich, daß so viele Hunderte und sogar Tausende schwerarbeitender Beamter aller Dienststufen täglich in ihren Kanzleien den nicht mißzuverstehenden Schriftwechsel über den Rassenmord vorbereiteten, abschrieben oder weiterleiteten? Und wie ist es möglich gewesen, da wir doch sahen, daß jedes Ministerium mit allen andern Ministerien ständig im Kampf lag und daß Hitler niemals wirklich wußte, was dort eigentlich vor sich ging (…), daß nicht ein einziger der rechtschaffenen Männer, die ihre Sprüchlein in Nürnberg aufsagten, einen einzigen aktiven Protest wagte? (…)
Ist die Beseitigung von auserlesenen Opfern etwas, das geradezu in der Natur des übermächtigen modernen ‚demokratischen‘ Staates verborgen liegt? Kann es wieder geschehen, und kann es in andern Ländern geschehen? Es mag lange dauern, bevor wir die Antwort auf diese Fragen kennen, die wie ein roter Faden durch dieses ‚Postmortem‘ über die Endlösung laufen.
Es ist schwer zu glauben, daß es in Deutschland oder im deutschbesetzten Teil Europas einen Menschen gab, der im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte war und während der letzten zwei Jahre des Krieges nicht wußte, daß die meisten Juden verschwunden waren, oder nicht irgendwo gehört hätte, daß sie erschossen oder vergast worden sind. Ebensowenig nehme ich an, daß es einen Menschen gab, der nicht einen Freund hatte, der jemanden kannte, der ein Massaker gesehen hatte. Mehr als hundert Millionen Menschen müssen von diesen Dingen gewußt und über sie im Flüsterton mit andern gesprochen haben. (…)
Und je höher der Deutsche stieg, desto größer wurde seine Angst, bis wir schließlich den Fall Heinrich Himmler vor uns haben, der fast durch Zufall zum Haupt des Polizeistaates gemacht wurde und den Hitler gerade deshalb beibehielt, weil er ein von Angst verfolgter Mann war, der denunziert und eingeschüchtert werden konnte. (…) Doch vor der Verschwörung gegen Hitler im Juli 1944 war nicht einmal ein einziger der unbedeutendsten Beamten aus der Kriegszeit abgeführt und erschossen worden. (…) Konnte man von diesen Männern erwarten, daß sie für die Menschenrechte eintreten würden? Wahrscheinlich waren sie nicht grausamer oder gewissenloser als das ganze deutsche Volk oder, genau genommen, die menschliche Rasse überhaupt. (…) Der Deutsche von 1933 war eine Art Karikatur der europäischen Zivilisation, die um so leichtfertiger, habgieriger und unkritischer wurde, je mehr materieller Fortschritt die alten Werte untergrub. (…) Hiob wünschte in seinem Elend, sein Widersacher möge ein Buch schreiben, und sein Gebet wurde erhört, denn es gibt in Wahrheit nichts, das dieser Widersacher nicht zu Papier gebracht hätte. Ich habe fast volle vier Jahre unter diesen Urkunden verbracht und habe ihre Gesellschaft nicht nur düster oder niederdrückend gefunden. Denn auf vielen Seiten huscht und glimmt etwas, ohne das jede Regierung eine Hölle auf Erden wäre – menschliche Fehlbarkeit. (…) Es kann sein, daß mörderisches Rassegefühl unausrottbar in der Natur von Ameisen und Menschen liegt; der Roboterstaat jedoch, der ihm vollen Ausdruck geben würde, kann und wird niemals von Bestand sein.“
Rückblick, 2.3.2020: Der britische Premier Boris Johnson erklärt, “dieses Land ist gut” auf eine Corona-Pandemie vorbereitet. „Wir haben einen Plan, wenn es zu einer Ausbreitung kommt, was wahrscheinlich ist.“