Europäisches Tagebuch, 22.02.2022: Heute vor 50 Jahren starb Paul Grüninger, der Schweizer Polizeihauptmann, dem viele hundert jüdische Flüchtlinge 1938-39 ihr Leben verdankten.
Grüninger gehörte zu den wenigen Schweizer Beamten, die sich der offiziellen Politik der Schweiz, die die Abwehr der Flüchtlinge an allen Grenzen betrieb, offen widersetzten. Und dies auch in jenen folgenreichen Augusttagen des Jahres 1938, als die Schweizer Flüchtlingspolitik ihren Niederschlag selbst in den Maßnahmen des Deutschen Reiches finden sollte.
Am 17. August 1938 lädt Heinrich Rothmund, Chef der Fremdenpolizei im Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement die kantonalen Polizeidirektoren nach Bern ins Zimmer 86 des Parlamentsgebäudes. Die außerordentliche Konferenz soll die Lage an der Grenze beraten und den Umgang mit der wachsenden Zahl von Flüchtlingen, die aus dem Deutschen Reich versuchen in die Schweiz zu gelangen. Einer der Teilnehmer ist der Hauptmann der Kantonspolizei von St. Gallen, Paul Grüninger.
Rothmund eröffnet die Konferenz mit einem Lagebericht, der die Situation dramatisch erscheinen lässt. Weit mehr als 1000 illegale Flüchtlinge befänden sich in der Schweiz. Und das Deutsche Reich würde nun auch an alle Österreicherinnen und Österreicher deutsche Pässe verteilen. Man müsse über eine Ausdehnung der für Österreicher geltenden Visumpflicht für alle Deutsche nachdenken. Der Züricher Polizeidirektor Robert Briner, seines Zeichens auch Präsident der Schweizerischen Zentralstelle für Flüchtlingshilfe, liefert das von Rothmund erwartete Stichwort:
„Können wir unsere Grenzen nicht besser verschließen? Die Entfernung der Flüchtlinge ist schwieriger als ihre Fernhaltung.“
Der St. Galler Regierungsrat Valentin Keel spricht von der „Kulturschande der Judenverfolgung“ in Deutschland, eine Bemerkung, die ins Protokoll nicht aufgenommen wird. Der Thurgauer Polizeichef Ernst Haudenschild weiß darauf folgende Antwort:
„Die grösste Strafe für die deutschen Behörden ist die Zurückschiebung aller Flüchtlinge. Heute beschäftigen uns die Juden, in einigen Monaten wohl andere Flüchtlinge aus Deutschland. Unsere kantonale Regierung hat uns strikte Weisung erteilt, alle Flüchtlinge abzuweisen. Wir haben keine politischen und keine jüdischen Flüchtlinge in unserem Kanton. Man mag in Bern befehlen und beschliessen, was man will, unser Kanton wird keine Flüchtlinge zulassen.“
Der einzige, der in dieser Schweizer Flüchtlingskonferenz offenen Widerspruch wagt, ist Paul Grüninger:
„Die Ausführungen des Vorredner überraschen. Die Rückweisung der Flüchtlinge geht schon aus Erwägungen der Menschlichkeit nicht. Wir müssen viele hereinlassen. Wir haben ein Interesse daran, diese Leute möglichst zusammen zu erhalten, damit die Kontrolle erfolgen kann und ebenfalls aus hygienischen Gründen. Wenn wir die Leute abweisen, kommen sie eben ‚schwarz‘ und unkontrollierbar. Vollkommene Abschließung der Grenze ist nicht möglich.“[1]
Vorsichtige Unterstützung für Grüninger kommt vor allem vom Vertreter Graubündens, Departementssekretär Dr. Bühler. Auch die sozialdemokratischen Vertreter aus Basel und Schaffhausen, Polizeidirektor Brechbühl und Regierungsrat Bührer, sprechen sich – vorläufig – gegen rücksichtslose Abschiebungen und Zurückweisungen aus. Die übrigen fordern, ganz im Sinne Rothmunds, die sofortige Schließung der Grenzen.
In der folgenden Pressemitteilung ist von den abweichenden Meinungen nicht mehr die Rede. Einmütig habe man die Grenzschließung gegenüber Flüchtlingen beschlossen. Zwei Tage später wird den Polizeidirektoren mitgeteilt,
„dass eine weitere Zureise von illegalen Flüchtlingen nicht geduldet werden könne. (…) Da die Ostgrenze namentlich bei Diepoldsau schwer zu schützen ist, wurde die dortige Grenzkontrolle aus den Beständen der freiwilligen Grenzschutzkompagnien verstärkt.“[2]
Paul Grüninger, der sich in der Konferenz offen gegen die Grenzschließung ausgesprochen hat, ist zu diesem Zeitpunkt schon seit Wochen mit den Anordnungen aus Bern im Konflikt.
1891 in St. Gallen geboren, hatte Grüninger zunächst eine Laufbahn als Primarlehrer eingeschlagen. Und als leidenschaftlicher Fußballer hatte er mit seinem Team, dem St. Galler Club FC Brühl, 1915 als Linksaußenstürmer die Schweizer Meisterschaft gewonnen. 1919 wechselt Grüninger in den Polizeidienst, wo er 1925 zum Kommandanten der St. Galler Kantonspolizei aufsteigt. Und Präsident seines Fußballvereins wird.
1938 ist Grüninger mit der Not der Flüchtlinge konfrontiert. Zunächst reagiert er unentschieden, dann gehorcht er immer stärker seinem Mitgefühl. Immer wieder kommen Flüchtlinge, denen es gelungen ist illegal über die Grenze zu gelangen, in sein Büro in St. Gallen und bitten um eine Aufenthaltsgenehmigung, immer öfter wird er selbst an die Grenze gerufen um an Ort und Stelle zu entscheiden. Und meistens entscheidet er zugunsten der Flüchtlinge. Die Israelitische Flüchtlingshilfe unter Sidney Dreyfus richtet in St. Gallen ein eigenes Büro ein. Anfang August reichen die Flüchtlingsquartiere in Privatunterkünften und Pensionen nicht mehr aus. In Diepoldsau richtet Grüninger in einem leerstehenden Stickereilokal ein Flüchtlingslager ein. Die Kosten dafür muss die Israelitische Flüchtlingshilfe tragen, wie auch sonst für die Versorgung der Flüchtlinge. Schließlich beginnt Grüninger auch damit, Wertgegenstände für die Flüchtlinge über die Grenze zu schmuggeln.
Als mit der Grenzschließung am 18. August die Anweisung kommt, niemand mehr aufzunehmen, bleibt Grüninger und Dreyfus nur noch die Wahl, die Ankunft jener Menschen zurückzudatieren, denen der Grenzübertritt danach noch gelingt. Es sind diese lebensrettenden „Amtspflichtverletzungen“ und „Urkundenfälschungen“, für die Paul Grüninger bald darauf entlassen und vor Gericht gestellt werden wird.
Vertreter der Schweiz verhandeln hingegen mit den Deutschen über die von Rothmund geforderte Visumpflicht. Die deutsche Seite schlägt eine Kennzeichnung der Pässe von Juden vor und fordert auch von der Schweiz, das gleiche zu tun.
Eine generelle Kennzeichnung von jüdischen Schweizer Bürgern kommt für Rothmund nicht in Frage. Was die Flüchtlinge angeht, so ist Ihm ist freilich eine andere Lösung lieber, nicht so anstößig in den Augen der Weltöffentlichkeit, aber genauso effektiv: eigene Kontrollen, wer jüdisch ist und wer nicht. Vier Wochen nach der Konferenz berichtet er am 15. September 1938 dem Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement:
„Es ist uns bis heute gelungen, durch systematische und vorsichtige Arbeit die Verjudung der Schweiz zu verhindern. (…) Haben wir das Visum, so ist Deutschland vollkommen frei, den Emigranten Papiere zu geben, wie es will, und braucht sie auch nicht als solche zu bezeichnen. Wir würden sie herausfinden unter denen, die nicht in der Lage wären, einen Arierausweis, ein Mitgliedbuch der Partei, der deutschen Arbeitsfront (…) usw. vorzulegen. (…) An der Grenze hätten wir eine saubere Ordnung.“[3]
Die deutsche Seite will freilich eine generelle Visumpflicht für alle Reichsbürger nicht hinnehmen. So einigt man sich schließlich auf den J-Stempel in den Pässen deutscher Juden. Die Stigmatisierung wird amtlich. Im Januar schreibt Rothmund befriedigt an den Schweizer Gesandten in Den Haag, Arthur-Edouard de Pury:
„Wir haben nicht seit zwanzig Jahren mit dem Mittel der Fremdenpolizei gegen die Zunahme der Überfremdung und ganz besonders gegen die Verjudung der Schweiz gekämpft, um uns heute die Emigranten aufzwingen zu lassen.“[4]
Anfang 1939 wächst der Druck auf Grüninger, wie auch auf Regierungsrat Keel, der um seine Wiederwahl fürchten muss. Rothmund verlangt eine Untersuchung der ihm zugetragenen „Unregelmäßigkeiten“ im Kanton St. Gallen. Und der Vaterländische Verband droht damit, den „Skandal“ illegaler Einreisen öffentlich zu machen. Am 3. April 1939 wird Grüninger suspendiert, schließlich unehrenhaft unter Entziehung seiner Pensionsansprüche entlassen. 1940 folgt seine Verurteilung zu einer Geldstrafe. In der Folge mehren sich die Versuche Grüninger auch moralisch zu denunzieren. Haltlose Unterstellungen machen die Runde. Ihm wird vorgeworfen, sich persönlich bereichert zu haben. Ja Sympathien für die Nationalsozialisten werden ihm nun nachgesagt. Die Schweizer Polizei lässt ihn beschatten. Doch nichts bleibt von diesen Denunziationen übrig, als manche Gerüchte, die noch viele Jahre nach seinem Tod absurden Widerhall in rechtsgerichteten Schweizer Medien finden.
Grüninger ist 1940 nicht nur entehrt, sondern auch mittellos. Die Jüdische Gemeinde traut sich nicht, ihn offen zu unterstützen. Die Flüchtlingshilfe insgesamt ist bedroht. Der Textilindustrielle Elias Sternbuch, Schwager von Recha Sternbuch, gibt ihm schließlich eine Stelle als Regenmantelverkäufer in Basel. (Seine Reisen nach Basel erregen den Argwohn der ihn beschattenden Detektive. Niemand kommt auf den naheliegenden Gedanken, dass er dort für jüdische Freunde tätig ist.)
Doch als Geschäftsmann taugt Grüninger nicht. Nach vergeblichen Versuchen als Handelsvertreter wird er in den 1950er Jahren wieder Primarlehrer in Au im Rheintal, aushilfsweise, bis zu seiner Pensionierung als verarmter und verfemter Privatier. Erst am Ende der 1960er Jahre beginnt man sich wieder ein wenig für ihn und seine Rolle als Retter zu interessieren.
Doch die Versuche, sein Wirken anzuerkennen, bleiben unbeholfen, ja peinlich. 1970 bedankt sich die Regierung des Kanton St. Gallen bei ihm – konsequenzenlos – fürs eine „menschliche Haltung“. Der Vorstand der Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds tut sich besonders schwer, hin und hergerissen zwischen einem schlechten Gewissen und den immer noch kursierenden Denunziationen. Im September 1971 erhält Grüninger eine Anerkennung von Yad Vashem als «Gerechter unter den Völkern». Schon im Mai ist erste Fernsehdokumentation auf Schweizer Bildschirmen zu sehen: „Hauptmann Grüninger“. Grüninger wird interviewt und erklärt lakonisch, er würde das, was er getan hat, jederzeit wieder tun. Im Vorfeld schon droht der St. Galler Regierungsrat dem Schweizer Fernsehen, „sollte die St. Gallische Regierung in diesem Film angegriffen werden, müssen wir uns vorbehalten, aus der bisher mit Rücksicht auf Herrn Grüninger geübten Reserve herauszutreten.“
Am 22. Februar1972 stirbt Paul Grüninger in St. Gallen. Zwei Monate noch vor seinem Tod hat er auch aus Deutschland „Anerkennung“ erfahren. Bundespräsident Gustav Heinemann schenkt ihm einen Farbfernseher. Grüninger wird auf dem Ortsfriedhof von Au im Rheintal beigesetzt. Es wächst Gras über die Geschichte.
Erst 1993 macht ein Buch von Stefan Keller, Grüningers Fall, wieder eine breite Öffentlichkeit auf seine Geschichte aufmerksam. Im gleichen Jahr wird Paul Grüninger nun endlich politisch rehabilitiert und bald darauf auch das Urteil gegen ihn aufgehoben. In Wien wird eine Schule nach ihm benannt, auch einige Straßen und Plätze, in St. Gallen, Hohenems oder Jerusalem. 1998 wird seine Familie entschädigt. Ruth Roduner, seine Tochter, gründet mit dem Geld die Paul Grüninger Stiftung, die seitdem Engagement für die Menschenrechte unterstützt.
2012 wird schließlich auch die Grenzbrücke über den Alten Rhein zwischen Hohenems und Diepoldsau nach ihm benannt. Zugegen war neben Robert Kreutner, der 1938 mit seiner Familie über die Grenze bei Hohenems geflohen war, auch Ruth Roduner-Grüninger, Paul Grüningers Tochter. Auch sie ist vor wenigen Wochen, am 29.12.2021 verstorben, in ihrem 101. Lebensjahr. [5]
[1] BAR E 4260 (C) 1969/146 Band 6: Konferenzen der kantonalen Polizeidirektoren, Protokoll der Sitzung vom 17. Aug. 1938 in Bern. (zit. nach Jörg Krummenacher, Flüchtiges Glück. Zürich 2005, S. 117f.)
[2] Zitiert nach Stefan Keller, Grüningers Fall. Zürich 1993, S. 50.
[3] Bericht des Chefs der Polizeiabteilung vom 15. September 1938 an das EJPD, zitiert nach: Carl Ludwig, Die Flüchtlingspolitik der Schweiz seit 1933 bis zur Gegenwart, Bern 1966/1957, S. 112
[4] Le Chef de la Division de Police du Département de Justice et Police, H. Rothmund, au Ministre de Suisse à La Haye, A. de Pury, 27. Januar 1939, Diplomatische Dokumente der Schweiz 1848-1945, Vol. 13 (1939-1940), Bern 1991, S. 22.
[5] Zu Paul Grüningers Geschichte siehe Stefan Keller, Grüningers Fall. Zürich 1993.
Bemerkenswert die heutige NZZ online: “Die Schweiz ist nur vermeintlich eine sichere Insel für Juden. Die Pandemie spült gefährliches Gedankengut, das normalerweise verborgen bleibt, an die Oberfläche. Bei Antisemitismus schlägt der Schweizer nicht mit der Faust zu, er zuckt mit der Schulter.” Das Ganze unter dem Titel “In der Pandemie geht in der Schweiz auch Antisemitismus viral”. Es hat sich also nicht viel geändert in letzter Zeit trotz Grüninger-Rehabilitation!