Europäisches Tagebuch, 3.11.2020: Zur Zeit wird in den USA gewählt. Und wenn dies gelesen wird, werden wir es möglicherweise schon wissen, oder es vielleicht auch nur ahnen, wohin die Reise geht. Und egal wie es ausgeht, wird ein Teil der amerikanischen Gesellschaft seine Wut artikulieren, in einem Land das vier Jahre lang gespalten wurde, von oben, Tag für Tag.
Währenddessen versucht die Stadt Wien sich von einem Schock zu erholen, dessen Wirkung ebenfalls noch nicht absehbar ist. Aber es gibt ein paar Anzeichen dafür, dass dieser Schock vielleicht doch nicht weiter die Spaltung vertieft, die auch in Österreich spürbar ist. Die Spaltung in eine Gesellschaft, die nur noch ein „wir“ und „die anderen“ kennt.
Gestern um diese Zeit war die Stadt Wien wie im Kriegszustand. Eine unbekannte Zahl von Attentätern hatte, so schien es jedenfalls, ausgehend von der Wiener Synagoge, dem Stadttempel, das Wiener Zentrum mit Terror überzogen. Aus der ganzen Stadt wurden Angriffe bewaffneter Terroristen gemeldet. Der ORF berichtete in Dauerschleife, ohne in der Lage zu sein, mehr zu berichten, als dass die Lage unübersichtlich, die Täter unbekannt, die Lage unverändert, und die Polizeikräfte überall im Einsatz seien. Und dass man aufhören solle, irgendwelche Videos ins Internet zu stellen, und sie stattdessen auf einer Website der Polizei downloaden soll, die dringend Hinweise benötige, ob noch mehr Täter unterwegs seien. Da wusste man schon, dass einer der Täter erschossen worden war. In jedem zweiten Satz berichteten die Medien aber vor allem über die Nähe der Tatorte zur Synagoge. Und rätselten darüber ob der Anschlag es vor allem auf Juden abgesehen habe.
Der Präsident der Wiener Kultusgemeinde, Ossi Deutsch, blieb ruhig und klärte darüber auf, dass die Synagoge schon längst geschlossen und niemand von der Kultusgemeinde zu Schaden gekommen sei. Und dem einen oder anderen Journalisten fiel denn auch auf, dass sich der Anschlag nicht nur in der Umgebung der Synagoge, sondern eben auch mitten im belebtesten Kneipenviertels der Stadt zutrug. Am Abend vor dem Lockdown. Ganz Wien war unterwegs. Und doch war zu spüren, dass viele nur darauf warteten, es zu hören: ein antisemitischer Anschlag, womöglich ein Flüchtling, das Szenario schlechthin. Man wurde das Gefühl nicht los, als würde die Synagoge wie auf einem Silbertablett als Erklärung für das Grauen serviert, dass doch eine schlichte Form hatte. Der oder die Täter hatten offenbar wahllos auf alle Menschen geschossen, die ihnen begegneten. Sie meinten offenkundig: uns alle!
Am heutigen morgen war die traurige Bilanz bekannt. Manches wie erwartet, manches etwas anders, manches ganz anders. Die Opfer: vier Tote, 22 Verletzte, viele von ihnen schwer, darunter ein Polizist. Der Täter: ein Islamist, allein unterwegs, mit Gewehr, Pistole und Machete. Und einem „Sprengstoffgürtel“, der eine Attrappe war. Ein geborener Wiener, mit nordmazedonischen Wurzeln, aufgewachsen in genau der Stadt, der Gesellschaft, der er gestern hasserfüllt, mit seinem Leben vollkommen gescheitert, den Krieg erklärt hat. Für eine tödliche Viertelstunde. Neun Minuten, nachdem der erste Notruf bei der Polizei eingegangen war, war er von Polizisten erschossen, während die Einsatzkräfte, teils in Zivil, noch stundenlang nach potentiellen Mittätern suchten. Und dabei offenbar selbst von alarmierten Bürgern an verschiedenen Stellen der Stadt für Terroristen gehalten wurden und entsprechend Panik auslösten.
Schon 2018 hatte sich der Attentäter, der mit der Schule nicht zurechtkam, mit seiner Familie in Konflikt geraten war und sein Heil in immer radikaleren islamistischen Ideologien suchte, vom IS anwerben lassen. Was ihn statt wie erhofft nach Syrien in Österreich vor Gericht und in den Knast brachte. Auch ein behördliches Deradikalisierungsprogramm hatte, wie wir nun wissen, nicht die gewünschte Wirkung. So weit so schlecht.
Doch statt wie Frankreichs Präsident in seiner Solidaritätsadresse „Europa“ gegen seine äußeren Feinde zu verteidigen, blieb die Rhetorik der österreichischen Politik heute ungewohnt „inklusiv“. Kanzler Kurz schaffte es zur Überraschung vieler, zum ersten mal von „allen Menschen die in Österreich leben“ zu sprechen. Und Innenminister Nehammer hob den „migrantischen Hintergrund“ mancher mutigen Helfer eigens hervor. In der Tat waren es zwei türkischstämmige Kampfsportler, die unter Lebensgefahr zuerst eine alte Frau aus dem Feuer brachten und dann den schwer verletzten Polizisten zum Rettungswagen trugen. Und es war ein junger Palästinenser, der den Polizisten zuvor aus dem Schussfeld des Attentäters in Deckung schleppte und seine Blutung stillte. So wie der Attentäter, war auch der junge Osama und seine Familie schon ein Jahr zuvor Thema in österreichischen Zeitungen. Seine Eltern hatten im niederösterreichischen Weikendorf ein Haus kaufen wollen, und waren monatelang vom dortigen Bürgermeister daran gehindert worden, der nicht noch mehr von „diesen Leuten“ im Ort haben wollte.
Zum erklärten Volkshelden aber wurde jener Wiener unbekannter – man könnte auch sagen: gleich welcher – Herkunft, der dem Attentäter spontan seine Wut hinterherrief. “Schleich di, du Oaschloch!” Das war keine Heldentat, aber auf Wianerisch kaltschnäuzige Weise ehrlich.