Lieferketten

Europäisches Tagebuch, 3.3.2021: Österreichs Bundeskanzler Kurz sagt, er wolle sich nicht länger von der EU abhängig machen und sich zusammen mit Dänemark und Israel um eine eigene Produktion von Impfstoffen kümmern. Der Wissenschaftsredakteur des ORF, Günter Mayer, kommentiert diesen Vorstoß trocken mit den Worten, hier ginge „es nicht um eine Apfelquetsche“. Eine solche komplexe Produktion ließe sich nicht per Dekret in kurzer Zeit hochfahren, und hier hätte es Österreich mit Pharmakonzernen zu tun, deren Umsätze höher seien, als der Österreichische Staatshaushalt. Um das nicht weiter schmerzhaft auszuwalzen: die großartigen Ankündigungen des Bundeskanzlers sind offenkundig heiße Luft, die von anderen Problemen ablenken soll. Z.B. von folgendem: Am gleichen Tag wurde bekannt, dass in einem österreichischen Vorzeigebetrieb, dem Unternehmen „Hygiene Austria“, das Mund-Nasen-Schutzmasken herstellt, eine Hausdurchsuchung stattgefunden hat. Es ist dies der Betrieb, zu dem Sebastian Kurz im Mai 2020 stolz getwittert hat: „Die Corona-Krise hat gezeigt, dass wir uns bei der Produktion von wichtiger Schutzausrüstung nicht zur Gänze auf internationale Lieferketten verlassen dürfen“.

Die Hausdurchsuchung erfolgte aufgrund des Verdachts, dass aus China gelieferte Masken in Österreich durch in Schwarzarbeit ohne Sozialversicherungsbeiträge beschäftigte Arbeitskräfte um-etikettiert und zu einem höheren Preis als chinesische Masken verkauft worden sein. ‚Hygiene Austria‘ hat dies entschieden zurückgewiesen und natürlich gilt die Unschuldsvermutung. Pikantermaßen gibt es ein Naheverhältnis der Firma zu einer engen Mitarbeiterin des Kanzlers, wie schon am 4. August 2020 die Rechercheplattform Addendum berichtete: der Mann von Sebastian Kurz‘ Büroleiterin ist zu 25% an einer der beiden Firmen beteiligt denen „Hygiene Austria“ gehört, und die nun mit staatlichen Großaufträgen für Österreichs Masken-Autarkie sorgen soll. Und Geschäftsführer von “Hygiene Austria” ist deren Schwager. (https://www.addendum.org/coronavirus/vertragsdetails-geheim/)

An der gepriesenen Autarkie scheint es zu hapern. Aber als Parole zur nationalen Erweckung – und zur Ablenkung von den sich langsam akkumulierenden Ermittlungen und Hausdurchsuchungen im engeren politischen Vertrautenkreis des Kanzlers – taugen wohl auch um-etikettierte chinesische Masken. Oder vielleicht in Zukunft auch um-etikettierte Impfstoffe? Immerhin, die Chinesen haben ihren Impfstoff ja vorsorglich nach einem österreichischen Kanzler benannt: “Sinovac”.

Die Zahlen der Corona-Toten wächst weiter. In den USA sind längst mehr als 500.000 Menschen an der Pandemie verstorben. Neue Meldungen über Unregelmäßigkeiten der Bekanntgabe von Toten in Heimen, wie sie gerade den bisher so heldenhaften Ruf des demokratischen Gouverneurs des Staates New York, Mario Cuomo, erschüttern, lassen eine unbekannte Dunkelziffer von Toten erahnen. Die es auch in anderen Bundesstaaten geben dürfte. Besonders hoch scheinen diese Dunkelziffern in Russland und Mexiko zu sein, wenn die Übersterblichkeit als Faktor mit in Betracht gezogen wird. Selbst die russische Regierung traut den offiziellen Zahlen nicht. Danach seien bis Ende 2020 erst 57.000 Menschen in Russland an Covid-19 verstorben und bis Mitte Februar etwa 81.000. Die Übersterblichkeit in Russland im Jahr 2020 forderte hingegen 323.000 Menschenleben. Kurz vor dem Jahreswechsel erklärte sogar Russlands Vizepremierministerin Tatjana Golikowa, die Übersterblichkeit sei zu 81 Prozent auf Covid-19 zurückzuführen. Das entspräche knapp 261.000 an Covid-19 Verstorbenen bis Ende 2020. Andere Berechnungen gehen von mehr weit mehr als 300.000 Toten aus.
Russland, das stolz darauf ist, mit „Sputnik V“ den ersten Impfstoff zum Einsatz gebracht zu haben, nutzt das offenbar tatsächlich hochwirksame Vakzin indessen vor allem als Exportschlager, so nach Mexiko und Serbien, Paraguay oder Ägypten – während die Impfung der eigenen Bevölkerung hintansteht. Das führt zu dem paradoxen Ergebnis, dass Sputnik V möglicherweise dazu beitragen wird, Covid-19 in ärmeren Ländern zu bekämpfen. Jedenfalls, wenn es gelingt die geplante Produktion in Brasilien und Indien hochzufahren. In Russland selbst, vor allem jenseits der Metropole Moskau, ist offenbar weiterhin vor allem Herdenimmunität durch Infektion das verbreitetste Rezept für den Erwerb von Antikörpern.

Nachtrag am 9. März 2021: Inzwischen haben sich die Vorwürfe gegen “Hygiene Austria” und die beiden Mutterkonzerne Lenzing und Palmers erhärtet. Während “Hygiene Austria”-Geschäftsführer Tino Wieser immer noch davon spricht, wie “stolz” er sei, 200 Arbeitsplätze in Österreich geschaffen zu haben, ist bekannt geworden, dass diese vor allem in Scheinfirmen bestehen. Scheinfirmen, die entweder Arbeitskräfte offiziell “geringfügig” beschäftigen, tatsächlich aber schwarz in Vollzeit arbeiten lassen, oder die sich der Sozialversicherungsbeiträge durch rechtzeitig herbeigeführtem Konkurs entledigen. Auch Zuschüsse für nicht erfolgte Kurzarbeit seien eingestrichen worden. Auch der Verdacht, dass die “heimische” Produktion zum Teil in China stattfand, die Masken dann von Schwarzarbeitern aber in “Hygiene Austria”-Kartons umgepackt worden sind, scheinen sich nun zu bestätigen.

Rückblick, Anfang März, 2020: Die EU kofinanziert die Lieferung von 25 Tonnen Schutzausrüstung für China. Die Europäische Kommission mahnt die nationalen Regierungen in Europa, ihren Bedarf an Schutzmasken, Testkits und Beatmungsgeräten zu melden. Es wird aber noch Wochen dauern, bis die ersten Anforderungen durchgegeben werden.
Erste Fälle von Covid-19 werden in Großbritannien gemeldet. Dominic Cummings, Berater des britischen Premiers Boris Johnson fasst die Strategie der britischen Regierung folgendermaßen zusammen: „herd immunity, protect the economy and if that means some pensioners die, too bad“. Downing Street No. 10 dementiert.

Auch Donald Trump hat sich wieder zu Covid-19 geäußert: „Es ist eine Grippe, wie eine Grippe.“

Ein Gedanke zu „Lieferketten

  1. Jetzt ist durchgesickert, dass sich Donald Trump und seine Melania in den letzten Tagen ihres Aufenthalts im Weißen Haus doch noch geheim gegen Covid-19 impfen haben lassen. Späte Einsicht in die Gefahr, die so lange offiziell geleugnet wurde!

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