Europäisches Tagebuch, 2.1.2021: Die europäischen Verbrechen an Flüchtlingen sind um eine Facette reicher. Seit vielen Monaten schützt insbesondere Kroatien „unsere“ Außengrenzen auf illegale, aber effektive Weise. Flüchtlingen, denen es zum Beispiel über Bosnien gelingt, an – und über – die kroatische Grenze zu kommen, werden gewaltsam wieder zurückgestoßen, bevor sie von ihrem Recht, einen Asylantrag zu stellen, Gebrauch machen können. Das verstößt zwar gegen europäisches und internationales Recht, aber selbst der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte schaut inzwischen resigniert (oder zynisch?) unter den Tisch, wenn es um den europäischen „Grenzschutz“ geht. Viele der Flüchtlinge waren zunächst im Lager Bira in der Stadt Bihac untergebracht, dann wurden sie nach „Protesten aus der Bevölkerung“, die inzwischen in Bosnien billiger zu haben sind, als Semmeln, im September in ein von der Armee provisorisch errichtetes Zeltlager in „the middle of nowhere“ verfrachtet, nach Lipa. Dort durften sich internationale Hilfsorganisationen um die Gestrandeten kümmern. Die bosnischen Behörden versprachen, das improvisierte Lager an die Strom- und Wasserversorgung anzuschließen, um es „winterfest“ zu machen. Doch nichts dergleichen geschah. Aus den Augen aus dem Sinn.
Ende Dezember kam der Frost. Aber noch immer keine Möglichkeit, das Lager zu heizen, noch immer kein Strom, kein Wasser. Gar nichts. Die Internationale Organisation für Migration (IOM) entschied, das Lager, in dem die Menschen sonst im beginnenden Winter erfroren wären, zu schließen. Und während der Räumung zündeten einige Flüchtlinge die maroden Zelte an, die sie endgültig hinter sich zu lassen glaubten.
Mit den bosnischen Behörden wurde ausgehandelt, die Flüchtlinge wieder ins Lager Bira nach Bihac oder in Kasernen in andere Landesteile zu bringen. Aber Lokalpolitiker verkündeten, es gäbe „Proteste aus der Bevölkerung“. So verbrachten 900 Menschen die Weihnachtstage im Freien. Dann stand doch die Evakuierung der obdachlos campierenden Flüchtlinge auf dem Programm. 500 von ihnen wurden zum Jahresende in Busse verladen. Und steckten dort fest. Denn die Busse fuhren nicht. Lokal- und Regionalpolitiker beugen sich den „Protesten aus der Bevölkerung“, die sie selbst nach Kräften geschürt haben. Und die Republika Srpska nimmt ohnehin niemand auf. Schließlich seien es die bosniakischen Muslime, die die „Migranten“ ins Land geholt hätten. Was auch immer damit gemeint sei, die Parole kommt immer an. Jeder Versuch der Zentralregierung in Sarajewo, Recht und Ordnung durchzusetzen (und das heißt in diesem Fall eine menschenwürdige Unterbringung der Flüchtlinge) ist so zum Scheitern verurteilt.
So verbrachten 500 Menschen die letzten beiden Tage des Jahres in ungeheizten Bussen. 24 Stunden lang. Dann ließ man sie wieder aussteigen. Sylvester erlebten sie unter freiem Himmel. Am Neujahrstag versorgte sie das Rote Kreuz. Österreich verspricht „Hilfe vor Ort“. Die bosnische Armee stellt wieder Zelte auf. Zelte gibt es genug. Unbeheizbar, wie die davor. Das zynische Spiel geht weiter. Der Winter auch.
Dabei hatte Österreich anlässlich des Krieges in Bosnien offene Türen und Herzen für viele bosnische Flüchtlinge: Auch Österreichs jetzige Justizministerin Alma Zadic war damals als kleines Mädchen mit ihrer allein erziehenden armen Mutter auf diesem rettenden Terrain gelandet. Die jetzigen Bosnier scheinen das alles vergessen oder verdrängt zu haben. Die Herzen verhärten sich zusehends. Wohin soll das führen?
Ich kann die bosnische Bevölkerung nicht verstehen, nachdem ihre Flüchtlinge im Bosnienkrieg bei uns so gut aufgenommen wurden. Wie kann man nur so hart sein, Traurig und beschämend
Das Gedächtnis ist offenbar kurz. Die Ungarn haben auch schon vergessen, wie sie hier in den 1950er Jahren aufgenommen wurden. Sobald es jemand gelingt, Gruppen gegeneinander auszuspielen, spielen die eigenen Erfahrungen von Flucht und Vertreibung offenbar keine Rolle mehr. So erklären die Serben in Bosnien das Thema Flüchtlinge kurzerhand zu einem Problem “der Muslime”. Dabei kommen die Flüchtlinge, die im Norden Bosniens gestrandet sind, zum großen Teil aus Südostasien. Die EU hat Bosnien – außer mit Geldzahlungen seit 2018 – mit diesem Problem weitgehend allein gelassen. Obwohl nicht zuletzt die illegale Rückstoßungspraxis des EU-Mitglieds Kroatien für die Situation verantwortlich ist. Die Versorgung erfolgt durch die Internationale Organisation für Migration, eine UN-Organisation. Und durch zahlreiche NGOs.
Die Schweiz hatte auch nicht nur Paul Ernst Grüningers unter ihren Bürgern und ist heute Sitz einer weltweit bedeutenden NGO, deren Gründer hoch über dem Bodensee im Friedhof von Heiden eine bescheidene letzte Ruhestätte gefunden hat. Nach Grüninger ist übrigens sogar in Wien eine Straße benannt.