Europäisches Tagebuch, 14.10.2020: Sie war eine der schillerndsten jüdischen Denkerinnen des 20. Jahrhunderts. Heute vor 114 Jahren wurde sie in Hannover geboren: Hannah Arendt.
Als Philosophin wollte sie nicht bezeichnet werden. Sie sah sich als politische Theoretikerin. Und in ihren schonungslosen Analysen politischer Herrschaftssysteme und Ideologien, ihren Beiträge zur Demokratietheorie und zur Pluralität begriff sie sich als Historikerin.
Ihr Studium führte sie durch die deutsche intellektuelle Provinz, nach Marburg, Freiburg und Heidelberg, zu Heidegger (mit dem sie eine später vieldiskutierte Liebesbeziehung hatte), Husserl und Jaspers, mit dem sie vor und nach dem Nationalsozialismus einen bewegenden, freundschaftlichen und widersprüchlichen Disput über das Verhältnis von Deutschen und Juden austrug. „Für mich ist Deutschland die Muttersprache, die Philosophie und die Dichtung“, schrieb sie Jaspers vor 1933, und betonte zugleich die Notwendigkeit auf Distanz zu bleiben. Mit einem „Deutschen Wesen“ von dem Jaspers so gerne sprach, wollte sie nichts zu tun haben.
So universalistisch sie in politischen Fragen dachte, so sehr verstand sie sich immer selbstbewusst als Jüdin und setzte sich offensiv mit der jüdischen Rolle als Paria der Gesellschaft auseinander.
1933 wurde sie kurzzeitig von der Gestapo inhaftiert. Und fortan galt für sie „Wenn man als Jude angegriffen wird, muss man sich als Jude verteidigen“, wie sie in einem legendären Fernsehinterview durch Günter Gaus im Jahre 1964 trocken bemerkte. Kaum etwas hat sie so sehr belastet wie der Umstand, dass ihr eigenes intellektuelles Umfeld in Deutschland sich mit dem Nationalsozialismus nicht nur arrangierte, sondern wie Heidegger und viele andere sogar offenkundig von der neuen Macht fasziniert war. Niemals zweifelte sie daran, dass solche Entscheidungen in der Verantwortung der Subjekte lagen. Für das tragische Selbstbild vieler Deutscher, die sich nach 1945 in Kategorien von Verstrickung und Untergang eine allenfalls „schuldlose Schuld“ andichteten, hatte sie nur beißenden Spott übrig. Aber auch alle Versuche der Opfer, den Massenverbrechen einen Sinn zu verleihen, waren ihr suspekt. „Auschwitz hätte nie geschehen dürfen“, war ihr bitteres Resumee, das auch hinter ihrem Buch über den Eichmann-Prozess stand, mit dem sie sich heftige Kritik in der jüdischen Öffentlichkeit zuzog.
Doch zuvor hatte sie Flucht, Internierung und Staatenlosigkeit erlebt. 1933 flieht sie nach Frankreich. In Paris gehört sie zum Freundeskreis um Walter Benjamin und den Rechtsanwalt Erich Cohn-Bendit (dem späteren Vater von Dany Cohn-Bendit). 1940 wird sie, mittlerweile staatenlos, in Frankreich als „feindliche Ausländerin“ in Gurs interniert, eine Erfahrung, die sie in ihrem Essay Wir Flüchtlinge verarbeitet. Nach wenigen Wochen gelingt ihr die Flucht aus dem Lager, 1941 kann sie in die USA emigrieren. In ihrem Gepäck hat sie Walter Benjamins letztes Manuskript, seine Thesen über den Begriff der Geschichte, seine Auseinandersetzung mit dem Mythos des Fortschritts und dem wachsenden Trümmerhaufen, auf den der Engel der Geschichte schauen muss, den der Sturm rückwärts in die Zukunft treibt.
Immer eigenständiger argumentiert sie nun als Jüdin für jüdische Selbstverteidigung und nach 1945 engagiert sie sich für die Rettung jüdischer Kulturgüter, deren eigentlicher Ort, die jüdischen Gemeinden Europas vernichtet sind – und die eine neue Verwendung, vor allem in den USA und in Israel finden müssen.
Dem zionistischen Projekt einer territorialen jüdischen Souveränität auf Kosten der ansässigen arabischen Bevölkerung gegenüber behielt sie kritische Distanz – und gemischte Gefühle zwischen Sympathie, Solidarität und politischer Ernüchterung. Als unter der Führung von Menachem Begin jüdische Milizen 1948 die arabische Bevölkerung von Deir Yasin massakrierten, veröffentlichte sie, u.a. gemeinsam mit Albert Einstein, einen flammenden Aufruf für einen Ausgleich mit den Palästinensern. Ihren eigenen Ort sah sie in den USA, einer Gesellschaft, der sie zutraute, universelle bürgerliche Gleichheit und kollektive Rechte auf Zugehörigkeit zu partikularen Identitäten miteinander zu versöhnen. Später äußerte sie in privaten Briefen auch ihre Verbundenheit mit Israel als jüdischem Rückzugsort, in einer Zeit als ihre Enttäuschung über den Fortbestand antisemitischer Ressentiments zunahm.
In den immer intensiveren Auseinandersetzungen um jüdische „Identität“ und Selbstbewusstsein nahm sie öffentlich eine ganz eigene, jüdisch-kosmopolitische Position ein, mit der sie zwischen alle Stühle geriet, wie Natan Sznaider in seinem Buch über den Gedächtnisraum Europa. Die Visionen des europäischen Kosmopolitismus betont. Natan Sznaider wird im Juni 2021 die Europäische Sommeruniversität für Jüdische Studien in Hohenems mit einem Vortrag darüber eröffnen.