Europäisches Tagebuch, 9.11.2020: Lügen haben ein kurzes Gedächtnis. Aber macht uns Erinnerung klüger? Es gibt Tage, an denen einem schwindlig wird: von der Kluft zwischen all den guten Vorsätzen, aus der Geschichte „zu lernen“, und einer Realität, in der aus den Wunden, die ein Ereignis schlägt, aus Erinnerung und Trauma wieder nur der nächste Unsinn und manchmal Schlimmeres geboren wird. In Österreich ist der 9. November für die meisten Menschen ein Tag wie jeder andere. In Deutschland kommt es manchmal eher zu einem Overkill der Gedächtnisse. Das Kalenderblatt am 9. November ist inzwischen ein fast schon unlesbares Palimpsest.
An jenem Tag, an dem 1799 die Französische Revolution mit dem Staatsstreich Napoleons ihr Ende fand (und 1848 nach der Niederschlagung der Revolution in Wien Robert Blum erschossen wurde), riefen 1918 Philipp Scheidemann und Karl Liebknecht gleich zwei deutsche Republiken an einem Tag aus. Fünf Jahre später wollten Adolf Hitler und seine Getreuen diesen „schwarzen Tag“ der deutschen Nation ungeschehen machen und in München von der Republik zur Diktatur marschieren. Zwei Jahre später, 1925 und wieder am 9. November, gründeten sie die SS. Und da man sich am 9. November 1938 wie jedes Jahr zum Gedächtnis der 1923 noch gescheiterten „nationalen Revolution“ versammelt hatte, bot diese Nacht sich schließlich an, die Hatz auf die Juden und ihre Gotteshäuser zu eröffnen.
Die DDR-Führung wiederum zeigte sich am 9.November 1989 recht unbeholfen vergesslich, als Politbüro-Mitglied Schabowski auf eine Journalistenfrage zu den verkündeten Erleichterungen der Reisefreiheit auf legendäre Weise ins Stottern kam: „Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich“ Und einen Sturm auf die Mauer lostrat.
Vor fünf Jahren wiederum, im November 2015, wollte ein gewisser Heinz Christian Strache die Uhren wieder zurückdrehen und erinnerte allen Ernstes an den Eisernen Vorhang als mögliche „Lösung“ für die europäischen „Flüchtlingsprobleme“ (er träumte offenkundig von Schießbefehl und Todesstreifen). Wie so mancher österreichische Politiker vor und nach ihm setzte er ganz bewusst auf das Vergessen, die Lüge mit den kürzesten Beinen. Karl Marx schon wusste, als er über den 9. November (den „18. Brumaire“) schrieb: „Hegel bemerkte irgendwo, dass alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen, hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.“ Aber wenn es um den 9. November geht, dann weiß heute niemand mehr, ob aus einer Tragödie eine Farce wird, oder aus einer Farce eine Tragödie.
In Österreich haben wir tatsächlich aus der Geschichte gelernt, weshalb es uns meistens gelingt, Ereignisse, die als Tragödie beginnen, zu einem grotesken Ende zu bringen.